Urteil vom Verwaltungsgericht Hannover (10. Kammer) - 10 A 8489/05
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 25.11.2005 wird aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BaföG).
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Die Klägerin studiert seit dem Wintersemester 2005/2006 Wirtschaftswissenschaften an der Universität H.. Sie besitzt wie ihre Eltern die türkische Staatsangehörigkeit. Die Klägerin hält sich ebenso wie ihre Mutter seit Januar 1996, ihr Vater bereits seit dem 31.08.1991 in der Bundesrepublik Deutschland auf.
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Für den Vater der Klägerin beliefen sich die Bruttoeinkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Jahr 1999 auf 26.505,00 DM, im Jahr 2000 auf 31.360,00 DM, im Jahr 2001 auf 22.738,00 DM, im Jahr 2002 auf 10.785,00 EUR, im Jahr 2003 auf 7.140,00 EUR, im Jahr 2004 auf 11.397,75 EUR. Außerdem bezog er Arbeitslosengeld im Jahr 2002 in Höhe von 1.542,15 DM, im Jahr 2003 in Höhe von 1.392,42 EUR und im Jahr 2004 in Höhe von 3.430,48 EUR. Im Jahr 2005 war der Vater der Klägerin arbeitslos und bezog ausschließlich Arbeitslosengeld.
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In den Jahren 1999 und 2001 bis 2004 wurde bei dem Vater der Klägerin keine Lohnsteuer erhoben. Für das Jahr 2000 wurde ein Steuerabzug vom Lohn in Höhe von 782,00 DM vorgenommen. Dieser Betrag wurde mit Einkommensteuerbescheid vom 15.02.2001 in voller Höhe erstattet. Während der Erwerbstätigkeit wurden Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie zur Kranken- und Pflegeversicherung abgeführt.
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Am 25.10.2005 stellte die Klägerin bei der Beklagten für den Bewilligungszeitraum 10/05 bis 09/06 einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Mit Bescheid vom 25.11.2005 lehnte das Studentenwerk H. den Antrag mit der Begründung ab, die persönlichen Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 BAföG seien nicht erfüllt, da das Einkommen der Eltern in den Jahren 1999 bis 2004 so gering gewesen sei, dass keine Steuern abgeführt worden seien.
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Die Klägerin hat am 06.12.2005 Klage erhoben.
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Sie ist der Auffassung, die Voraussetzungen des § 8 Abs. 2 Nr. 2 BAföG seien erfüllt. Auf die Höhe des durch die Erwerbstätigkeit erzielten Verdienstes und die Steuerpflichtigkeit komme es nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht an. Im Übrigen sei auch die Zeit der Arbeitslosigkeit ihres Vaters als Erwerbstätigkeit anzurechnen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 25.11.2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid mit den Gründen aus dem Ablehnungsbescheid und ergänzt, dass die Ausbildungsförderung gem. § 8 Abs. 2 BAföG nur dann zu gewähren sei, wenn der Antragsteller bzw. seine Eltern auch finanziell zur Ermöglichung derartiger Leistungen beitragen würden, indem sie Steuern und Abgaben aus einer Erwerbstätigkeit zugunsten der öffentlichen Kassen leisteten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Ihr Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Verpflichtungsklage führt zum Erfolg. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung von Ausbildungsförderung, da sie die persönlichen Voraussetzungen des § 8 BAföG erfüllt.
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Zwar liegen die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 BAföG offenkundig nicht vor, da die Klägerin als türkische Staatsangehörige nicht unter den in § 8 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 9 BAföG genannten Personenkreis fällt.
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Gem. § 8 Abs. 2 BAföG wird Ausbildungsförderung aber auch anderen Ausländern gewährt, wenn in ihrer Person oder der ihrer Eltern die besonderen Voraussetzungen des Absatzes 2 erfüllt sind. Eine Förderung der Klägerin nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 BAföG scheidet dabei zwar aus, da diese Vorschrift u.a. voraussetzt, dass der Antragsteller vor Beginn des förderungsfähigen Teils des Ausbildungsabschnitts rechtmäßig erwerbstätig gewesen ist. Das ist bei der Klägerin nicht der Fall. Nach § 8 Abs. 2 Nr. 2 BAföG genügt es jedoch, wenn sich ein Elternteil des Antragstellers während eines Zeitraums von sechs Jahren vor dem Beginn der Ausbildung insgesamt drei Jahre im Bundesgebiet aufgehalten hat und rechtmäßig erwerbstätig gewesen ist. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
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Der Vater der Klägerin hält sich seit 1991 und damit im maßgeblichen Zeitraum länger als drei Jahre in der Bundesrepublik Deutschland auf. Er war in diesem Zeitraum auch drei Jahre im Sinne der Vorschrift rechtmäßig erwerbstätig.
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Der Begriff „Erwerbstätigkeit“ wird vom Bundesausbildungsförderungsgesetz an mehreren Stellen (vgl. § 8 Abs. 2, § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 und § 18 b Abs. 5 Satz 1) mit jeweils unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird (BVerwG, Beschl. v. 24.04.1996, - 5 B 1.96 -, Buchholz 436.36 § 18 b BAföG Nr. 14). Wie der Begriff der Erwerbstätigkeit i.S.d. § 8 Abs. 2 BAföG zu verstehen ist, lässt sich nur mit den Mitteln der systematischen, teleologischen und historischen Auslegung klären. Der Wortlaut allein lässt keinerlei Rückschlüsse darauf zu, dass der Gesetzgeber, wie von der Beklagten behauptet, eine Einschränkung der Tätigkeiten beabsichtigt hat, die eine ausnahmsweise Förderung rechtfertigen sollen. Maßgeblich sind daher der Bedeutungszusammenhang, in dem der Begriff gebraucht wird, sowie der Sinn und Zweck der Regelung, zu der er gehört.
