Beschluss vom Verwaltungsgericht Hannover (6. Kammer) - 6 B 4297/02

Gründe

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I. Die Antragstellerin wendet sich mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen einen Bescheid der Antragsgegnerin, in dem ihr Ausschluss vom Unterricht für drei Monate angeordnet, ihr die Verweisung von allen Schulen angedroht und ihre amtsärztliche Untersuchung angeordnet wird.

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Die am ... 1986 geborene Antragstellerin ist autistisch und wurde mit Verfügung des Schulaufsichtsamtes ... vom 28.04.1992 zum 01.08.1992 der Antragsgegnerin, einer Schule für geistig Behinderte, zugewiesen. Dort besucht sie gegenwärtig im 11. Schuljahrgang die Klasse ... .

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Am 28.02.2001 kam es, soweit ersichtlich erstmals, zu einem Vorfall, bei dem die Antragstellerin während des Unterrichts eine Praktikantin biss und dadurch erheblich verletzte. Die Antragstellerin wurde daraufhin zunächst kurzfristig sowie auf Grundlage eines Beschlusses der Klassenkonferenz vom 05.03.2001 durch bestandskräftigen Bescheid der Schulleiterin der Antragsgegnerin vom 06.03.2001 bis zum 16.03.2001 vom Unterricht ausgeschlossen. Darüber hinaus wurde die Bereitstellung eines Einzelfallhelfers für die Antragstellerin beschlossen. Im Mai 2001 kam es dann erneut zu einem Vorfall, bei dem die Antragstellerin wiederum eine Lehrkraft angriff, jedoch nicht ernsthaft verletzte. Weitere Vorfälle ereigneten sich dann ab dem 13.02.2002, bei dem die Antragstellerin wieder mehrfach aggressives Verhalten zeigte und ihre Integrationshelferin, Frau ..., angriff und durch Bisse leicht verletzte. Am 23.08.2002 zeigte sich die Antragstellerin im Unterricht wiederum auffällig.

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Am 27.08.2002 kam es sodann erneut zu einem Vorfall, bei dem die Antragstellerin ihre Integrationshelferin, Frau ..., wieder angriff und durch Bisse erheblich verletzte. Die Schulleiterin der Antragsgegnerin schloss die Antragstellerin daraufhin noch am 27.08.2002 zunächst im Wege einer Eilmaßnahme nach § 43 Abs. 2 Nr. 6 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) mit sofortiger Wirkung bis zum 03.09.2002 vom Unterricht aus. Dies teilte sie den Eltern der Antragstellerin mit Schreiben vom 27.08.2002 mit und kündigte gleichzeitig an, dass am 03.09.2002 eine Klassenkonferenz stattfinden werde. Gegen dieses Schreiben erhoben die Eltern der Antragstellerin mit Schreiben ebenfalls vom 27.08.2002 Widerspruch. Über diesen Widerspruch wurde, soweit ersichtlich, bislang nicht entschieden. Mit Schreiben vom 31.08.2002 erklärten die Eltern der Antragstellerin gegenüber der zuständigen Klassenlehrerin, Frau ..., sie und die Antragstellerin würden an der für den 03.09.2002 anberaumten Klassenkonferenz teilnehmen.

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Am 03.09.2002 fand eine Sitzung der Klassenkonferenz der Klasse ... der Antragsgegnerin statt. An dieser Sitzung nahmen auch die Antragstellerin und ihre Eltern teil. Im Rahmen dieser Sitzung bestätigte die Klassenkonferenz zunächst die von der Schulleiterin am 27.08.2002 getroffene Eilmaßnahme und beschloss, dem dagegen gerichteten Widerspruch vom 27.08.2002 nicht abzuhelfen. Darüber hinaus beschloss die Klassenkonferenz, die Antragstellerin bis zum 25.11.2002 vom Unterricht auszuschließen, ihr die Verweisung von allen Schulen anzudrohen und ihre Begutachtung durch einen Amtsarzt „zur Einschätzung der Sicherheitsprüfung anderer Personen im Rahmen des Schulbesuchs“ zu veranlassen sowie „die Ordnungsmaßnahmen mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung“ nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zu verbinden. Wegen der Einzelheiten der Sitzung der Klassenkonferenz wird auf das diesbezügliche Protokoll vom 03.09.2002 (Beiakte A, Bl. 147 ff. [158 ff.]) verwiesen.

