Urteil vom Verwaltungsgericht Hannover (9. Kammer) - 9 A 161/04
Tenor
Die Bescheide der Stadt (B.) vom 09.05.2003 und 23.7.2003 und der Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 30.12.2003 werden aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, den Klägern für den Zeitraum vom 09.05.2003 bis 30.12.2003 Sozialhilfe, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes zu gewähren.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung der Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.
Tatbestand
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Die Kläger begehren die Verpflichtung des Beklagten zur Gewährung von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Bestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes für den Zeitraum vom 09.05.2003 (Antragstellung) bis zum 30.12.2003 (Datum des Widerspruchsbescheides). Sie wenden sich mit der Klage dagegen, dass der Beklagte die Gewährung der Sozialleistung mit der Begründung abgelehnt hat, die Klägerin zu 1., die wegen der Geburt des Klägers zu 3. im streitgegenständlichen Zeitraum Elternzeit (Erziehungsurlaub) genommen und Erziehungsgeld bezogen hat, sei in der Lage und verpflichtet, ihre Elternzeit abzubrechen und den Lebensunterhalt der Familie durch die vorzeitige Wiederaufnahme ihrer Erwerbstätigkeit zu decken.
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Die Kläger zu 1. und 2. sind die verheirateten Eltern des am (C.)geborenen Klägers zu 3.. Der Kläger zu 2. ist ohne Arbeit und hat nach dem unstreitigen Vortrag der Beteiligten keinen Anspruch auf finanzielle Leistungen der Bundesagentur für Arbeit. Bis zur Geburt des Klägers zu 3. deckte die Klägerin zu 1. mit ihrem Einkommen aus einer Vollzeitbeschäftigung in einem Gewerbebetrieb in Minden den Lebensunterhalt der Familie. Nach der Geburt des Klägers zu 3. und dem Ablauf der Mutterschutzfrist wurde der Klägerin zu 1. auf ihren Antrag in der Zeit vom 12.03.2003 bis zum 11.03.2006 Elternzeit (Erziehungsurlaub) bewilligt. Als Erziehungsgeldberechtigte erhielt die Klägerin zu 1. im streitgegenständlichen Zeitraum Erziehungsgeld in Höhe von monatlich 307,00 Euro..
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Am 09.05.2003 wandten sich die Kläger an die im Namen und im Auftrag des Beklagten handelnde Stadt (B.) und begehrten die Gewährung von Sozialhilfe, laufender Hilfe zum Lebensunterhalt. Noch am selben Tag teilte ihnen das Sozialamt mündlich mit, dass die Gewährung von Sozialhilfe nicht in Betracht komme. Gegen den mündlichen Bescheid erhoben die Kläger am 09.05.2003 Widerspruch. Mit weiterem Bescheid vom 23.07.2003 lehnte die Stadt (B.) die Gewährung der begehrten Sozialhilfe schriftlich ab.
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Den auch dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte gemeinsam mit Widerspruch vom 09.05.2003 durch Widerspruchsbescheid vom 30.12.2003 zurück. Die Widersprüche seien nicht begründet. Sozialhilfe erhalte derjenige nicht, der sich selbst helfen könne oder der die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhalte. Da die Klägerin zu 1. einen festen Arbeitsplatz habe und daraus ein Einkommen erzielen könne, mit dem sie den Bedarf der gesamten Familie decken könne, hätten die Kläger die Möglichkeit, sich selbst zu helfen, indem die Klägerin zu 1. ihre Arbeit wieder aufnehme. Die Klägerin zu 1. sei zur Wiederaufnahme der Arbeit auch verpflichtet. Die Möglichkeit sich selbst zu helfen sei den Klägern auch zumutbar. Ein wichtiger Grund, der Wiederaufnahme der Arbeit entgegenstehen könnte, bestehe nicht. Der Einwand der Klägerin zu 1, dass sie ihren Sohn stille und es ihr deshalb nicht zuzumuten sei, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, sei kein wichtiger Grund. Gerade um Mütter zu entlasten, sei es heute durchaus üblich, die Muttermilch auf Vorrat abzupumpen und damit auch dem anderen Partner die Möglichkeit einzuräumen, das Kind zu versorgen. Außerdem bestehe die Möglichkeit, die Ernährung des Kindes nach Ablauf der Mutterschutzfristen auf handelsübliche Flaschennahrung umzustellen. Unter Umständen wäre es der Klägerin zu 1. auch möglich, die Arbeit nur in Teilzeit auszuüben. Dadurch könne sie zum Einen ihre Pflicht zum Einsatz ihrer Arbeitskraft bzw. zur Deckung des Lebensunterhaltes der Familie nachkommen und zum Anderen an der gewünschten Versorgung und Erziehung des Kindes teilhaben. Zu berücksichtigen sei zudem, dass auch das Bundeserziehungsgeldgesetz die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit des Erziehungsgeldberechtigten im Umfang von bis zu 30 Stunden wöchentlich vorsehe, ohne dass der Anspruch auf das Erziehungsgeld entfalle.
