Beschluss vom Verwaltungsgericht Hannover (6. Kammer) - 6 B 3509/03

Gründe

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I. Die am J. 1997 geborenen Antragstellerinnen sind Zwillingsschwestern und wohnen mit ihren Eltern unter der Hausnummer G. in der Straße F. in Hannover, durch deren Straßenmitte die Grenze der Schulbezirke der Grundschule K. und der Grundschule L. straße verläuft. Im Hinblick auf ihre anstehende Einschulung beantragten die Eltern der Antragstellerinnen am 28. Oktober 2002 bei der zuständigen Grundschule K., ihren Töchtern den Besuch der Grundschule L. straße zu gestatten. Zur Begründung gaben die Eltern an, ihre Töchter besuchten seit zwei Jahren die AWO-Kindertagesstätte in der L. straße . Um die sozialen Bindungen zu festigen, sollten sie wie die meisten anderen Kinder die Grundschule L. straße besuchen. Auch sei ihnen der sichere Schulweg dorthin bekannt. Ihr Bruder Clemens besuche bereits die Grundschule L. straße und werde dort im Hort betreut. Diese Möglichkeit bestehe auch für die Antragstellerinnen. Falls diese keinen Betreuungsplatz im Hort fänden, werde Frau M. in N. die Betreuung übernehmen. Zugleich legten die Eltern der Antragstellerinnen eine Bescheinigung vor, derzufolge sie für einen Hortplatz der AWO-Kindertagesstätte in der L. straße 82 angemeldet sind.

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Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag mit für die Antragstellerinnen jeweils gesondert erlassenen Bescheiden vom 24. Juni 2003 ab. Dagegen erhoben die Antragstellerinnen durch ihre Eltern vertreten Widerspruch. Zur Widerspruchsbegründung wurde ein Attest des Kinderarztes Dr. O., Hannover, vom 27. Juni 2003 vorgelegt. Darin wird bescheinigt, dass bei den Antragstellerinnen eine Innenohrschwerhörigkeit im Hochtonbereich bestehe, die das Lernen wegen der Nebengeräusche erschwere. Deshalb sei es sinnvoll, einen Rahmen zu wählen, der bezüglich der Größe der Schule und der Anzahl der Schüler begrenzt bleibe, wie es vergleichsweise in der Grundschule L. straße der Fall sei. Ferner wurde je eine Bescheinigung der Kinderärztin P., Region Hannover, vom 30. Juni 2003 vorgelegt, in der es heißt, dass aus kinderärztlicher Sicht die Beschulung in einer kleinen, überschaubaren (2-zügigen) Schule für die wegen ihrer Innenohrschwerhörigkeit mit einem Hörgerät versorgten Antragstellerinnen sinnvoll sei.

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Mit Widerspruchsbescheiden vom 23. Juli 2003 hat die Antragsgegnerin die Widersprüche als der Antragstellerinnen unbegründet zurückgewiesen.

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Die Antragstellerinnen haben am 20. August 2003 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.

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Sie legen eine Bescheinigung des Facharztes für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. Q., Hannover, vom 17. Juli 2003 vor, in der der Antragstellerin zu 1. ein Hörverlust auf beiden Ohren von jeweils 40 % bescheinigt wird. In der Bescheinigung wird ferner attestiert, dass es aus medizinischer Sicht für die schulische und sprachliche Entwicklung der Antragstellerin zu 1. notwendig sei, dass sie in eine kleine Schule mit kleinen Klassen komme. Ferner legen sie eine Bescheinigung des Facharztes für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. R., Hannover, vom 19. August 2003 vor. Darin heißt es, dass es aus medizinischer Sicht dringend notwendig sei, hinsichtlich der Einschulung einen Rahmen zu wählen, der bezüglich der Größe der Schule möglichst begrenzt sei. Daneben legen die Antragstellerinnen eine Bescheinigung der AWO-Kindertagesstätte L. straße 82 vom 23. Juli 2003 darüber vor, dass die Antragstellerinnen den Hort der Tagesstätte in den kommenden vier Jahren besuchen werden.