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Diesen Beschluss setzte die Schulleiterin der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 05.09.2002 um. Eine Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erfolgte jedoch ausdrücklich nur hinsichtlich des Ausschlusses vom Unterricht für drei Monate. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.09.2002 (Beiakte A, Bl. 156 f. = Gerichtsakte, Bl. 6 f.) verwiesen.

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Gegen den Bescheid vom 05.09.2002 erhob die Antragstellerin mit Schreiben vom 23.09.2002 Widerspruch. Über diesen Widerspruch wurde bislang, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden.

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Am 24.09.2002 hat die Antragstellerin um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

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Zur Begründung macht die Antragstellerin im Wesentlichen geltend, der Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.09.2002 sei zum einen bereits formell rechtswidrig, weil die Einladung zu der Klassenkonferenz vom 03.09.2002 nicht ordnungsgemäß erfolgt sei. Zum anderen sei der Bescheid jedoch auch materiell rechtswidrig, weil er von einem unzutreffenden und in wesentlichen Punkten unvollständigen Sachverhalt ausgehe. Insbesondere fehle es an einer sachverständigen Prüfung der verhängten Maßnahmen. Diese seien zudem ungeeignet, den angestrebten Erfolg zu erreichen. Eine Prüfung, ob andere geeignete Mittel in Betracht gekommen wären, habe ebenfalls nicht stattgefunden. Außerdem sei die Maßnahme vollkommen unverhältnismäßig, zumal vor Verhängung der jetzigen Ordnungsmaßnahmen keine Erziehungsmittel und auch keine milderen Ordnungsmaßnahmen angewandt worden seien. Die Maßnahmen berücksichtigten schließlich überhaupt nicht, dass die Antragstellerin autistisch sei. Hierzu verweist die Antragstellerin insbesondere auf die am 16.06.2000 von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossenen „Empfehlungen zu Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autistischem Verhalten“. Diese sähen Ordnungsmaßnahmen bewusst nicht vor, weil Maßnahmen der hier streitigen Art bei autistischen Kindern ungeeignet seien und nur noch zu einer Verschlechterung der Gesamtsituation beitrügen.

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Die Antragstellerin beantragt,

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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs und einer eventuell nachfolgenden Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. September 2002 wiederherzustellen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Zur Begründung macht die Antragsgegnerin im Wesentlichen geltend, der Ausschluss vom Unterricht, bezüglich dessen die sofortige Vollziehung angeordnet worden sei, genüge den Anforderungen des § 61 NSchG und sei insgesamt rechtmäßig. Durch ihre unvorhersehbare Aggressivität gefährde die Antragstellerin nämlich die Sicherheit ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler sowie der an der Schule tätigen Lehrkräfte. Außerdem störe sie den Unterricht schwer und nachhaltig, und zwar insbesondere auch deshalb, weil ihre Mitschülerinnen und Mitschüler verstört und mit großer Angst auf das Verhalten der Antragstellerin reagierten und ein geordneter Unterricht mit der Antragstellerin deswegen gegenwärtig nicht möglich sei. Ferner sei die Maßnahme auch verhältnismäßig. Die Klassenkonferenz habe sich ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 03.09.2002 ausführlich mit dem Vorbringen der Antragstellerin und ihrer Eltern auseinandergesetzt und auch die Möglichkeit von Erziehungsmitteln und anderer Ordnungsmaßnahmen erwogen, diese jedoch für nicht ausreichend erachtet. Dies sei nicht zu beanstanden. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Antragsgegnerin wird auf ihre Antragserwiderung vom 16.10.2002 verwiesen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird schließlich weiterhin auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Antragsschrift vom 23.09.2002, die weiteren Schriftsätze der Antragstellerin vom 24.09., 26.09., 30.09. und 08.10.2002, die Antragserwiderung vom 16.10.2002 und die weiteren Schriftsätze der Antragsgegnerin vom 02.10. und 15.10.2002, sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (Beiakte A) verwiesen.

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II. Der Antrag der Antragstellerin ist insgesamt als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 23.09.2002 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.09.2002 nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGO zu verstehen und als solcher auch insgesamt statthaft. Denn bei allen drei Regelungen, die in dem angegriffenen Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.09.2002 enthalten sind, handelt es sich um Verwaltungsakte, die mit einem (Anfechtungs-) Widerspruch (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und einer Anfechtungsklage (§§ 42 Abs. 1, 1. Alt., 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) angegriffen werden können, so dass insgesamt ein Fall des § 80 VwGO vorliegt (vgl. § 123 Abs. 5 VwGO).