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Die Kläger haben am 07.01.2004 Klage erhoben.
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Zur Begründung haben sie sich im Wesentlichen auf ihr Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug genommen. Vertiefend haben sie vorgetragen, dass sich die Klägerin zu 1. nach der Geburt ihres Sohnes dazu entscheiden habe, ihr Kind zu stillen, weil das Stillen ihrer Auffassung nach für die Gesundheit und Entwicklung des Kindes besser sei. Ein ständiger Transport des Kindes zum Stillen vom Wohnort in (B.) zur Arbeitsstelle nach Minden und ein Abpumpen der Milch störten die Entwicklung des Kindes erheblich mehr als sie zu fördern. Außerdem stünde den Klägern für den Transport des Säuglings kein Pkw zur Verfügung. Dem Kläger zu 2., der erst vor kurzem nach Deutschland übergesiedelt sei, sei es nicht möglich gewesen, den Erziehungsurlaub zu nehmen, da er anderenfalls an der Sprachförderungsmaßnahme, in der er sich befinde, nicht hätte teilnehmen können. Dies hätte sich auch auf seine Chancen am Arbeitsmarkt nachteilig auswirken können. Hätte der Klägers zu 2. den Erziehungsurlaub genommen, wäre er für drei Jahre gehindert gewesen, seine Chancen als beabsichtigter Haupternährer der Familie am Arbeitsmarkt wahrzunehmen. Zudem beherrsche die Klägerin zu 1. im Gegensatz zu dem Kläger zu 2. die deutsche Sprache einwandfrei. Im Interesse einer Integration des Kindes sei es notwendig, das Kind von Anfang an mit der deutschen Sprache aufwachsen zu lassen. Letztlich sei der Kläger zu 2. auch nicht in der Lage, ein Kleinkind allein zu versorgen und zu erziehen.
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Die Kläger beantragen,
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die Bescheide der Stadt (D.) vom 09.05.2003 und 23.07.2003 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 30.12.2003 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Klägern für den Zeitraum ab 09.05.2003 bis 30.12.2003 Sozialhilfe, laufende Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte verweist zunächst auf die Ausführungen der angefochtenen Bescheide und des Widerspruchsbescheids. Er ist zudem der Auffassung, dass das Verhalten der Klägerin zu 1. rechtsmissbräuchlich sei, weil die Klägerin ihre Erwerbstätigkeit vollständig aufgegeben und zugleich Erziehungsgeld beantragt habe, obwohl ihr bekannt gewesen sei, dass die Familie dadurch mittellos und sozialhilfebedürftig werden würden. Damit laufe das Verhalten der Klägerin zu 1. und des Klägers zu 2. faktisch auf einen gemeinsamen Erziehungsurlaub hinaus, der nach der gesetzlichen Begründung zu § 8 Abs. 1 BErzGG nicht zu einer zusätzlichen Belastung der Sozialhilfe führen dürfe. Wenn die Klägerin zu 1. ihre Arbeit nach Ablauf der Mutterschutzfrist wieder aufgenommen hätte, hätte sie ihren Sohn jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt selbst Stillen können und dies sei ausreichend. Im Hinblick auf die gravierenden Auswirkungen, die die Erwerbslosigkeit der Klägerin zu 1. auf den Lebensunterhalt - völlige Mittellosigkeit - der Familie habe, könne die Entscheidung der Klägerin zu 1., ihr Kind selbst stillen und aufziehen zu wollen, nicht berücksichtigt werden. Aufgrund des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens könnten sich die Kläger nicht mit Erfolg auf die Regelung des § 8 Abs. 1 S. 3 BErzGG berufen. Die Regelung des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 BSHG) und die Pflicht zum Einsatz der Arbeitskraft ( § 18 Abs. 1 BSHG) fänden weiterhin Anwendung mit der Folge, dass der Anspruch auf die Gewährung von Sozialhilfe ausscheide.
