Beschluss vom Verwaltungsgericht Hannover (6. Kammer) - 6 B 3273/01

Gründe

1

I. Die achtjährige Antragstellerin leidet an einer hochgradigen, beidseitigen Innenohrschwerhörigkeit. Sie wohnt mit ihren Eltern A. und besucht seit Beginn des Jahres 2001 die Grundschule des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte in C.. Gegenwärtig wird die Antragstellerin gemeinsam mit anderen Schülerinnen und Schülern aus dem Landkreis H. im Auftrag des Antragsgegners mit einem Bus der Firma B. von ihrem Wohnort zur Schule und befördert, wobei die Fahrtzeit für die Antragstellerin nach den Feststellungen des Antragsgegners je Richtung 95 Minuten beträgt.

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Im Hinblick auf die zeitliche Dauer des Sammeltransports baten die Eltern der Antragstellerin den Antragsgegner bereits unter dem 30. Januar 2001 um eine Verkürzung der Fahrtzeiten. Mit Schreiben ihrer Verfahrensbevollmächtigten vom 6. Juli 2001 beantragte die Antragstellerin, mit Beginn des neuen Schuljahres im Wege des Einzeltransports zur Schule befördert zu werden.

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Die Antragstellerin hat am 20. August 2001 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Sie macht geltend, die gegenwärtig gewählte Organisation ihrer Beförderung zur Schule sei angesichts der langen Fahrtzeiten von 95 bis 100 Minuten aus gesundheitlichen und schulischen Gründen nicht zumutbar und schade ihrer persönlichen Entwicklung. Angesichts der Tatsache, dass auf der Fahrt von A. über H. nach C. noch weitere Kinder in den Sammeltransport aufgenommen werden müssten, ließe sich für diese Art des Schülertransports keine Verbesserung mehr erreichen. Dagegen ließen sich die Fahrtzeiten mit einem Einzeltransport der Antragstellerin oder einem Gruppentransport der in A. wohnenden Schülerinnen und Schüler auf etwas mehr als eine Stunde reduzieren.

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Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

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den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig zu verpflichten, sie im Rahmen eines Einzeltransports von A. zum Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in C. und zurück zu befördern,

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hilfsweise, den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung vorläufig zu verpflichten, sie im Rahmen eines Gruppentransports von A. zum Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte in C. und zurück zu befördern.

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Der Antragsgegner beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Er ist der Auffassung, die Schülerbeförderung im Fall der Antragstellerin unter zumutbaren Bedingungen durchzuführen. Nach § 3 seiner Satzung über die Schülerbeförderung im Landkreis H. könnten die Grenzen der Zumutbarkeit von Schulwegen zu Schulen mit einem besonderen überregionalen Angebot abweichend von den dort vorgeschriebenen Schulwegzeiten höher angesetzt werden. Inzwischen sei die Transportsituation der Antragstellerin optimiert worden, eine weitere Verbesserung sei nicht zu erreichen. Mit einem Einzeltransport ließen sich keine wesentlich kürzeren Fahrtzeiten erzielen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Schriftsätze nebst Anlagen und den Inhalt der Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners verwiesen.

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II. Der nach 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zulässige Antrag ist nach Maßgabe der im Beschlusstenor angeordneten Befristung und inhaltlichen Einschränkung der einstweiligen Anordnung begründet.

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Die Antragstellerin hat für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit welcher der Antragsgegner vorläufig verpflichtet wird, sie an Schultagen von ihrem Wohnort zu der besuchten Schule in C. und zurück im Wege eines unmittelbaren und nicht durch das Befördern weiterer Schülerinnen und Schüler unterbrochenen Schülertransports im Kraftfahrzeug zu befördern, sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO).

13

Der Anspruch der Antragstellerin auf die im Entscheidungsausspruch konkretisierte Form ihrer Beförderung zur Schule im freigestellten Personenverkehr (§§ 43, 58 PBefG) folgt aus § 114 Abs. 1 Satz 2 Niedersächsisches Schulgesetz - NSchG -. Danach hat der Antragsgegner als Träger der Schülerbeförderung die Antragstellerin unter zumutbaren Bedingungen zu der von ihr besuchten Sonderschule zu befördern oder ihr oder ihren Erziehungsberechtigten die notwendigen Beförderungsaufwendungen zu erstatten. Der Anspruch auf Beförderung unter zumutbaren Bedingungen oder Erstattung der Aufwendungen besteht unabhängig von der Höhe der dadurch tatsächlich entstehenden Kosten. Die für andere Schulen (mit Ausnahme der Konkordatsschulen) gesetzlich vorgesehene Kostenbegrenzung gilt für die Beförderung zu Sonderschulen außerhalb des Gebiets des Beförderungsträgers nicht, § 114 Abs. 3 Satz 5 NSchG.