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Nicht Gegenstand des Verfahrens ist demgegenüber die Eilmaßnahme der Schulleiterin der Antragsgegnerin vom 27.08.2002 und der hiergegen gerichtete Widerspruch ebenfalls vom 27.08.2002; diese Maßnahme ist vielmehr erledigt, so dass das Vorbringen der Antragstellerin, sie sei verspätet auf die „Notkompetenz“ der Schulleiterin hingewiesen worden, hier irrelevant ist.

18

Hinsichtlich der Androhung des Ausschlusses von allen Schulen (§ 61 Abs. 3 Nr. 5 NSchG) und der Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung der Antragstellerin (vgl. § 56 NSchG) ist der Antrag im Übrigen schon mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig und deshalb insoweit abzulehnen. Denn hinsichtlich dieser beiden Regelungen entfaltet der Widerspruch der Antragstellerin vom 23.09.2002 ohne weiteres nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung, weil sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO in dem angegriffenen Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.09.2002 eindeutig nur auf den Ausschluss vom Unterricht „für drei Monate“ (bis zum 25.11.2002) bezieht und darüber hinaus auch sonst kein Fall des § 80 Abs. 2 VwGO vorliegt. Ein Bedürfnis für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch das Gericht besteht daher insoweit nicht. Dass der Beschluss der Klassenkonferenz vom 03.09.2002 hinsichtlich der Anordnung der sofortigen Vollziehung möglicherweise weiter reicht, ist demgegenüber unerheblich, denn es kommt einzig und allein auf den Regelungsgehalt des tatsächlich erlassenen Bescheides vom 05.09.2002 und der darin enthaltenen schriftlichen Anordnung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO an.

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Das Gericht weist allerdings vorsorglich darauf hin, dass in der Sache Zweifel an der Rechtmäßigkeit der beiden genannten Maßnahmen bestehen dürften.

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Zum einen dürften nämlich hinsichtlich der Androhung der Verweisung von allen Schulen (§ 61 Abs. 3 Nr. 5 NSchG) im Hinblick auf § 61 Abs. 4 Satz 2 NSchG Zweifel daran bestehen, ob diese Ordnungsmaßnahme gegenüber Schülerinnen und Schülern von Schulen für geistig Behinderte überhaupt angeordnet werden kann. Denn an derartigen Schulen besteht kein „Sekundarbereich II“ (§ 61 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 5 Abs. 3 Nr. 3 NSchG). Vielmehr bilden der Primarbereich und die Sekundarbereiche I und II dort gem. Nr. 3.1 des Erlasses des MK vom 18.04.1989 (SVBl. S. 103) „Die Arbeit in der Schule für geistig Behinderte“, zuletzt geändert durch Erlass vom 12.09.1996 (SVBl. S. 424), eine pädagogische und organisatorische Einheit. Selbst wenn eine solche Maßnahme jedoch grundsätzlich zulässig sein sollte, dürfte sie aber hier im Übrigen jedenfalls unverhältnismäßig sein, weil zunächst im Rahmen der Prüfung der richtigen sonderpädagogischen Förderung der Antragstellerin gem. § 68 Abs. 1 NSchG sämtliche Alternativen einer Beschulung im öffentlichen Schulwesen, insbesondere auch hinsichtlich des richtigen För-derortes, zu prüfen wären.

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Zum anderen dürfte die Anordnung einer amtsärztlichen Untersuchung der Antragstellerin „zur Einschätzung der Sicherheitsgefährdung anderer im Rahmen des Schulbesuches“ weder von den in § 56 NSchG abschließend aufgeführten Untersuchungszwecken gedeckt sein (vgl. Seyderhelm/Nagel/Brockmann, NSchG, Kommentar, Stand: 20. Nachlieferung [September 2002], Erl. 1 zu § 56), noch dürfte die Antragsgegnerin hierfür in Ermangelung einer ausdrücklichen Zuständigkeitsregelung zuständig sein (vgl. § 120 Abs. 6 i.V.m. § 119 Nr. 2 NSchG); etwas anderes dürfte nur gelten, wenn es sich um eine Maßnahme im Rahmen des § 68 Abs. 2 NSchG handeln würde (vgl. § 56 Abs. 1 Satz 2 NSchG), was hier jedoch offenbar nicht der Fall ist.

