Urteil vom Verwaltungsgericht Hannover (5. Kammer) - 5 A 3386/07
Tatbestand
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Die Kläger, Mitglieder der Kammerversammlung der Beigeladenen, wenden sich gegen eine aufsichtsbehördliche Maßnahme des Beklagten.
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Die Beigeladene erließ 1963 eine Alterssicherungsordnung, nach deren Maßgabe ein Altersversorgungswerk als Pflichteinrichtung errichtet wurde. Das Altersversorgungswerk gewährt seinen Pflichtmitgliedern Alters- und Berufsunfähigkeitsrente sowie im Todesfalle den Hinterbliebenen Witwen- und Waisenrenten. In der im Laufe der Zeit mehrfach geänderten Alterssicherungsordnung wurden unter anderem die Art und der Umfang der Versorgungsleistungen geregelt. Ergänzend zu nach der Alterssicherungsordnung feststehenden "Grundrenten" wurden den Mitgliedern bzw. Hinterbliebenen seit 1977 aus Anlagegewinnen sog. Rentenanpassungen gewährt, über deren Höhe jährlich neu entschieden wurde. Nachdem im Jahre 2003 eine im Vergleich zum Vorjahr um 10% geminderte Rentenanpassung gewährt worden war, erfolgte im Jahre 2004 überhaupt keine Rentenanpassung mehr. Zahlreiche Zahnärzte klagten gegen diese "Rentenkürzung". Mit zwei Urteilen vom 20.07.2006 änderte das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die vor-instanzlichen klagabweisenden Urteile, die sich auf die "Rentenkürzungen" 2003 (8 LC 12/05) und 2004 (8 LC 11/05) beziehen, ab und verpflichtete das Altersversorgungswerk der Beigeladenen, über die jeweiligen Rentenanpassungen neu zu entscheiden. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, dass die Regelung hinsichtlich der Rentenanpassung (§§ 12c i.V.m. §§ 12a Abs. 1 und 29 Abs. 2 ASO) zumindest ab dem Jahr 2003 unwirksam sei, weil sie mit höherrangigem Recht - nämlich § 12 des Kammergesetzes für die Heilberufe (HKG) - nicht im Einklang stehe. Bei dem vom Altersversorgungswerk der Beklagten praktizierten Finanzierungssystem handele es sich nicht um eine "bewährtes System" zur Sicherstellung der Versorgungsaufgaben nach § 12 HKG. Es werde nämlich dem Regelungsauftrag nicht gerecht, den Rentnern lebenslang eine ihren Grundbedarf sichernde und den Kaufkraftverlust ausgleichende Altersrente zu zahlen. Die Kammerversammlung der Zahnärzte werde daher umgehend das Finanzierungssystem gemäß § 12c ASO i.V.m. §§ 12a Abs. 1 und 29 Abs. 2 ASO ändern müssen und habe im Anschluss daran erneut über die Rentenanpassungsbegehren zu entscheiden.
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Im Hinblick auf die Unwirksamkeit der Satzungsbestimmungen wurde von der Kammerversammlung der Beigeladenen am 04.11.2006 zunächst eine Übergangsregelung hinsichtlich der Rentenanpassungen ab 2007 beschlossen.
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Zur Umsetzung des Gerichtsurteils wurde eine Neufassung der Satzung über die Versorgungseinrichtung entworfen, welche nach Einschätzung der mit deren versicherungsmathematischer Prüfung beauftragten E. AG den Urteilsanforderungen entspricht. Bei Abstimmungen über den Satzungsentwurf in den Kammerversammlungen der Beigeladenen am 17.03.2007 und 11.05.2007 konnte zwar jeweils eine Mehrheit, nicht jedoch die gemäß § 32 Abs. 2 ASO erforderliche 3/4-Mehrheit der Mitglieder der Kammerversammlung erzielt werden, so dass es zu keiner Beschlussfassung über den Satzungsentwurf kam.
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Nach vorheriger Anhörung ordnete daraufhin der Beklagte mit Verfügung vom 31.05.2007 gemäß § 87 Abs. 3 Satz 1 HKG an, den - lediglich redaktionell geänderten - Satzungsentwurf als Satzung der Beigeladenen bis zum 06.07.2007 zu beschließen und die beschlossene Satzung unverzüglich bekanntzumachen. Im Falle des Nichtbefolgens der Anordnung werde die Beschlussfassung im Wege der Ersatzvornahme gemäß § 87 Abs. 3 Satz 2 HKG durchgesetzt. Die Verfügung richtet sich an die Beigeladene, welcher sie am selben Tage bekannt gegeben wurde.
