Beschluss vom Verwaltungsgericht Hannover (3. Kammer) - 3 B 4331/07
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Klage gegen den Kostenbeitragsbescheid des Antragsgegners vom 29.03.2007 - 3 A 2458/07 - aufschiebende Wirkung hat.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg.
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Dabei legt das Gericht den seinem Wortlaut nach auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gerichteten Antrag gemäß § 88 VwGO dahin aus, dass die Antragstellerin die gerichtliche Feststellung begehrt, dass ihre Klage gegen den Kostenbeitragsbescheid des Antragsgegners aufschiebende Wirkung hat.
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Das Gericht geht nämlich nicht davon aus, dass die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bereits kraft Gesetzes entfällt und deshalb erst auf Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO angeordnet werden muss. Die Heranziehung zu einem Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII stellt keine Anforderung von öffentlichen Abgaben dar.
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§ 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO enthält keine Definition des Begriffs der öffentlichen Abgaben. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich aber, dass die aufschiebende Wirkung mit Rücksicht auf die Steuergesetzgebung entfallen sollte. Daraus folgert das Bundesverwaltungsgericht (Urt. vom 17.12.1992 - 4 C 30/90 -, NVwZ 1993, 1112 ff.), dass nicht jeder Verwaltungsakt, der eine Geldleistung zum Gegenstand hat, sofort vollziehbar sein soll, sondern nur solche Zahlungspflichten, die von der Zweckrichtung her Gemeinsamkeiten mit Steuern aufweisen. Tragender Grund im Steuerrecht für die sofortige Vollziehbarkeit sei, dass Steuern zur Deckung des Finanzbedarfs erhoben werden, der durch die Wahrnehmung der zugewiesenen öffentlichen Aufgaben entsteht. Die Ausnahme vom Grundsatz der aufschiebenden Wirkung solle dazu beitragen, die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Hand zu gewährleisten. Sie solle Störungen bei der Beschaffung der Mittel vorbeugen und sei deshalb Voraussetzung für eine geordnete Haushaltsführung. Deshalb sollen nach der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts in die Sofortvollzugsregelung alle Abgaben einbezogen werden, durch die - Steuern vergleichbar - die Befriedigung des öffentlichen Finanzbedarfs sichergestellt wird.
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Diese sogenannte Finanzierungsfunktion ist - entgegen der Auffassung des Nds. Oberverwaltungsgerichts in seinem Beschluss vom 10.11.2006 (- 4 ME 188/06 -) - beim Kostenbeitrag nach den §§ 91 ff. SGB VIII nicht gegeben. Finanzierungsfunktion haben nur solche Geldleistungen, auf deren Eingang sich die Behörde verlassen kann, weil sie normativ festgelegt sind, und die deshalb auch Bestandteil der Haushaltsplanung sein können (vgl. dazu Schoch in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Losebl. Stand Feb. 2007, § 80 Rn. 113 m.w.N.; Schmidt in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 80 Rn. 19, wohl auch Funke-Kaiser in: Bader u.a., VwGO, 4. Aufl. 2007, § 80 Rn. 24f; für eine enge Auslegung auch Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 80 Rn. 56; unklar dagegen Puttler in: Sodan/Zieckow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 80 Rn. 55). Denn Zweck der Regelung ist es (nur), den Hoheitsträgern die Möglichkeit einer geordneten Haushaltsführung zu sichern, nicht aber, ihnen eine zeitnahe Realisierung jedweder ihnen im Zuge der Aufgabenerfüllung erwachsenden Geldforderung zu ermöglichen.
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Eine derart auf die Sicherung einer geordneten Haushaltsführung des betroffenen Hoheitsträgers bezogene Finanzierungsfunktion kommt dem Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII nicht zu.
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Im Gesetz selbst ist eine derartige Zweckbestimmung - anders als z.B. in dem vom Bundesverwaltungsgericht in seiner benannten Entscheidung zu beurteilenden § 154 Abs. 1 Satz 1 BauGB - nicht ausdrücklich normiert. Sie kann den §§ 91 ff SGB VIII auch nicht im Wege der Auslegung entnommen werden.
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Nach allgemeiner Auffassung dient die Erhebung von Kostenbeiträgen nach §§ 91 ff SGB VIII dazu, den Nachrang der Jugendhilfe sicherzustellen. Insofern handelt es sich zunächst um eine maßgeblich von allgemeinen sozialrechtlichen Billigkeitserwägungen geleitete Entscheidung des Gesetzgebers, wonach Sozialleistungen grundsätzlich nur nach Maßgabe der finanziellen Bedürftigkeit gewährt werden sollen (ebenso Hess. VGH, Beschl. vom 05.09.2006, - 10 TG 1915/06 -, NJW 2007, 241 ff.). Dabei hat sich der Gesetzgeber in systematischer Hinsicht dazu entschlossen, zunächst eine von der Bedürftigkeit unabhängige, umfassende Leistungspflicht des Jugendhilfeträgers zu begründen und das Prinzip der Leistungsgewährung nach Maßgabe der Bedürftigkeit über eine nachgelagerte Kostenbeitragserhebung zu verwirklichen. Dieser systematische Ansatz findet sich nicht nur im Jugendhilferecht in den §§ 91 ff SGB VIII, sondern in identischer Form auch in anderen sozialrechtlichen Vorschriften, so zum Beispiel in den §§ 27 Abs. 3 und 92 Abs. 1 SGB XII (früher § 43 BSHG), hinsichtlich derer, soweit ersichtlich, bisher niemand die Anwendbarkeit des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Erwägung gezogen hat.