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Nach der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 8 Abs. 2 BAföG (BT-Drs. VI/ 1975, 25) soll mit dieser Vorschrift der Tatsache Rechnung getragen werden, „dass die Arbeit dieses Personenkreises nicht unwesentlich dazu beiträgt, dass ihr (der Bundesrepublik) Sozialinvestitionen wie die Ausbildungsförderung möglich sind“. Im Bericht des federführenden Bundestagsausschusses (BT-Drs. VI/ 2352, 5 f.) heißt es ferner: „Der ausländische Auszubildende soll auch durch eigenen rechtmäßigen Aufenthalt und rechtmäßige Erwerbstätigkeit im Geltungsbereich des Gesetzes die Voraussetzung für die individuelle Förderung während einer Ausbildung schaffen können“. Nach dem gesetzgeberischen Anliegen genügt daher nicht jede auf Verdienst ausgerichtete Betätigung, sondern es soll nur derjenige nicht von der Förderung ausgeschlossen sein, der selbst mit eigener Arbeit oder der Arbeit seiner Eltern nicht unwesentlich dazu beiträgt, dass Sozialinvestitionen wie die Ausbildungsförderung finanziert werden können (BVerwG, Urt. v. 14.05.1992, - 5 C 27.89 -, NVwZ 1992, 1204, m.w.N.). Diese Voraussetzungen werden durch den Vater der Klägerin erfüllt.
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Zwar reicht es für die Annahme einer Erwerbstätigkeit nicht aus, dass der Vater der Klägerin in der Zeit seiner Erwerbstätigkeit Sozialabgaben gezahlt hat. Denn bei Beiträgen zur Rentenversicherung, zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie zur Arbeitslosenversicherung handelt es sich um Zahlungsverpflichtungen für die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer konkreten Gegenleistung. Bei Eintritt des Rentenalters kann der Betroffene einen Rentenanspruch geltend machen, im Falle der Arbeitslosigkeit einen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Entsprechendes gilt für die Kranken- und Pflegeversicherung. Die Erhebung dieser Beiträge ist zweckgebunden und steht für die Finanzierung der Ausbildungsförderung daher nicht zur Verfügung. Die hierfür erforderlichen Mittel werden aus Steuermitteln erbracht, resultieren also aus Zahlungsverpflichtungen, die ohne konkrete Gegenleistung der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs dienen.
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Eine Erwerbstätigkeit i.S.d. § 8 Abs. 2 Nr. 2 BaföG liegt jedenfalls dann vor, wenn es sich wie im Falle des Vaters der Klägerin um eine regelmäßige, auf Dauer angelegte Tätigkeit handelt, welche die Arbeitskraft voll in Anspruch nimmt, der Einkommensteuerpflicht unterliegt und den Betroffenen in die Lage versetzt, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu bestreiten, wobei die beitragsfinanzierten Leistungen der Arbeitslosenversicherung außer Betracht bleiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 04.06.1981, - 5 C 30.79 -, FamRZ 1981, 1114). Dabei kommt es nicht darauf an, ob im Rahmen dieser Tätigkeit tatsächlich Lohnsteuer abgeführt worden ist oder die zunächst abgeführte Lohnsteuer nach Abgabe der Einkommensteuererklärung zurückerstattet worden ist. Denn zum einen hängt die Höhe der Steuerlast von verschiedenen Faktoren ab, auf die der Betroffene nur in eingeschränktem Maße Einfluss hat. Zum anderen würden anderenfalls gerade die Personen durch den Ausschluss ihrer Kinder vom Anspruch auf Ausbildungsförderung belastet, die aufgrund ihrer familiären Situation von der Steuerpflicht entlastet werden sollen. Das ist insbesondere bei Personen mit erhöhten Werbungskosten ebenso der Fall wie bei Eltern, denen Kinderfreibeträge und Freibeträge für den Betreuungs-, Erziehungs- und Ausbildungsbedarf von Kindern gewährt werden, soweit die einkommensteuerliche Auswirkung dieser Freibeträge größer als der Anspruch auf Kindergeld ist. Reduzieren sich die steuerpflichtigen Einkünfte der Eltern der Klägerin aufgrund steuerrechtlicher Vergünstigungen so weit, dass eine Einkommensteuerpflicht nicht besteht, darf ihnen dies im Hinblick auf die Förderung ihrer Kinder nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz daher nicht zum Nachteil gereichen.
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Maßgeblich ist daher nicht, ob tatsächlich Lohnsteuer gezahlt worden ist, sondern ob - wie in diesem Fall - eine Steuerpflichtigkeit grundsätzlich besteht und der Erwerbstätige in der Lage ist, sich und seine Familie selbst zu ernähren, ohne auf öffentliche Mittel angewiesen zu sein. Denn in diesem Fall werden aus den durch eigene Arbeit erworbenen Mitteln zumindest indirekte Steuern, wie Mehrwertsteuer, Ökosteuer und weitere Verbrauchssteuern abgeführt, die ebenfalls vom Bruttonationaleinkommen erfasst sind, aus dem nach der Intention des Gesetzgebers die Sozialinvestition Ausbildungsförderung geleistet werden kann.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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Die Berufung gegen das Urteil war gemäß § 124a Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat.
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