6

Die Antragstellerinnen vertreten die Auffassung, dass der Besuch der zuständigen Grundschule K. auch unter Berücksichtigung ihrer Behinderung eine unzumutbare Härte darstelle, weil ihnen damit ein Schulweg zugemutet werde, der dreimal so lang sei wie der zur Grundschule L. straße . Der bereits genehmigte Hortplatz in der Grundschule L. straße sei nur mit einem 40-minütigen Fußweg von der Grundschule K. zu erreichen. Die unzumutbare Härte liege auch darin begründet, dass die Eltern der Antragstellerinnen berufstätig seien und sich der Hortplatz im Schulbezirk der Grundschule L. straße befinde. Außerdem habe die Antragsgegnerin die Schwerhörigkeit der Antragstellerinnen nicht hinreichend berücksichtigt. Auch hieraus könne sich, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Länge des Schulweges, eine unzumutbare Härte ergeben. Schließlich werde den Antragstellerinnen angesichts der in ihrer Nachbarschaft geknüpften Bekanntschaften - auch im Hinblick auf das Akzeptieren ihrer Behinderung durch andere Kinder - die Eingewöhnung in der Grundschule K. schwerer fallen.

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Die Antragstellerinnen beantragen,

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die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihnen eine Ausnahmegenehmigung zum Besuch zum Besuch der Grundschule L. straße zu erteilen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Sie trägt vor, dass in der Grundschule L. straße zwei Klassen des 1. Jahrgangs mit 24 bzw. 25 Kindern eingerichtet würden, während in der Grundschule K. vier erste Klassen mit 20 bis 21 Kindern erwartet würden. Zur Verbesserung der Lernsituation der Antragstellerinnen biete sich daher der Besuch der zuständigen Grundschule mit den kleineren Klassen an. Es sei insoweit sinnvoller, sie wegen der störenden Unruhe und Lautstärke in einer kleineren Klasse zu unterrichten. Im Übrigen wäre in Erwägung zu ziehen, dass die Antragstellerinnen eine Schule für Hörgeschädigte besuchen. Der Hortplatz der Grundschule L. straße sei für die Antragstellerinnen in zumutbarer Entfernung zu erreichen; auch andere Kinder der Grundschule K. besuchten diesen Hort.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin (Beiakten A und B) verwiesen.

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II. Der Antrag ist nicht begründet.

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Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die Antragsgegnerin verpflichtet wird, den Antragstellerinnen eine Ausnahmegenehmigung zum Besuch zum Besuch der Grundschule L. straße zu erteilen, haben die Antragstellerinnen einen Anordnungsanspruch (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 VwGO) nicht glaubhaft gemacht.

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Soweit für Schulen Schulbezirke festgelegt worden sind, haben die Schülerinnen und Schüler gemäß § 63 Abs. 3 Satz 1 NSchG diejenige Schule der von ihnen gewählten Schulform zu besuchen, in deren Schulbezirk sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Danach haben die Antragstellerinnen die Grundschule K. zu besuchen, denn nach § 2 Abs. 1 der Satzung über die Festlegung von Schulbezirken für die allgemein bildenden Schulen in der Trägerschaft der Landeshauptstadt Hannover erstreckt sich der Schulbezirk dieser Grundschule auf die Grundstücke mit den geraden Hausnummern der Straße F.. Davon abweichend kann nach § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG der Besuch einer anderen Schule, hier der benachbarten Grundschule L. straße , nur gestattet werden, wenn

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1. der Besuch der zuständigen Schule für die betreffenden Schülerinnen oder Schüler oder deren Familien eine unzumutbare Härte darstellen würde oder

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2. der Besuch der anderen Schule aus pädagogischen Gründen geboten erscheint.

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Es ist nichts dafür ersichtlich und von den Beteiligten auch nicht vorgetragen, dass zwingende pädagogische Gründe für den Besuch der Grundschule L. straße vorliegen könnten. Soweit in der Bescheinigung des Facharztes Dr. Q. vom 17. Juli 2003 auf die schulische und sprachliche Entwicklung der Antragstellerin zu 1. eingegangen wird, steht dieses offensichtlich nur im Zusammenhang mit ihrer Innenohrschwerhörigkeit und den dadurch bedingten Erschwernissen, die der Schulbesuch für das Kind mit sich bringen wird.