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Ein wesentliches Merkmal der von dieser Regelungssystematik erfassten (Sozial-) Leistungen ist, dass sie unabhängig von der Frage, ob im Einzelfall eine Kostenbeteiligung realisiert werden kann, gewährt werden müssen, weil die Begünstigten einen von ihrer Kostenbeteiligung unabhängigen gesetzlichen Anspruch auf die Leistung haben, mit dem letztlich verfassungsrechtlich verankerte Gewährleistungen konkretisiert werden. Für das Jugendhilferecht ist das in § 91 Abs. 5 SGB VIII sogar ausdrücklich gesetzlich verankert worden. Die Maßgeblichkeit sozialrechtlicher Billigkeitserwägungen für die Beitragserhebung wird in der konkreten normativen Ausgestaltung zudem dadurch verdeutlicht, dass die Kostenbeteiligung im Umfang typischerweise und so auch im Rahmen der §§ 91 ff SGB VIII von der individuellen Leistungsfähigkeit des Beitragspflichtigen abhängig ist.
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Ob und in welcher Höhe bei der Erfüllung der gesetzlich zugewiesenen Aufgabe der Jugendhilfe über die Erhebung von Kostenbeiträgen eine teilweise Refinanzierung erfolgen kann, ist demgegenüber für den Jugendhilfeträger angesichts der Ungewissheit über Quantität und Qualität der eintretenden Bedarfe sowie die individuelle Leistungsfähigkeit potenziell Leistungsverpflichteter weder im Rahmen der Haushaltsplanung absehbar, noch spielen diese Fragen für die Aufgabenerfüllung als solche überhaupt eine Rolle. Die öffentliche Hand hat angesichts der im Einzelnen ausdifferenzierten gesetzlichen Verpflichtung zur Leistungsgewährung keinerlei politischen oder sonstigen planerischen Spielraum, ob und/oder wann und in welcher Form im Einzelfall sie die ihr obliegende Aufgabe, Jugendhilfe zu gewähren, erfüllen und wie viele Finanzmittel sie dafür aufwenden will. Jugendhilfe ist nicht nach Kassenlage zu gewähren sondern nach dem eintretenden Bedarf, der sich jederzeit qualitativ und quantitativ ändern kann. Angesichts dessen fehlt es dem Aufkommen aus der nachgelagerten Kostenbeitragserhebung gemäß § 91 ff SGB VIII an der erforderlichen Stetigkeit und Verlässlichkeit, um es als Baustein einer geordneten Haushaltsführung ansehen zu können.
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Im fehlenden Gestaltungsspielraum des Hoheitsträgers bei der Aufgabenerfüllung liegt zudem ein weiterer wesentlicher Unterschied zu der Fallgestaltung, über die das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 17.12.1992 zu befinden hatte. Dort ging es um eine Ausgleichsabgabe nach § 154 Abs. 1 BauGB. Die Frage, ob und wann ein Sanierungsgebiet förmlich festgelegt und damit die Grundlage für die Heranziehung zu einem sanierungsrechtlichen Ausgleichsbetrag geschaffen wird, unterliegt aber, ebenso wie im Übrigen die Errichtung oder der Ausbau von Erschließungsanlagen, einem weitgefassten politisch-planerischen Ermessen der Gemeinde, in das auch Überlegungen zur (Re-) Finanzierung der Maßnahme einbezogen werden können. Ein zusätzlicher wesentlicher Unterschied besteht darin, dass in diesen Fällen - anders als im Sozialrecht - Vorausleistungen auf die zukünftige Beitragsschuld erhoben werden können.
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Aus den oben genannten Gründen fallen Erstattungsansprüche, die konkrete einmalige Finanzeinbußen der öffentlichen Hand ausgleichen sollen, nicht unter den Begriff der Abgabe im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (vgl. dazu Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl. 1998, Rn. 679). Der Kostenbeitrag nach § 91 ff. SGB VIII, der, wie bereits ausgeführt, den Nachrang der Jugendhilfe wiederherstellen soll, stellt aber eine Form des Erstattungsanspruchs für gewährte Jugendhilfeleistungen dar (so OVG Meckl. - Vorp., Beschl. vom 03.03.1999 - 1 M 4/99 -, NVwZ-RR 2000, S. 60 zur materiell im Wesentlichen identischen Rechtslage nach den §§ 91 KJHG).