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Der Anspruch der Antragstellerin umfasst das Recht, eine unmittelbare, zeitlich nicht durch die Mitbeförderung anderer unterbrochene Beförderung von ihrem Wohnhaus zur Schule und zurück zu verlangen. Zwar überlässt es das NSchG dem Träger der Schülerbeförderung, die von ihm zu erbringende Beförderungsleistung nach seinem Ermessen auszuwählen und näher auszugestalten. Wenn die Zumutbarkeit der Beförderungsbedingungen gewahrt bleibt, insbesondere die körperliche und psychische Belastbarkeit sowie die Sicherheit des Schulweges (vgl. § 114 Abs. 2 Satz 2 NSchG) gewährleistet sind, kann der Träger der Schülerbeförderung seine Pflicht auch dadurch erfüllen, dass er diejenigen, die die persönlichen Voraussetzungen der Schülerbeförderung nach § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG erfüllen, durch Dritte (Beförderungsunternehmer) mit einem gesonderten Sammeltransport (wie mit dem hier eingesetzten Schulbus), an dem mehrere Schülerinnen oder Schüler teilnehmen, zur Schule befördert.

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Mit Verbindlichkeit für das Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz ist davon auszugehen, dass die von dem Antragsgegner gegenwärtig gewählte Organisation des Sammeltransports für die Antragstellerin entgegen § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG nicht unter zumutbaren Bedingungen stattfindet, deshalb den gesetzlichen Beförderungsanspruch der Schülerin nicht erfüllt und auf eine unmittelbare, nicht unterbrochene Beförderung umzustellen ist. Die Unzumutbarkeit des mit einem Bus der Firma B. durchgeführten Sammeltransports folgt aus der Länge der dabei für die Antragstellerin schultäglich entstehenden Fahrtzeiten. Nach der Rechtsprechung des Gerichts (NdsVBl. 1995 S. 94) kann im Regelfall für Schülerinnen und Schüler des Sekundarbereichs I angenommen werden, dass ein Schulweg noch zumutbar ist, wenn seine zeitliche Länge je Richtung einschließlich beförderungsbedingter Wartezeiten (Umsteigen) 75 Minuten nicht überschreitet. Die Kammer folgt zwar im Grundsatz der Annahme des Antragsgegners, dass für bestimmte Schulen ein anderer Maßstab anzulegen ist. Dazu zählen unter anderem öffentliche Schulen mit einem überregionalen Angebot, die innerhalb oder außerhalb desselben Schulträgers schulbezirksübergreifend besucht werden können. Hierfür ist in der Rechtsprechung bisher eine zeitliche Obergrenze von 90 Minuten je Richtung angenommen worden (OVG Lüneburg, NVwZ 1984 S. 812, 814 f.). Allerdings hat die Kammer ernsthafte Zweifel daran, diesen im wesentlichen für berufsbildende Schulen, überregional besuchte Gesamtschulen und allgemein-bildende Ersatzschulen entwickelten Grundsatz auf den Primarbereich von Schulen für Schwerhörige und Gehörlose zu übertragen. In diesen Schulen wird einem sonderpädagogischen Förderbedarf von Schülerinnen und Schülern Rechnung getragen, der regelmäßig andernorts nicht gedeckt werden kann und den Schülerinnen und Schülern nicht die Wahl einer näher gelegenen Schule lässt. Außerdem wird der sonderpädagogische Förderbedarf gerade durch die spezifische Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit im Sinne einer Schwerbehinderung hervorgerufen. An die körperliche und seelische Belastbarkeit dieser Kinder und Jugendlichen werden deshalb vermutlich geringere Anforderungen zu stellen sein. Diese Vermutung wird durch § 114 Abs. 2 Satz 3 NSchG gestützt, wonach die Beförderungs- oder Erstattungspflicht in jedem Fall entfernungsunabhängig besteht, wenn Schülerinnen oder Schüler wegen einer dauernden oder vorübergehenden Behinderung befördert werden müssen. Die Frage, bei welcher zeitlichen Länge tatsächlich die Grenze der generellen Zumutbarkeit des Schulweges von Schülerinnen und Schülern des Primarbereichs der Schulen für Gehörlose und Schwerhörige liegt, kann aber im Ergebnis dahingestellt bleiben.