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In der Kammerversammlung der Beigeladenen vom 29.06.2007 wurde die erforderliche 3/4-Mehrheit bei der Abstimmung über den Satzungsentwurf wiederum verfehlt. Der Antrag, den Präsidenten der Kammer zu beauftragen, gegen die aufsichtsbehördliche Anordnung vom 31.05.2007 Klage zu erheben, wurde ebenfalls abgelehnt.
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Unter dem 23.07.2007 ordnete der Beklagte die sofortige Vollziehung der aufsichtsrechtlichen Maßnahme vom 31.05.2007 an und nahm am 24.07.2007 den innerhalb der gesetzten Frist bis zum 06.07.2007 nicht gefassten Beschluss der "Satzung für die Alters-, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenensicherung der Zahnärztekammer Niedersachsen" ersatzweise auf Kosten der Beigeladenen vor. Die Anordnung des Sofortvollzuges und die Ersatzvornahme wurden der Beigeladenen am 24.07.2007 bekannt gegeben.
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Die Beigeladene legte gegen die aufsichtsbehördlichen Maßnahmen kein Rechtsmittel ein. Die neue Satzung wurde im Mitteilungsblatt der Beigeladenen F. bekannt gemacht. Die Satzungsbestimmungen sind gemäß § 37 Abs. 1 der Satzung rückwirkend zum 01.01.2007 in Kraft getreten.
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Am 02.07.2007 haben die Kläger Klage erhoben. Sie machen geltend, durch die Anordnung des Beklagten vom 31.05.2007 in eigenen Rechten verletzt zu sein, weil sie als Mitglieder der Kammerversammlung in ihrer Willensbildung nicht mehr frei seien, sondern dem Willen der Aufsichtsbehörde unterworfen würden. Die Anordnung sei rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für einen derart erheblichen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht der Kammer und in die freie und eigenverantwortliche Willensbildung und Entscheidungsfindung der Mitglieder des obersten Organs der Beigeladenen zum Zeitpunkt des Erlasses der Anordnung nicht vorgelegen hätten.
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Die Kläger beantragen,
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die Anordnung des Beklagten vom 31.05.2007 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Kläger seien nicht klagebefugt. Sie nähmen ein Klagerecht für sich in Anspruch, welches nur der Beigeladenen zustehe und dessen Ausübung von der Kammerversammlung der Beigeladenen ausdrücklich abgelehnt worden sei. Es sei auch keine Rechtsposition erkennbar, auf deren Grundlage ein Einschreiten der Beklagten gegenüber der Beigeladenen verlangt werden könne. In der Sache verteidigt der Beklagte den angefochtenen Bescheid. Dieser sei rechtmäßig und greife nicht in die Rechtsstellung der Kläger ein. Jedes Kammermitglied sei in der Lage gewesen, sein Mandat frei auszuüben, ohne dass ihm hierdurch Nachteile erwachsen würden.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
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die Klage abzuweisen.
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Es fehle den Klägern am Rechtsschutzbedürfnis, weil die aufsichtsrechtliche Maßnahme sich allein an die Beigeladene richte. Außerdem könnten sie nicht geltend machen, in eigenen Rechten verletzt zu sein. Aus den in der angefochtenen Verfügung und den vom Beklagten genannten Gründen sei die Klage im Übrigen auch unbegründet.
Entscheidungsgründe
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Die Klage hat keinen Erfolg.