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Hinsichtlich des Ausschlusses der Antragstellerin vom Unterricht bis zum 25.11.2002 (§ 61 Abs. 3 Nr. 4 NSchG) ist der Antrag hingegen zulässig, jedoch unbegründet, so dass er im Ergebnis auch insoweit abzulehnen ist.

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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs wiederherstellen, wenn die sofortige Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO angeordnet wurde. Bei dieser Entscheidung prüft das Gericht zum einen, ob die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 3 VwGO ordnungsgemäß begründet wurde. Zum anderen trifft das Gericht eine eigene Interessenabwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers, vorläufig von den Wirkungen des angefochtenen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben (Aufschubinteresse), einerseits und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsaktes (Sofortvollzugsinteresse) andererseits. Dabei sind die Erfolgsaussichten des von dem Antragsteller eingelegten Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen, soweit sich diese bei summarischer Prüfung – in der Regel ohne umfangreiche Beweisaufnahme – bereits übersehen lassen. Bestehen schon bei dieser summarischen Prüfung ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes (vgl. § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO), ist dem Antrag in aller Regel stattzugeben, da ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes nicht in Betracht kommt. Bestehen hingegen bei summarischer Prüfung keine ernstlichen Zweifel an der Rechtsmäßigkeit des angegriffenen Bescheides, wird der Rechtsbehelf in der Hauptsache mithin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben, und besteht ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes, ist der Antrag abzulehnen. So liegt es hier.

24

In dem angegriffenen Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.09.2002 ist das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Bescheides zunächst gem. § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO gesondert schriftlich begründet worden. Diese Begründung ist zwar recht knapp gehalten, lässt jedoch einen hinreichenden Bezug zum Einzelfall erkennen und genügt insgesamt den formalen Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO.

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Rechtsgrundlage für den streitigen Unterrichtsausschluss ist im Übrigen § 61 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 4, Abs. 4 Satz 1 NSchG. Danach kann eine Schülerin für bis zu drei Monate vom Unterricht ausgeschlossen werden, wenn sie ihre Pflichten grob verletzt (§ 61 Abs. 2 NSchG) und durch den Schulbesuch die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet oder den Unterricht nachhaltig und schwer beeinträchtigt hat (§ 61 Abs. 4 Satz 1 NSchG).

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Ernstliche Zweifel daran, dass der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin vom 05.09.2002 in formeller Hinsicht rechtmäßig ergangen ist, bestehen nicht. Die Antragstellerin und ihre Eltern hatten nämlich bei der Klassenkonferenz vom 03.09.2002 ausweislich des diesbezüglichen Sitzungsprotokolls vom 03.09.2002 hinreichend Gelegenheit, sich zur Sache zu äußern. Der Antragstellerin und ihren Eltern war auf Grund des Schreibens der Schulleiterin der Antragsgegnerin vom 27.08.2002 auch im Vorfeld hinlänglich bekannt, dass wegen des Vorfalls vom 27.08.2002 am 03.09.2002 eine Klassenkonferenz stattfinden sollte, deren Gegenstand selbstverständlich die Beratung über die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen gegen die Antragstellerin sein sollte. Dies ergibt sich auch mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Schreiben der Eltern der Antragstellerin an die Klassenlehrerin vom 31.08.2002, mit dem die Eltern der Antragstellerin bereits im Vorfeld zu möglichen Ordnungsmaßnahmen gegen die Antragstellerin nach § 61 NSchG Stellung genommen hatten. Eine durchgreifende Verletzung von Form- oder Verfahrensvorschriften zum Schutze der Antragstellerin, insbesondere nach § 61 Abs. 6 NSchG, die zur Rechtswidrigkeit der Maßnahme und einer Verletzung subjektiver Rechte der Antragstellerin führen würde (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist jedenfalls nicht ersichtlich.

27

Im Übrigen genügt die angegriffene Maßnahme bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung auch in materieller Hinsicht den gesetzlichen Anforderungen.