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Unter dem 18.09.2003 hatten die Kläger bereits im Verfahren 9 B 3997/03 um vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Beschluss vom 29.10.2003 hatte der Einzelrichter den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Klägern für die Zeit vom 18.09.2003 bis 30.11.2003 vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - Sozialhilfe, laufende Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt zu gewähren.
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Nach Anhörung der Beteiligten hat die Kammer den Rechtsstreit mit Beschluss vom 16.02.2004 auf die Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte zu diesem Verfahren, den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten sowie den Inhalt der Gerichtsakte zu dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren 9 B 3997/03 Bezug genommen, deren Inhalte Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
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Der Rechtsstreit wird durch die Einzelrichterin entschieden, nachdem die Kammer den Rechtsstreit, nach Anhörung der Beteiligten, zur Entscheidung auf die Einzelrichterin übertragen hat (§ 6 Abs. 1 VwGO).
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Die Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 2. Halbsatz VwGO) ist zulässig und in der Sache begründet.
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Der Anspruch auf Hilfegewährung - hier die Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Bestimmungen des BSHG - kann insoweit in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, als der Träger der öffentlichen Sozialhilfe den Hilfefall geregelt hat. Das ist regelmäßig der Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung, hier der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (vgl. auch BVerwGE 25, 307 [308]; 39, 261 [264]). Die Beschränkung der gerichtlichen Überprüfung beruht darauf, dass es sich bei der Bewilligung von Sozialhilfe um ein zeitabschnittsweise Hilfegewährung handelt, deren Voraussetzungen vom Träger der Sozialhilfe stets neu zu prüfen sind. Für die gerichtliche Überprüfung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides maßgeblich.
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Davon ausgehend steht den Klägern im streitgegenständlichen Zeitraum (Zeitpunkt ab Bekannt werden des Hilfebedarfs am 09.05.2003 bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides am 30.12.2003) gegenüber dem Beklagten gemäß §§ 11 Abs. Abs. 1, 12 BSHG ein Anspruch auf die Gewährung von Sozialhilfe, laufender Hilfe zum Lebensunterhalt zu.
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Nach § 11 Abs. 1 S. 1 BSHG ist Hilfe zum Lebensunterhalt dem zu gewähren, der seinen notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Bei nicht getrennt lebenden Ehegatten sind das Einkommen und Vermögen beider Ehegatten zu berücksichtigen. Der notwendige Lebensunterhalt umfasst gemäß § 12 BSHG besonders Ernährung, Unterkunft, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Heizung und persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens. Zu den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens gehören in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Umwelt und eine Teilnahme am kulturellen Leben. Bei Kindern und Jugendlichen umfasst der notwendige Lebensunterhalt auch den besonderen, vor allem den durch ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen bedingten Bedarf.
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Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum nicht über eigene Mittel, vor allem Einkommen und Vermögen verfügten, um ihren notwendigen Lebensunterhalt unabhängig von Sozialhilfe zu decken und dass ihnen daher grundsätzlich ein Anspruch auf die Gewährung laufender Hilfe zum Lebensunterhalt zusteht. Die Beteiligten streiten allein darüber, ob dem Anspruch der Kläger der in § 2 Abs. 1 BSHG geregelte Nachrang der Sozialhilfe und die Pflicht der Klägerin zum Einsatz ihrer Arbeitskraft (§ 18 Abs. 1 BSHG) entgegenstehen.
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Dem Anspruch der Kläger steht der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe (§ 2 BSHG) und die Regelung des § 18 Abs. 1 BSHG nicht entgegen. Im streitgegenständlichen Zeitraum war die Klägerin zu 1. nicht vorrangig verpflichtet, den Lebensunterhalt der Kläger durch eine Wiederaufnahme ihrer Erwerbstätigkeit zu decken.