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Sie ist zwar als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO statthaft. Denn bei der Anordnung des Beklagten vom 31.05.2007 handelt es sich um eine rechtsaufsichtliche Maßnahme, die als Verwaltungsakt ergangen ist. Der Verwaltungsakt hat sich auch nicht durch die Ersatzvornahme erledigt. Vollstreckungsmaßnahmen, die sich rückgängig machen lassen, stellen keinen Erledigungsgrund im Sinne des § 43 Abs. 2 VwVfG dar, der im gerichtlichen Verfahren dazu führt, dass das Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Grundverwaltungsaktes entfällt (BVerwG, B. vom 17.11.1998 - 4 B 100/98 - <juris>). Vorliegend ist die Satzungsänderung nicht irreversibel erfolgt. Darauf, dass gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der aufsichtsbehördlichen Anordnung und die Ersatzvornahme, bei der es sich um einen Verwaltungsakt gehandelt hat, kein Rechtsmittel eingelegt worden ist, kommt es insoweit nicht an. Eine erfolgreiche Klage gegen die Ersatzvornahme hätte zwar unmittelbar zur Aufhebung der Satzungsänderung geführt (so bei der Fallgestaltung im Urteil des BVerwG v. 25.04.1972 - I C 3.70 - <juris>), was vorliegend nicht möglich ist. Würde jedoch die Anordnung aufgehoben, die Voraussetzung für die im Wege der Ersatzvornahme durchgeführte Satzungsänderung gewesen ist, könnte die Satzungsänderung durch den Beklagten wieder rückgängig gemacht werden. Mithin macht eine Aufhebung der Anordnung vom 31.05.2007 weiterhin Sinn.
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Die Kläger sind jedoch nicht klagebefugt. Eine Anfechtungsklage ist gemäß § 42 Abs. 2 VwGO nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Vorliegend können die Kläger sich nicht auf die Verletzung eigener Rechte berufen. Sie machen geltend, als Mitglieder der Kammerversammlung durch die Anordnung in ihrer Willensbildung nicht mehr frei, sondern gleichsam einem "imperativen Mandat" unterworfen zu werden. Außerdem streichen sie heraus, dass die Voraussetzungen für die Aufsichtsmaßnahme nicht vorgelegen hätten. Hiermit haben sie jedoch keine Tatsachen vorgebracht, die es als möglich erscheinen lassen, dass sie durch die aufsichtsbehördliche Anordnung in ihren Rechten verletzt sind.
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Gemäß § 12 Abs. 1 HKG können die Kammern durch Satzung Versorgungseinrichtungen zur Sicherung der Kammermitglieder im Alter und bei Berufsunfähigkeit sowie zur Sicherung der Hinterbliebenen schaffen. Zuständiges Organ für Satzungsbeschlüsse ist die Kammerversammlung (§ 25 HKG). Eine Satzungsänderung erfordert gemäß § 9 Abs. 2 der Kammersatzung der Beigeladenen eine Mehrheit von 2/3 der gewählten Mitglieder der Kammerversammlung. Gemäß § 32 Abs. 2 der - bis zum Inkrafttreten der geänderten Satzung geltenden - Alterssicherungsordnung der Beigeladenen bzw. gemäß § 36 Abs. 2 jener geänderten Satzung ist für Änderungen, die eine Änderung der Leistungen des Altersversorgungswerkes bewirken, eine Dreiviertelmehrheit der Mitglieder der Kammerversammlung erforderlich.
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Die Anordnung, den Satzungsentwurf als Satzung zu beschließen, ist nicht an die Mitglieder der Kammerversammlung, sondern an die Kammer gerichtet. Sie ist gestützt auf § 87 Abs. 3 Satz 1 HKG. Danach kann, wenn eine Kammer die ihr obliegenden Pflichten und Aufgaben nicht erfüllt, die Aufsichtsbehörde anordnen, dass die Kammer innerhalb einer bestimmten Frist das Erforderliche veranlasst. Derartige rechtsaufsichtliche Maßnahmen greifen in das Selbstbestimmungsrecht der Kammer ein, weshalb diese, nicht aber die einzelnen Kammerorgane oder - wie hier - einzelne Mitglieder als Organteile dagegen klagebefugt sind. Objekt der Staatsaufsicht ist nämlich allein die Kammer. Rechtsbeziehungen zwischen der Aufsichtsbehörde und den einzelnen Kammermitgliedern bestehen nicht (Heusch in Kluth, Handbuch des Kammerrechts, S. 504 Rdnr. 15, S. 527 Rdnr. 81). Die Rechtsträgerschaft der Kammer wird nicht dadurch auf die Kammerversammlung bzw. deren einzelne Mitglieder verlagert, dass der Kammerversammlung die Zuständigkeit für Satzungsbeschlüsse zugewiesen ist und das einzelne Mitglied der Kammerversammlung über die Satzungen abstimmt. Die der Kammerversammlung und dem einzelnen Mitglied zugewiesenen Kompetenzen sind keine Selbstverwaltungsrechte, sondern bloße Wahrnehmungszuständigkeiten, also organisatorische Berechtigungen, die die Befugnis verleihen, Rechte und Pflichten der Kammer, die als juristische Person nur durch ihre Organe handeln kann, wahrzunehmen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 09.06.1992 - 15 A 1565/90 - <juris> zu einer hochschulinternen Aufsichtsmaßnahme).