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Denn zum einen liegen die in § 61 Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 NSchG genannten Tatbestandsvoraussetzungen für eine Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 3 Nr. 4 NSchG mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit vor. Durch ihr Verhalten hat die Antragstellerin nämlich zunächst objektiv in ganz erheblicher Weise ihre Pflichten verletzt (§ 61 Abs. 2 NSchG), indem sie ihre Einzelfallhelferin zum wiederholten Male angegriffen und nicht unerheblich verletzt hat. Dadurch hat sie sowohl gegen rechtliche Bestimmungen verstoßen als auch – worauf die Antragsgegnerin besonders abstellt – den Unterricht nachhaltig gestört, insbesondere weil ihre ebenfalls geistig behinderten Mitschülerinnen und Mitschüler hierdurch ganz erheblich verstört und verängstigt wurden. Darüber hinaus dürfte auch auf der Hand liegen, dass die Antragstellerin durch ihr Verhalten während des Schulbesuchs die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet und den Unterricht nachhaltig und schwer beeinträchtigt hat (§ 61 Abs. 4 Satz 1 NSchG). Denn durch die tatsächliche Verletzung ihrer Einzelfallhelferin hat die Antragstellerin deren Sicherheit nicht nur gefährdet, sondern bereits in erheblichem Maße beeinträchtigt und darüber hinaus auch den Unterricht nachhaltig und schwer gestört, weil ein derartiger Vorfall naturgemäß nicht ohne erhebliche Folgen auf das Unterrichtsgeschehen in einer Schule für geistig Behinderte bleiben kann. Dass die Mitschülerinnen und Mitschüler der Antragstellerin verängstigt und verstört sind, ist vielmehr überaus nahe liegend; ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der diesbezüg-lichen Feststellungen der Antragsgegnerin bestehen für die Kammer nicht.

29

In diesem Zusammenhang kommt es im Übrigen auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Antragstellerin, also ihre subjektive „Schuldfähigkeit“, nicht entscheidend an. Um dem Zweck einer Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 2 bis 7 NSchG, nämlich der Aufrechterhaltung eines geordneten Schulbetriebs, hinreichend gerecht werden zu können, ist vielmehr zunächst maßgeblich auf den objektiven Geschehensablauf abzustellen; langwierige Ermittlungen über die „Schuldfähigkeit“ des betroffenen Schülers, wie etwa in einem entsprechenden Strafverfahren, sind demgegenüber nicht angezeigt. Denn die Schule muss ggf. rasch auf mögliche Ordnungsverstöße reagieren können, um in der Lage zu sein, schnellstmöglich die schulische Ordnung wiederherzustellen und etwaige Gefahren abzuwehren. Außerdem hat eine schulrechtliche Ordnungsmaßnahme auch nicht (primär) Sanktionscharakter, sondern stellt in erster Linie ein Mittel dar, um tatsächlichen Störungen des Schulbetriebs, die von einem Schüler ausgehen, zu begegnen und diese ggf. zu beseitigen (vgl. Seyderhelm/Nagel/Brockmann, a.a.O., Erl. 2.2 zu § 61); das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitende Verbot einer Bestrafung ohne Schuld („nulla poena sine culpa“; vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14.07.1981 – 1 BvR 575/80 – BVerfGE 58, 159-163, und vom 15.03.1990 – 2 BvR 126/90 – jurisWeb) gilt für Schulordnungsmaßnahmen der im vorliegenden Einzelfall streitigen Art nicht. Zu prüfen ist hier nach alledem nicht, ob die Antragstellerin für ihr Verhalten „verantwortlich“ ist oder nicht. Vielmehr ist letztlich entscheidend, ob von ihr objektiv eine Störung des Schulbetriebes ausgeht. Dies ist jedoch offenkundig der Fall.

30

Zum anderen bestehen keine ernstlichen Zweifel daran, dass die nach § 61 Abs. 5 Satz 1 NSchG zuständige Klassenkonferenz der Antragsgegnerin das ihr eingeräumte Ermessen rechtmäßig ausgeübt hat (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).