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Jedenfalls steht das Ermessen des Trägers der Schülerbeförderung, in Beförderungsrichtlinien nicht nur die Mindestentfernung, sondern auch die zumutbaren Umstände der Schülerbeförderung generell vorzuschreiben, unter dem Vorbehalt besonderer Umstände des Einzelfalles. Wie bereits ausgeführt wird der Inhalt des in § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG verwendeten Rechtsbegriffs der Zumutbarkeit entscheidend von den gesetzlichen Kriterien der Belastbarkeit und Sicherheit (§ 114 Abs. 2 Satz 2 NSchG) bestimmt. Insoweit gilt für die zeitliche Länge eines Schulweges im Ergebnis nichts anderes als für das im Einzelfall erforderliche Abweichen von der in der Satzung bestimmten Mindestentfernung (vgl. § 2 Abs. 3 der Satzung des Antragsgegners). Liegen besondere Umstände für eine verminderte Belastbarkeit einer Schülerin oder eines Schülers vor, muss diesen nicht nur bei der geometrischen, sondern auch der zeitlichen Länge des Schulweges Rechnung getragen werden. Das gilt auch im Fall der Antragstellerin:

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Die Antragstellerin hat mit der Vorlage von ausreichend aktuellen Bescheinigungen des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte C., des Klinikums P. vom 14. August 2001 und des Facharztes Prof. Dr. D. vom 21. August 2001 glaubhaft gemacht, dass die gegenwärtige Dauer der Schülerbeförderung von ca. 95 Minuten je Strecke die Grenze ihrer körperlichen und psychischen Belastbarkeit überschreitet. In ihrem Fall kommt hinzu, dass sich die ständige körperliche und psychische Überlastung bereits in Gestalt eines starken Leistungsabfalls bemerkbar macht (Stellungnahme des Landesbildungszentrums für Hörgeschädigte) und in körperlichen Symptomen äußert (Attest des Arztes Dr. E. vom 13.8.2001). Daraus folgt, dass die gegenwärtige Organisation der Beförderungsleistung des Antragsgegners für die Antragstellerin nicht im Sinne von § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG zumutbar ist und dringend geändert werden muss, um der gesetzlichen Vorgabe Rechnung zu tragen. Mit der für das Verfahren ausreichenden überwiegenden Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass sich eine Abkürzung der tatsächlichen Fahrtzeiten nur erreichen lässt, indem die Antragstellerin allein oder mit einer deutlich geringeren Anzahl von Mitschülerinnen und Mitschülern, jedenfalls gesondert von den auf der Strecke von ihrem Wohnhaus nach C. in den Sammeltransport zusteigenden Schülerinnen und Schülern, zur Schule und zurück an ihren Wohnort befördert wird. Entgegen der von dem Antragsgegner vertretenen Auffassung spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sich die täglichen Fahrtzeiten spürbar abkürzen lassen, wenn im Anschluss an die morgendliche Abholung der Antragstellerin kein weiteres Zusteigen von anderen Schulkindern und beim nachmittäglichen Rücktransport kein weiterer Halt des Fahrzeuges mehr stattfindet. Die Kammer folgt insoweit der Schätzung der Eltern der Antragstellerin, dass die Fahrtstrecke von A. nach C. von einem Taxi oder Mietwagen tatsächlich in 70 Minuten, jedenfalls in deutlich weniger als 95 Minuten bewältigt werden kann. Dafür spricht nicht nur die Gesamtentfernung von weniger als 70 km und die Tatsache, dass die Fahrt von A. nach C. überwiegend über gut ausgebaute Bundesstraßen möglich ist. Die Kammer geht auch davon aus, dass sich eine weitere Zeiteinsparung durch ein Ausweichen auf die in dem Schreiben des Gerichts vom 3. September 2001 alternativ vorgeschlagene Streckenführung über S. erreichen lässt, was insbesondere dann gilt, wenn nicht der Bahnhof in W. zum Aufnehmen weiterer Kinder angefahren werden muss. Bereits die von der Firma B. am 19. September 2001 unternommene Versuchsfahrt mit dem zeitlichen Umweg über den Bahnhof W. hat eine Verkürzung der Fahrtzeit der Antragstellerin auf 85 Minuten, mithin um 10 Minuten, ergeben. Die gegen diese Streckenführung geäußerten Einwände des Beförderungsunternehmers sind nicht zwingend, sondern typische Bedingungen des Straßenverkehrs. Außerdem kann der Antragsgegner offensichtlich nicht glaubhaft machen, dass das gesamte 23 km lange Teilstück der Landesstraße ... in keiner Weise den Sicherheitsanforderungen des Schülertransports entspricht. Es ist gerichtsbekannt, dass die von dem Beförderungsunternehmer gerügten Mängel in Gestalt einer Unebenheit des Straßenbelags und der Verengung des Lichtraumes durch Alleebäume nur auf einem ca. 7 km langen Teilstück zwischen M. und S. vorzufinden sind (s. die Entfernungsangaben auf dem den Beteiligten übersandten Auszug aus der Straßenkarte); im übrigen Verlauf stehen Ausbau und Streckenführung der Landesstraße ... dagegen hinter denen der Bundesstraße ... nicht wesentlich zurück. Das gilt insbesondere für die durch guten Ausbauzustand und lange Geraden gekennzeichneten Teilstrecken zwischen S. und M. sowie zwischen R. und E..