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Der Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII kann auch deshalb keine Finanzierungsfunktion im oben dargestellten Sinne erfüllen, weil er seit Inkrafttreten der Kostenbeitragsverordnung zwar nach einer festgelegten Tabelle erhoben wird, nach wie vor jedoch in großem Umfang individuelle Umstände zu berücksichtigen sind. So kann beispielsweise nach § 92 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII von der Heranziehung ganz oder teilweise abgesehen werden und nach § 93 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII können weitere Belastungen zu berücksichtigen sein, z.B. auch Schuldverpflichtungen ( so auch OVG Meckl. - Vorp, a.a.O., S. 63; Hess. VGH, a.a.O.; Stähr in: Hauck, SGB VIII, Stand 2006, § 92 Rn. 16; Kunkel, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, Anhang 5, Rn. 58).
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Mit Blick auf die für die Anwendbarkeit des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wesentliche Finanzierungsfunktion unterscheidet die Maßgeblichkeit der individuellen finanziellen Leistungsfähigkeit des Beitragspflichtigen den Kostenbeitrag nach §§ 91 ff SGB VIII auch entscheidend von den vom Nds. Oberverwaltungsgericht zum Vergleich herangezogenen Beitragspflichten im Erschließungs- und Straßenausbaurecht. Zwar sind auch dort für die konkrete Bemessung des auf die einzelnen Grundstücke entfallenden Beitrages durchaus umfangreiche Ermittlungen und Berechnungen anzustellen. Die dafür maßgeblichen Parameter sind allerdings in aller Regel bereits vor Beginn der Maßnahme im Wesentlichen durch Gesetz oder Satzung einerseits und Lage, Beschaffenheit sowie Art und Maß der baulichen Nutzung des jeweiligen Grundstücks andererseits endgültig festgelegt. Auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Beitragspflichtigen kommt es dagegen insoweit überhaupt nicht an. Für die in der vorliegenden rechtlichen Fragestellung entscheidende haushaltsplanerische Kalkulierbarkeit einer Refinanzierung spielen diese Faktoren zudem keine wesentliche Rolle. Vielmehr kommt es dafür maßgeblich darauf an, über die straßenrechtliche Einordnung des Anlagentyps den Kostenanteil der Anlieger einerseits und denjenigen der öffentlichen Hand andererseits prozentual zu bestimmen. Nach dieser Einordnung steht das aus der Kostenbeitragserhebung für eine Refinanzierung der Erschließungs- bzw. Ausbaumaßnahme zu gewinnende Finanzvolumen im für eine Haushaltskalkulation ausreichenden Maße fest, ohne dass es insoweit auf Besonderheiten hinsichtlich einzelner Grundstücke oder gar die finanzielle Leistungsfähigkeit einzelner Beitragspflichtiger ankäme. Soweit etwaige Besonderheiten eine Beitragserhebung für einzelne Grundstücke hindern sollte, fällt dieses grundsätzlich auch nicht der öffentlichen Hand zur Last sondern den übrigen Beitragspflichtigen, auf die diese Kostenanteile mit verteilt werden.
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Die Auffassung, der Kostenbeitrag nach §§ 91 ff SGB VIII unterfalle dem § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, kann auch nicht auf die Gesetzesbegründung zu dem am 01.10.2005 in Kraft getretenen Gesetz zur Erweiterung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) gestützt werden. Dort heißt es zwar (vgl. BT- Drucksache 15/3676, Seite 41) zu § 92 Abs. 2 der Neufassung, die Vorschrift bestimme, dass die Heranziehung zu einem Kostenbeitrag künftig ausschließlich öffentlich-rechtlich durch Kostenbescheid erfolge und dass die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Leistungsbescheid über § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ausgeschlossen sei. Dies ist aber - wie bereits ausgeführt - nicht der Fall, weil der Kostenbeitrag keine Abgabe im Sinne dieser Vorschrift ist. Aus der Fehleinschätzung des Gesetzgebers kann sich der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nicht herleiten lassen. Maßgebend ist nicht die Vorstellung des Gesetzgebers, sondern das, was er objektiv geregelt hat. Da er den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung nicht in § 92 SGB VIII aufgenommen hat, bleibt es bei der Grundregel des § 80 Abs. 1 VwGO (a.A. Wiesner, SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 92 Rn. 11; Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII/KJHG, 3. Aufl. 2006, § 92 Rn. 6; VG Schleswig, Beschl. vom 12.06.2006 - 15 B 24/06 -).
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Der so ausgelegte Antrag hat auch Erfolg. Die Klage mit dem Az. 3 A 2458/07 hat, wie bereits ausgeführt, nach § 80 Abs. 1 VwGO kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung.
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Da der Antragsgegner die aufschiebende Wirkung bestreitet, stellt das Gericht fest, dass der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 80 Rn. 181 m.w.N.).
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Da der Antragsgegner im Verfahren unterlegen ist, hat er gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des nach § 188 Satz 1 VwGO gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
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