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Entgegen der Auffassung der Kläger ist vorliegend auch nicht deshalb eine andere Einschätzung geboten, weil sie durch die Aufsichtsmaßnahme zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten gezwungen wären. Da die Aufsichtsmaßnahme an die Kammer gerichtet ist, werden hierdurch die einzelnen Kammerversammlungsmitglieder nicht zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten verpflichtet. Die Maßnahme stellt lediglich einen Eingriff in das Selbstverwaltungsrecht der Kammer, nicht aber in das Recht auf Abstimmung des einzelnen Mitglieds dar, welches in seinem Abstimmungsverhalten frei bleibt und sich auch nicht rechtswidrig verhält, wenn es in einer Weise abstimmt, welche der aufsichtsbehördlichen Anordnung zuwiderläuft. Zwar laufen notwendigerweise die Mitwirkungsrechte der einzelnen Kammerversammlungsmitglieder leer, wenn durch eine aufsichtsbehördliche Anordnung die Entscheidungskompetenz der Kammerversammlung übergangen wird. In einer solchen Situation hat die Kammerversammlung die Möglichkeit, einen Mehrheitsbeschluss zu fassen, mit welchem die Kammer beauftragt wird, gegen die aufsichtsbehördliche Maßnahme zu klagen. Eine Rechtsschutzmöglichkeit für die Minderheit bzw. ein einzelnes Kammerversammlungsmitglied besteht nicht. Die Regelungen der VwGO orientieren sich am Individualrechtsschutz und kennen keine dem § 64 Abs. 1 BVerfGG entsprechende Vorschrift. Deshalb können einzelne Kammermitglieder nicht als Prozeßstandschafter der Kammer klagen (vgl. Wahl/Schütz in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, § 42 Abs. 2 Rdnr. 100). Es würde auch dem kammerinternen Kompetenzgefüge widersprechen, dem einzelnen Mitglied die Möglichkeit zu geben, die Kompetenzen der Kammerversammlung gegen deren mehrheitlich gebildeten Willen durchzusetzen.
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Da die Kläger in ihrem Abstimmungsverhalten frei geblieben sind, ist eine wehrfähige Innenrechtsposition durch die aufsichtsbehördliche Anordnung nicht betroffen worden. Insoweit ist die Fallgestaltung eine andere als diejenige, welche dem Urteil des OVG Münster vom 30.03.2004 - 15 A 2360/02 - <juris> zugrundegelegen hat. Dort wurden durch kommunalaufsichtsbehördliche Verfügung Ratsbeschlüsse aufgehoben, durch welche für jedes fraktionslose Mitglied das innerorganisatorische Recht begründet wurde, die Aufnahme eines Tagungsordnungspunktes zu beanspruchen bzw. einem Ratsmitglied ein Anspruch auf Zuwendungen gewährt und dieses zum beratenden Ausschlussmitglied bestellt. Jenes Ratsmitglied wurde als klagebefugt angesehen, weil durch die Aufhebung der Beschlüsse subjektive Rechte bzw. wehrfähige Innenrechtspositionen beseitigt worden seien. Anders als im Fall der OVG Münster betrifft die hier streitige aufsichtsbehördliche Anordnung nicht durch Beschluss für ein einzelnes Kammermitglied begründete Rechte, sondern es wird in das Selbstverwaltungsrecht der Kammer eingegriffen. Dieser Eingriff wirkt sich nur mittelbar auf die einzelnen Kammerversammlungsmitglieder aus, weil diese durch ihr Abstimmungsverhalten die von der Aufsichtsbehörde vorgegebene Satzungsänderung nicht verhindern können. Eine unmittelbare Betroffenheit wäre nur dann gegeben, wenn die Kläger zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten verpflichtet worden wären. Die Kompetenz des einzelnen Mitglieds bei der kammerinternen Willensbildung wird durch die Anordnung jedoch nicht berührt.
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