- 22
Zwar erhält nach § 2 Abs. 1 BSHG derjenige keine Sozialhilfe der sich selbst helfen kann oder der die erforderliche Hilfe von anderen, besonders von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Der Nachranggrundsatz ist indes keine verfassungsrechtlich gebotene Norm, sondern lediglich eine Rechtsanwendungsregel, die bei der Gesetzesauslegung zu beachten ist. Zudem hat der Nachranggrundsatz nicht nur eine negative Seite, die Verweisung auf eine mögliche Selbsthilfe, sondern auch eine positive Seite, die Verpflichtung zur Fremdhilfe durch den Träger der Sozialhilfe, soweit die Selbsthilfe versagt oder nach dem Gesetz unzumutbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.09.1971 - BVerwG V C 110.70 -, FEVS 21, 121 ff (128)). Der Gesetz- und Verordnungsgeber ist nicht gehindert, die Rangfolge öffentlich-rechtlicher Leistungen anders zu regeln und den Nachrangcharakter der Sozialhilfe zu durchbrechen (vgl. BVerwGE, 20, 194 [198]), soweit das Nachrangprinzip der Sozialhilfe dadurch nicht insgesamt in Frage gestellt wird (vgl. Schellhorn, Bundessozialhilfegesetz, Kommentar,16. Auflage 2002, § 2 Rn. 32; Brühl in Bundessozialhilfegesetz, Lehr- und Praxiskommentar, 5. Auflage 1998, § 2 Rn. 1, 3).
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So liegt es hier.
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Der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe findet im vorliegenden Fall keine Anwendung, weil er durch die spezialgesetzliche Regelung des § 8 Abs. 1 Satz 4 BErzGG durchbrochen wird.
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Das Gesetz zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit (Bundeserziehungsgeldgesetz - BErzGG) in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung vom 07.12.2001 (BGBl I. Seite 3359 ff) bestimmt in § 8 Abs. 1 Satz 3 und 4:
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„Bei gleichzeitiger Zahlung von Erziehungsgeld und vergleichbaren Leistungen der Länder sowie von Sozialhilfe ist § 15b des Bundessozialhilfegesetzes auf den Berechtigten nicht anwendbar. Im Übrigen gilt für die Dauer der Elternzeit, in der dem Berechtigten kein Erziehungsgeld gezahlt wird, der Nachrang der Sozialhilfe und insbesondere auch § 18 Abs. 1 des Bundessozialhilfegesetzes.“
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Aus einer Auslegung der Regelung, insbesondere aus dem Umkehrschluss der Regelung des § 8 Abs. 1 Satz 4 BErzGG ergibt sich, dass der Nachranggrundsatz und § 18 Abs. 1 BSHG für die Dauer der Elternzeit, in der dem Berechtigten Erziehungsgeld gezahlt wird, keine Anwendung finden (vgl. ebenso Nds. Oberverwaltungsgericht, Urt. vom 21.08.2003 - 4 ME 192/03 -, FEVS 55, Seite 176 ff (180)). Für die Dauer der Elternzeit, in der dem/der Berechtigten Erziehungsgeld gezahlt wird, ist der/die Erziehungsgeldberechtigte nicht vorrangig verpflichtet, seine/ihre Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einzusetzen.
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Damit war die Klägerin zu 1., die im streitgegenständlichen Zeitraum als Berechtigte Erziehungsgeld erhalten hat, nicht verpflichtet ihre Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise wiederaufzunehmen um den Lebensunterhalt der Familie durch ihre Einkommen selbst zu decken.
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Aus dem Wortlaut der der Regelung des § 8 Abs. 1 Satz 4 BErzGG ergibt sich allerdings, dass die Regelung nur für die Dauer des Zahlung des Kindergeldes und nur für den Elternteil gilt, der Erziehungsgeld bezieht.
