Urteil vom Verwaltungsgericht Hannover (2. Kammer) - 2 A 6108/08
Tatbestand
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Der im Jahr 1986 geborene Kläger ist moslemischer Kurde aus Syrien. Bereits in seinem Asylverfahren, das vor dem Bundesamt und dem erkennenden Gericht (im Urteil vom 06.05.2003 - 11 A 320/02 -) erfolglos blieb, hatte er vorgetragen, er habe die syrische Staatsangehörigkeit nicht besessen, sondern nur eine Bescheinigung des Dorfvorstehers.
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Der Kläger wurde in der Folgezeit von der Beklagten geduldet, am 24.07.2006 beantragte er erstmals die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung und eines Staatenlosenausweises. Der Kläger brachte dazu vor, sein Vater sei seinerzeit aus der Türkei geflohen, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Sein Vater sei halbseitig gelähmt, spreche nicht türkisch und lehne es ab, Eintragungen in türkischen Registern vornehmen zu lassen. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 23.09.2004 verweist darauf, dass der Großvater des Klägers A. ebenso wie sein Vater, der am 12.04.1931 geborene B. und dessen Geschwister in der Türkei registriert seien. Der Auszug aus dem Personenstandsregister weise den Vater des Klägers jedoch als ledig und als am 01.01.1960 verstorben aus. Für den Kläger sei es zumutbar, sich mit Hilfe seines Vaters in der Türkei nachregistrieren zu lassen.
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Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein und erhob anschließend Untätigkeitsklage. Diese Klage hat die Kammer in ihrem Urteil vom 19.03.2007 - 2 A 319/05 -, nachdem die Beklagte dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hatte, hinsichtlich des Staatenlosenausweises abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, wegen der unstreitigen Abstimmung von einem in der Türkei geborenen und lebenden Großvater und Vater, die dort auch registriert seien, habe der Kläger grundsätzlich einen Anspruch auf Anerkennung seiner türkischen Staatsangehörigkeit. Es sei zumutbar, dass der Vater des Klägers, der nach der standesamtlichen türkischen Eintragung dort als ledig und verstorben gelte, zunächst dieses standesamtliche Registrierung durch ein in der Türkei erwirktes Gerichtsurteil berichtigen und anschließend seine Eheschließung in der Türkei registrieren lasse. Danach komme die standesamtliche Eintragung des Klägers in Betracht. Der Kläger hat vergeblich versucht, die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil zu erstreiten (Beschl. des Nds.OVG v. 10.12.2007 - 2 LA 441/07 -).
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Am 25.05.2008 verstarb der Vater des Klägers. Unter dem 01.08.2008 wiederholte der Kläger seinen Antrag auf Erteilung des Reiseausweises für Staatenlose, hilfsweise für Ausländer. Die Beklagte fragte daraufhin beim Türkischen Generalkonsulat an, welche möglichen Möglichkeiten der Registerbereinigung nach dem Tod des Vaters für den Kläger noch bestehen. Ausweislich der Antwort vom 18.11.2008 kann die Registerberichtigung auch durch eine andere Person erfolgen, die sich mit einem Rechtsanwalt in der Türkei in Verbindung setzen sollte.
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Der Kläger hat am 10.12.2008 Untätigkeitsklage erhoben. Der Kläger bringt vor, er habe einen Vertrauensanwalt aus der Liste der Deutschen Botschaft in C. zweimal ergebnislos angeschrieben, auch das Generalkonsulat habe auf seine erneute Anfrage hin nicht reagiert. Daraufhin habe er sich an eine weitere Vertrauensanwältin in Idil gewandt. Ausweislich ihrer Auskunft sei bei einem Daueraufenthalt des Klägers außerhalb der Türkei eine Nachbeurkundung nicht möglich.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte zu verpflichten, ihm einen Reiseausweis für Staatenlose, hilfsweise eine Reiseausweis für Ausländer zu erteilen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen
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und erwidert: Der Kläger sei weiterhin selbst gehalten, aktiv nach Lösungsmöglichkeiten für sein Problem zu suchen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte im Verfahren 2 A 319/05 sowie auf die beigezogene Ausländerakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und hat mit ihrem Hauptantrag Erfolg. Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten ein Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises für Staatenlose zur Seite.