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Die Antragstellerinnen haben auch keine Umstände dargelegt und glaubhaft gemacht, aus denen geschlossen werden könnte, dass der Besuch der zuständigen Grundschule K. für sie oder ihre Familie eine unzumutbare Härte darstellen würde. Der Begriff der unzumutbaren Härte kennzeichnet eine Situation, die sich von den typischen Härten, die mit der Festlegung von Schulbezirken verbunden ist, deutlich unterscheidet und das private Interesse der Schülerin oder des Schülers oder der Familie an dem Besuch einer anderen Schule so dringend erscheinen lässt, dass es das nach § 63 Abs. 2 und 3 NSchG grundsätzlich vorrangige Interesse an der Steuerung der Schülerströme durch die Einhaltung von Schulbezirksgrenzen zurückdrängt. Eine solche besondere, durch den Begriff der Unzumutbarkeit gekennzeichnete Situation ist im Fall der Antragstellerinnen nicht erkennbar.

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Dass Schulanfänger mit der Einschulung persönliche Bindungen verlieren können, die während des Besuchs des Kindergartens entstanden sind, ist für ihre Situation nach der Einschulung gerade in einer Großstadt mit einer Vielzahl von Kindertagesstätten, Grundschulen und Schulbezirksgrenzen typisch und keine allein durch die Lage der AWO-Kindertagesstätte in der Nähe der Grundschule L. straße vorgegebene Besonderheit. Insoweit teilt das Gericht die Ansicht der Antragsgegnerin, dass die Aussage der vorgelegten Bescheinigung der AWO-Kindertagesstätte vom 23. Juli 2003, es sei den Kindern nicht zuzumuten, sie aus ihrer gewohnten Umgebung "herauszureißen", ohne nähere einzelfallbezogene Begründung nicht nachvollziehbar ist.

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Die Voraussetzungen einer durch die Notwendigkeit der Organisation einer Betreuung der Antragstellerinnen bedingte unzumutbare Härte sind ebenfalls nicht glaubhaft gemacht worden. Zum einen haben die Antragstellerinnen nicht glaubhaft gemacht, dass ihre Eltern die Betreuung der zukünftigen Schülerinnen nur dergestalt sicher stellen können, dass die Mädchen in der Mittagszeit im Anschluss an die festen Betreuungszeiten der Grundschule einen Hort aufsuchen. Nach der vorgelegten Bescheinigung ihres Arbeitgebers ist die Mutter der Antragstellerinnen nur als geringfügig Beschäftigte im Sinne von § 8 Abs. 1 SGB IV berufstätig. Insoweit ist von den Antragstellerinnen nicht dargelegt worden, dass und warum aus Gründen der Erwerbstätigkeit eine Betreuung in den Mittagsstunden durch die Mutter der Antragstellerinnen nicht geleistet werden könnte. Vielmehr wird es nur ohne jede nähere Substantiierung als "zweifelhaft" bezeichnet, dass die Mutter der Antragstellerinnen ihre Teilzeitbeschäftigung im Fall einer Einschulung in der Grundschule K. fortsetzen könne, ohne dass dargelegt wird, dass die Mutter der Mädchen an feste Arbeitszeiten in der Mittagszeit gebunden ist und insoweit auch keine abweichenden Vereinbarungen mit ihrem Arbeitgeber möglich wären. Damit ist auch der zur Begründung der Unzumutbarkeit herangezogene Umstand, dass ihnen für den Rückweg von der zuständigen Grundschule zum Hort ein unzumutbar langer Schulweg entstünde, nicht zwingend. Insoweit fragt sich, warum die Antragstellerinnen nach der Rückkehr aus der Grundschule von ihrer Mutter nicht in der Mittagszeit zum Hort begleitet werden können. Im Übrigen ist das Vorbringen der Antragstellerinnen in diesem Punkt auch in sich widersprüchlich. Zum einen machen sie geltend, dass sie künftig den Hortplatz in der in der L. straße 49 gelegenen Grundschule L. straße erhalten werden (Bl. 3 Beiakte A; S. 3 der Antragsschrift vom 19.8.2003). Zum anderen sollen aber die vorgelegten Bescheinigungen der AWO-Kindertagesstätte belegen, dass sie in dieser Kindertagesstätte, die sich offenbar in der L. straße 82 befindet, zukünftig den Hort besuchen werden.