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Die Entscheidung über die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 3 Nr. 4 NSchG steht im Ermessen der Klassenkonferenz („kann“). Dieses Ermessen hat die Klassenkonferenz bei der Verhängung einer solchen Ordnungsmaßnahme gem. § 1 Abs. 1 NVwVfG i.V.m. § 40 VwVfG entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die Grenzen des Ermessens einzuhalten. Zweck einer Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 2 bis 7 NSchG ist, wie bereits dargelegt, insbesondere die Aufrechterhaltung eines geordneten Schulbetriebes. Durch eine Ordnungsmaßnahme soll also in erster Linie die Sicherheit und Ordnung des Schulbetriebes gewährleistet werden, wobei allerdings Anknüpfungspunkt immer eine Gefährdung oder Störung des Schulbetriebes durch ein individuelles Fehlverhalten eines Schülers sein muss (vgl. Seyderhelm/Nagel/ Brockmann, a.a.O., Erl. 2. und insbesondere 2.2 zu § 61). Zu den gesetzlichen Grenzen des Ermessens zählt insbesondere der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. § 4 NGefAG), der gerade bei Maßnahmen nach § 61 Abs. 3 Nr. 3 bis 6 NSchG wegen der damit verbundenen schwerwiegenden Folgen in besonderem Maße zu beachten ist (vgl. Seyderhelm/Nagel/Brockmann, a.a.O., Erl. 6.2 und 3.2 zu § 61). Danach muss eine (als solche mögliche und zulässige) Maßnahme geeignet sein, den angestrebten Erfolg zu erreichen (Geeignetheit). Von mehreren solcher Maßnahmen ist diejenige zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt (Erforderlichkeit). Schließlich darf die Maßnahme nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem angestrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht (Angemessenheit oder Verhältnismäßigkeit i.e.S.). Gemessen an diesen Grundsätzen genügt die von der Antragsgegnerin getroffene Maßnahme den gesetzlichen Anforderungen an eine rechtsfehlerfreie Ermessensausübung.

32

Die Antragsgegnerin hat nämlich zunächst in besonderer Weise darauf abgestellt, dass die Maßnahme geboten sei, um einerseits die von der Antragstellerin ausgehende Gefahr für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sowie die Lehrkräfte abzuwehren und andererseits einen ungestörten Unterricht für ihre durch ihre Anwesenheit verängstigten Mitschülerinnen und Mitschüler zu gewährleisten. Damit orientiert sich die Antragsgegnerin in nicht zu beanstandender Weise maßgeblich an dem genannten gesetzlichen Zweck einer Ordnungsmaßnahme.

33

Zur Erreichung dieses Zwecks ist die Verhängung einer Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 3 Nr. 4 NSchG darüber hinaus auch bei autistischen Schülerinnen und Schülern ein zulässiges Mittel. Die von der Antragstellerin in Bezug genommenen Empfehlungen der KMK vom 16.06.2000 stehen dem nicht entgegen. Diese enthalten vielmehr nur allgemeine Empfehlungen für die Gestaltung des Unterrichts und der Erziehung bei autistischen Kindern und Jugendlichen, sprechen sich dabei jedoch nicht ausdrücklich gegen Ordnungsmaßnahmen aus. Im Übrigen hätten sie ohnehin keine rechtsverbindliche Wirkung, sondern stellen eben nur Empfehlungen dar. Schließlich nimmt das NSchG Schülerinnen und Schüler von Schulen für geistig Behinderte auch nicht vom Anwendungsbereich von Ordnungsmaßnahmen nach § 61 Abs. 2 bis 7 NSchG aus. Das Gesetz trägt damit dem Umstand Rechnung, dass auch solche Schulen grundsätzlich – unabhängig von der Steuerungs- und Einsichtsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler (s.o.) – in der Lage sein müssen, tatsächliche Störungen des Schulbetriebs auch durch Ordnungsmaßnahmen effektiv abzuwehren.  

34

Bezogen auf die oben genannte Zielsetzung ist die Maßnahme auch offenkundig geeignet, um den angestrebten Erfolg, nämlich die Sicherheit und Ordnung des Schulbetriebes aufrecht zu erhalten, zu erreichen. Ob die Maßnahme daneben auch geeignet ist, um erzieherisch (quasi „spezialpräventiv“) auf die Antragstellerin selbst einzuwirken und sie von einem entsprechenden Fehlverhalten in der Zukunft abzuhalten, ist demgegenüber jedenfalls im vorliegenden Einzelfall unerheblich.

35

Darüber hinaus ist die Maßnahme auch erforderlich, da ein milderes Mittel zur Erreichung des angestrebten Erfolgs nicht ersichtlich ist. Die Antragsgegnerin hat sich diesbezüglich zum einen eingehend mit der Möglichkeit anderer Ordnungsmaßnahmen befasst, diese jedoch letztlich in nicht zu beanstandender Weise verworfen (vgl. Sitzungsprotokoll vom 03.09.2002, dort S. 3 = Beiakte A, Bl. 164). Zum anderen hat die Antragsgegnerin hinsichtlich der Länge des Unterrichtsausschlusses in zulässiger Weise in ihre Erwägungen einfließen lassen, dass die Länge von (knapp) drei Monaten gerade auch im Interesse der Antragstellerin angezeigt sei, um ihr die Möglichkeit zu geben, durch individuelle therapeutische Unterstützung ihre Steuerungsfähigkeit zu verbessern (vgl. Sitzungsprotokoll, a.a.O.). Dies ist rechtlich nicht zu beanstanden.