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In Übereinstimmung damit wird auch in der amtlichen Begründung zu Nummer 8 (§ 8 - Andere Sozialleistungen) des Entwurfs des Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes vom 07.06.2000 (BT Drs. 14/3553, Seite 1 ff. (19 f.)) ausgeführt:
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„Nach der geltenden Regelung darf das Erziehungsgeld auf die Sozialhilfe nicht angerechnet werden. Ausgeschlossen ist auch § 15b des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG), wonach Hilfe zum Lebensunterhalt bei einer vorübergehenden Notlage als Darlehen gewährt werden kann. Diese Ausnahme (der Ausschluss des § 15b BSHG) gilt nach dem insoweit ergänzten Absatz 1 Satz 2 nur für den Elternteil, der Erziehungsgeld bezieht. Der neue Satz 3 erster Halbsatz verdeutlichet, dass die wichtigsten Grundsätze der Sozialhilfe (ihr Nachrang, Pflicht zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft zur Vermeidung von Hilfebedürftigkeit für sich und die unterhaltsberechtigten Angehörigen und auch der Darlehensgrundsatz des § 15b BSHG) fortbestehen, soweit es um eine eventuelle Sozialhilfe für den anderen Elternteil oder um Zeiten des Erziehungsurlaubs geht, in denen die Eltern kein Erziehungsgeld des Bundes oder eines Landes erhalten. Die Möglichkeit eines gemeinsamen Erziehungsurlaubs der Eltern darf nicht zu einer zusätzlichen Belastung für die Sozialhilfe führen.“
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Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand des Beklagten, das Verhalten der Klägerin zu 1. sei rechtsmissbräuchlich, mit der Folge, dass sie sich auf die Ausnahmeregelung des § 8 Abs. 1 BErzGG nicht berufen könnten. Mit seinem Vortrag erhebt der Beklagte in der Sache die Einwendung der unzulässigen Rechtsausübung.
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Die auf dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) beruhende Einwendung der unzulässigen Rechtsausübung bewirkt, dass die Ausübung materieller Ansprüche und die Ausübung verfahrensrechtlicher Befugnisse den inhaltlichen Grenzen des im allgemeinen Rechtsverkehr geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben unterliegt. Eine gegen Treu und Glauben verstoßende „Rechtsausübung oder Ausnutzung einer Rechtslage ist als Rechtsüberschreitung missbräuchlich und unzulässig. Ein Rechtsmissbrauch liegt regelmäßig dann vor, wenn die Ausübung eines individuellen Rechtes als treuwidrig und unzulässig angesehen wird oder wenn die sich aus der Inanspruchnahme einer Rechtsnorm ergebende Rechtsfolge zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führt (vgl. zum Ganzen z.B. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch 46. Auflage, § 242 Anm. 38 ff. mwN).
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Ausgehend davon und unter Berücksichtigung des festgestellten Sachverhalts, lässt sich weder dem Verhalten der Klägerin zu 1. noch dem Verhalten des Klägers zu 2. ein Rechtsmissbrauch entnehmen. Die von den Klägern aufgeführten Gründe für die Inanspruchnahme der Elternzeit durch die Klägerin zu 1. sind nicht missbräuchlich. Vielmehr steht der Wunsch der Klägerin zu 1., den Kläger zu 3. selbst zu betreuen und zu versorgen und dafür Erziehungsurlaub zu nehmen, - jedenfalls für den Zeitraum der Gewährung des Erziehungsgeldes - im Einklang mit der Zielsetzung des Bundeserziehungsgeldgesetz, so wie sie sich aus der amtlichen Begründung des Gesetzes (vgl. BT Drs. 14/3553, Seiten 1 und 11) ergibt. Danach wollte der Gesetzgeber mit dem im Jahr 1986 in Kraft getretenen Bundeserziehungsgeldgesetz gezielt die Erziehungsleistung von Familien in der frühkindlichen Phase honorieren (Erziehungsgeld) und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern (Erziehungsurlaub).