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Der Vermutung, dass sich die Länge der Fahrtzeiten für die Antragstellerin wesentlich verkürzen lässt, wenn sie in ununterbrochener Fahrt nach C. befördert wird, hat der Antragsgegner bisher nichts Konkretes entgegengesetzt. Er hat über das Ermitteln der Fahrtzeit des Sammeltransports auf der vom Gericht vorgeschlagenen Alternativstrecke hinaus keine Vergleichsfahrt mit einem Mietwagen oder diesem vergleichbaren Kraftfahrzeug auf dem direkten Weg von A. nach C. unternommen und insoweit keine eigenen Feststellungen zur Klärung des Sachverhalts getroffen.

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Der Anordnungsanspruch geht allerdings nicht so weit, dass die Antragstellerin verlangen könnte, in einem Einzeltransport zur Schule befördert zu werden. Es bleibt dem Antragsgegner überlassen, den Schülertransport so zu organisieren, dass das betreffende Kraftfahrzeug zum Beispiel zunächst die Mitschülerin der Antragstellerin aus K. und ihren Mitschüler aus B. aufnimmt und sodann die Antragstellerin abholt. Durch eine solche Organisation entstehen der Antragstellerin keine unzumutbaren Nachteile. Insoweit ist der Hauptantrag der Antragstellerin abzulehnen.

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Die glaubhaft gemachte seelische und körperliche Überlastung der Antragstellerin kennzeichnet zugleich die Dringlichkeit und damit den Anordnungsgrund für eine vorläufige Regelung. Ihm kann dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass die zeitliche Wirkung der einstweiligen Anordnung auf die Dauer von vier Monaten befristet wird; über diesen Zeitraum hinaus ist die einstweilige Anordnung gegenwärtig nicht nötig im Sinne von § 123 Abs. 1 VwGO. Ein Zeitraum von vier Monaten dürfte erfahrungsgemäß ausreichen, um eine Umorganisation des Schülertransports seitens des Antragsgegners zu ermöglichen und gegebenenfalls ein Hauptsacheverfahren durch Erhebung der Leistungsklage anhängig zu machen.

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Die einstweilige Anordnung ist inhaltlich insoweit einzuschränken, als sie unter dem Vorbehalt der Ausübung des Wahlrechts des Antragsgegners steht. Nach § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG steht es im Ermessen des Trägers der Schülerbeförderung, von welcher der beiden gesetzlichen Möglichkeiten, nämlich der Beförderung oder der Erstattung der Beförderungsaufwendungen, er Gebrauch macht. Ein Wahlrecht der Schülerin oder ihrer Erziehungsberechtigten zwischen Beförderung einerseits und Erstattung der notwendigen Aufwendungen für den Schulweg andererseits sieht das NSchG nicht vor. Sie können stets nur Beförderung durch den Träger oder Erstattung aufgrund eigenverantwortlich organisierter Schülerbeförderung verlangen, was sich sowohl auf den Anordnungsanspruch als auch auf den Anordnungsgrund auswirkt.

 


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