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Soweit die Antragstellerinnen geltend machen, dass ihnen wegen ihrer Innenohrschwerhörigkeit und angesichts ihres Alters der weitere Schulweg zur Grundschule K. nicht zuzumuten ist, tragen sie ebenfalls keine unzumutbare Härte vor. Zwar kann sich auch aus der zeitlichen Länge eines Schulweges eine unzumutbare Härte im Sinne von § 63 Abs. 3 Satz 4 NSchG ergeben. Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Verpflichtung des Trägers der Schülerbeförderung, die Schülerinnen und Schüler des Primarbereichs unter zumutbaren Bindungen zur Schule zu befördern (§ 114 Abs. 1 Satz 1 NSchG), kann die Entfernung und Erreichbarkeit der zuständigen Schule aber nur dann eine Bedeutung bei der Auslegung des § 63 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 NSchG gewinnen, wenn sich ein in zeitlicher Hinsicht zumutbarer Schulweg auch durch die Möglichkeiten der Schülerbeförderung (z.B. Individualbeförderung) nicht herstellen lässt. Die Antragstellerinnen haben zum einen nicht glaubhaft gemacht, dass die Länge des Schulweges von ihrer Wohnung zur Grundschule K., den sie zu Fuß zurücklegen müssen, weil offenbar die für ein Einsetzen der Schülerbeförderung erforderliche Mindestentfernung von 2000 m nicht erreicht wird, sie wegen ihrer Behinderung körperlich überfordert. Zum anderen hätten sie, wenn dieses der Fall wäre, aus § 114 Abs. 1 Satz 1 NSchG gegen die Region Hannover als Trägerin der Schülerbeförderung einen Anspruch auf Beförderung zu Grundschule K. oder Erstattung der durch eine privat organisierte Beförderung entstandenen Aufwendungen. Denn aus § 114 Abs. 2 Satz 2 NSchG folgt, dass die Festsetzung von Mindestentfernungen auch den durch Behinderungen bedingten Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit von Schulkindern Rechnung tragen müssen.

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Schließlich haben die Antragstellerinnen auch nicht glaubhaft gemacht, dass sie wegen ihrer Behinderung in der Grundschule K. zumutbar nicht beschult werden können. Zwar sind die Antragstellerinnen durch ihre Innenohrschwerhörigkeit bedingt auf eine Lernumgebung angewiesen, in der die Lautstärke der Grundgeräusche ihrer Umgebung möglichst reduziert werden sollte, wobei es dahingestellt bleiben kann, in welchem Umfang die ihnen verordneten Hörgeräte darauf eingestellt sind, das Grundrauschen und sonstige Umweltgeräusche zu unterdrücken. Jedenfalls ist den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen nicht zu entnehmen, dass und warum gerade die Grundschule L. straße besser geeignet sein sollte, in diesem Sinne eine "ruhige" Lernumgebung herzustellen als die Grundschule K., auch wenn die Grundschule L. straße in Bescheinigungen ausdrücklich genannt wird. Allein die Tatsache, dass die Grundschule L. straße im 1. Jahrgang zweizügig eingerichtet ist, während die Grundschule K. vierzügig betrieben wird, lässt noch keinen sicheren Rückschluss auf die Geräuschlage während des Unterrichts im Klassenraum zu. Zwar spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass es in einer – zahlenmäßig – größeren Grundschule im Schulalltag lauter ist als in einer kleineren. Sicher ist diese Annahme aber nicht. Insoweit kann es für die Beurteilung der Arbeitsruhe neben der Gesamtgröße der Schülerschaft entscheidend auch auf andere Umstände ankommen, nämlich auf die Größe, Ausdehnung, Beschaffenheit und Lage des Schulgebäudes sowie seiner Klassen- und Fachräume. Dasselbe gilt für die Geräuschsituation, die im Unterricht der von den Antragstellerinnen zu besuchenden Klasse selbst entsteht. Abgesehen davon, dass nach den Feststellungen der Antragsgegnerin die zukünftige 1. Klasse der Antragstellerinnen in der Grundschule K. weniger Schüler haben wird als eine der beiden 1. Klassen der Grundschule L. straße , haben die Antragstellerinnen auch dazu nicht glaubhaft gemacht, dass die Lautstärke der Grundgeräusche im Unterricht einer Grundschulklasse der L. straße niedriger sein wird als diejenige im Unterricht der zuständigen Grundschule K.. Entsprechende Prognosen dürften auch ohne genaue Kenntnis des Unterrichtsraumes, der Zusammensetzung der Klassenschülerschaft und der Beobachtung der Unterrichtssituation nicht anzustellen sein. Die Annahme, die Antragstellerinnen würden insoweit in der Grundschule L. straße eine bessere Arbeitsruhe vorfinden, bleibt danach hypothetisch.

 


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