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In Übereinstimmung damit ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung bereits unter Geltung des Bundeserziehungsgeldgesetzes a.F. mehrfach entschieden worden, dass ein Hilfe Suchender nicht darauf verwiesen werden kann, seinen Erziehungsurlaub abzubrechen, um den Lebensunterhalt der Familie durch eigenes Arbeitseinkommen sicher zu stellen (vg. Ns. OVG, Urteil vom 23.09.1998 - 4 L 5693/96 -, FEVS 49, 181ff. (183); Sächs.OVG, Urteil vom 18.12.1997 - 2 S 614/95 - FEVS 48, 488 ff (491 ff.);OVG NW, Beschluss vom 10.04.2000, FEVS 52, 77 ff).
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Auch nach der Neuregelung des § 8 Abs. 1 BErzGG durch das Gesetz zum Erziehungsgeld und zur Elternzeit (Bundeserziehungsgeldgesetz - BErzGG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 07.12.2001 (BGBl I. Seite 3359 ff), die der Regelung des § 8 Abs. 2 des Bundeserziehungsgeldgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 09.02.2004 (BGBl I Seite 206 ff.) entspricht, kann ein Hilfesuchender, der Erziehungsgeld nach den Regelungen des Bundeserziehungsgeldgesetzes bezieht, für die Dauer des Bezugs des Erziehungsgeldes, nicht darauf verwiesen werden, seinen Erziehungsurlaub abzubrechen, um den Lebensunterhalt der Familie durch Arbeitseinkommen sicherzustellen (vgl. auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 21.08.2003, - 4 ME 192/03 - FEVS. 55, 176 ff ). Denn mit der Regelung des § 8 Abs. 1 des Bundeserziehungsgeldgesetzes vom 07.12.2001 (BGBl I. Seite 3359 ff) hat der Gesetzgeber eine Bestimmung geschaffen, mit der er dem Schutz von Ehe und Familie, insbesondere dem Wunsch des erwerbstätigen Elternteils zur Erziehung und Betreuung des Kindes in der ersten Phase (für die Dauer des Bezugs des Erziehungsgeldes) gegenüber dem Nachrang der Sozialhilfe und der Regelung des § 18 Abs. 1 BSHG den Vorrang eingeräumt hat.
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Von diesem Recht hat die Klägerin zu 1. in zulässiger Weise Gebrauch gemacht.
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Soweit der Beklagte der Auffassung ist, das Verhalten der Kläger sei rechtsmissbräuchlich, weil die Kläger zu 1. und 2. die Erziehung und Betreuung des Klägers zu 3. letztlich gemeinsam wahrnähmen, denn der Kläger zu 2. sei nicht erwerbstätig, steht der Behauptung des Beklagten zunächst der ausdrückliche Vortrag der Kläger entgegen. Danach erfolgte die Betreuung und Versorgung des Klägers zu 3. im maßgeblichen Zeitraum nicht gemeinsam, sondern durch die Klägerin zu 1., weil sich der Kläger zu 2. aus sachlichen und persönlichen Gründen nicht in der Lage sah, den Kläger zu 3. zu versorgen und zu betreuen.
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Dessen ungeachtet scheidet die Annahme eines Rechtsmissbrauchs in diesem Zusammenhang auch deshalb aus, weil der Gesetzgeber die vorliegende Fallkonstellation im Rahmen der Regelung des § 8 Abs. 2 BErzGG hinreichend berücksichtigt hat. Die Regelung des § 8 Abs. 2 BErzGG begünstigt - wie bereits unter Bezugnahme auf die gesetzliche Begründung (BT Drs. 14/3553 Seite 19 f.) dargelegt - nur den Erziehungsgeldberechtigten, d.h. die Klägerin zu 1. Für die Zeit nach Ablauf des Bezugs des Erziehungsgeldes und für den nicht erziehungsgeldberechtigten „anderen Elternteil“, bleibt es bei der Anwendbarkeit der wesentlichen Grundsätzen der Sozialhilfe, wie dem Nachranggrundsatz (§ 2 BSHG) und der Pflicht zum Einsatz der Arbeitskraft (§ 18 BSHG). Hierauf unter Anwendung der Regelungen des Bundessozialhilfegesetzes angemessen zu reagieren, um eine unangemessene Mehrbelastung der aus Steuermitteln finanzierten Sozialhilfe zu vermeiden, ist die Aufgabe des Sozialhilfeträgers.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 S. 2 VwGO gerichtskostenfrei.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 709, 711 S. 1, 2 ZPO.
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