36

Schließlich ist die Maßnahme bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung auch angemessen (verhältnismäßig i.e.S.). Denn es ist für die Kammer nicht ersichtlich, dass die Maßnahme für die Antragstellerin zu einem Nachteil führt, der erkennbar außer Verhältnis zu dem angestrebten Erfolg stünde. Zwar ist ein dreimonatiger Unterrichtsauschluss eine relativ schwerwiegende Maßnahme. Jedoch erscheint sie im vorliegenden Fall angemessen, um auf das Fehlverhalten der Antragstellerin zu reagieren, zumal es sich um einen Wiederholungsfall handelt und der erste, kürzere Unterrichtsausschluss im März 2001 offensichtlich keinen langfristigen Erfolg gebracht hat. Die Sicherheit der Mitschülerinnen und Mitschüler der Antragstellerin und ihrer Lehrkräfte sowie die Aufrechterhaltung eines geordneten Unterrichtsgeschehens bei der Antragsgegnerin haben jedenfalls auch ein erhebliches Gewicht, zu dem der Nachteil für die Antragstellerin zumindest nicht erkennbar außer Verhältnis steht.

37

Nach alledem überwiegt das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Unterrichtsausschlusses das Aufschubinteresse der Antragstellerin, so dass ihr Antrag abzulehnen ist. Die angebotene Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens war dabei im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht geboten.

38

Die Kammer weist jedoch abschließend ausdrücklich darauf hin, dass es sich bei dem vorliegenden Einzelfall um eine Ausnahmesituation handelt, in dem es nicht darum gehen kann und darf, eine Sanktion für begangenes Unrecht zu verhängen oder ein Unwerturteil auszusprechen. Denn dies würde, wie oben erwähnt, aus verfassungsrechtlichen Gründen die Feststellung zumindest einer hinreichenden Einsichts- und Steuerungsfähigkeit der Antragstellerin im Sinne von „Schuld“ oder „Verantwortlichkeit“ voraussetzen. Am Vorliegen einer derartigen Verantwortlichkeit der Antragstellerin bestehen jedoch zumindest hinsichtlich ihrer Steuerungsfähigkeit ganz erhebliche Zweifel. Jedenfalls aber liegen insoweit keine gesicherten Erkenntnisse vor, so dass zur Sachverhaltsaufklärung eine umfangreichere Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich wäre, die jedoch wiederum bei der nur summarischen Prüfung im Rahmen des vorliegenden Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes nicht angezeigt ist. Demzufolge kann die Maßnahme nur unter dem Gesichtspunkt der Aufrechterhaltung eines geordneten Schulbetriebes und der Gefahrenabwehr gerechtfertigt sein und sich lediglich als vorläufige Maßnahme zum Schutze und im Interesse der Mitschülerinnen und Mitschüler der Antragstellerin und der bei der Antragsgegnerin tätigen Lehrkräfte darstellen.

39

Gleichzeitig muss jedoch unbedingt gewährleistet sein, dass die Bezirksregierung ... als zuständige Schulbehörde parallel zu der jetzigen Maßnahme der Schule prüft, welche langfristigen Maßnahmen zur richtigen Beschulung der Antragstellerin im Rahmen des § 68 NSchG in Betracht kommen. Die Kammer versteht die Ausführungen der Antragsgegnerin in dem angefochtenen Bescheid vom 05.09.2002 aber auch dahingehend, dass die Zeit des Unterrichtsausschlusses der Antragstellerin insbesondere auch dazu genutzt werden soll, zu prüfen, wo und wie ihre Beschulung langfristig in angemessener Weise erfolgen kann. Sollte sich diese Erwartung der Kammer als unzutreffend erweisen, könnte die erneute Verhängung einer Ordnungsmaßnahme bei einem etwaigen weiteren Vorfall durchaus einer anderen rechtlichen Bewertung unterliegen.

 


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