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Rechtsgrundlage für die Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose ist Art. 28 des Übereinkommens für Staatenlose - StlÜbK-. Nach dessen Satz 1 stellen die Vertragsstaaten, zu denen die Bundesrepublik Deutschland gehört unter bestimmten, hier nicht einschlägigen Vorbehalten, den Staatsangehörigen, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, Reiseausweise aus. Nach dessen Satz 2 können die Vertragsstaaten auch jedem anderen sich in ihrem Hoheitsgebiet befindlichen Staatenlosen einen solchen Reiseausweis ausstellen. Der Kläger hält sich im Sinne von Art. 28 Satz 1 StlÜbK rechtmäßig in Deutschland auf, weil ihm eine, wenn auch befristete, Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt worden ist. Eine Befristung ändert nichts an der Rechtmäßigkeit seines derzeitigen Aufenthaltes.
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Der Kläger hält sich auch in der Bundesrepublik Deutschland auf. Ein Aufenthalt setzt nach dem Wortlaut des Übereinkommens mehr voraus als die bloße Anwesenheit im Vertragsstaat, die Art. 28 Satz 2 StlÜbK ausreichen lässt. Für den danach gegebenen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensentscheidung ist es ausreichend, dass sich der Betroffene im Vertragsstaat "befindet". Dies kann auch dann bejaht werden, wenn er seinen rechtmäßigen Aufenthalt in einem dritten Staat hat, wie sich aus der Zuständigkeitsregelung in § 6 Abs. 1 und 3 des Anhangs zum Übereinkommen ergibt. Ein Aufenthalt im Sinne des Art. 28 Abs 1 StlÜbK ist nicht erst bei einer ständigen Niederlassung im Bundesgebiet gegeben. Eine solche Auslegung machte das Tatbestandsmerkmal der Rechtmäßigkeit überflüssig. Vorausgesetzt wird aber in Abgrenzung zum Sich-Befinden ein Verweilen im Vertragsstaat von nicht unerheblicher Dauer, das bereits zu einer Verfestigung geführt hat. Gerade bei nur befristet erteilten Aufenthaltstiteln kommt daher dem Erfordernis des Aufenthalts besondere Bedeutung zu.
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Der Kläger hält sich im genannten Sinne im Zuständigkeitsbereich der Beklagten auf. Er lebt seit nahezu neun Jahren ohne Unterbrechung in Deutschland und steht aufgrund einer ihm im Januar 2006 erteilten Beschäftigungserlaubnis seit diesem Zeitpunkt in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis als Frisör.
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Weitere Voraussetzungen für beide Alternativen des Art. 28 StlÜbK ist die Staatenlosigkeit des Klägers. Nach der Legaldefinition in Art. 1 Abs. 1 StlÜbK ist eine Person Staatenlos, die kein Staat aufgrund seines Rechts als Staatsangehörigen ansieht. Dabei muss die Staatenlosigkeit de jure und nicht nur de facto bestehen (BVerwG, Urt. v. 16.10.1990, BVerwGE 87, 11). Zu der Gruppen der de jure-Staatenlosen gehören Personen, die nach den rechtlichen Regelungen der in Betracht kommenden Staaten keine Staatsangehörigkeit besitzen. Die de facto-Staatenlosen sind demgegenüber solche Personen, die zwar formell noch eine Staatsangehörigkeit haben, deren Heimatstaat aber nicht bereit oder nicht in der Lage ist, ihnen die Rechte eines Staatsangehörigen zuzugestehen, insbesondere sie diplomatisch zu schützen. Der Nachweis der negativen Tatsache der de jure-Staatenlosigkeit obliegt grundsätzlich dem Betroffenen. Er muss die von ihm behauptete Staatenlosigkeit darlegen und beweisen. Dies gilt vor allem deshalb, weil die erforderlichen Informationen - etwa die detaillierte Darlegung der Abstammung und die Angaben zu den Vorfahren mit Geburtsdaten, - orten und Wohnorten - solche aus dem Lebensbereich des Antragstellers und seiner Herkunftsfamilie sind, die einer Ermittlung von Amtswegen weitgehend nicht zugänglich sind. Hinreichend nachgewiesen ist die Staatenlosigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass die Staaten, als deren Angehöriger der Betroffene überhaupt in Betracht kommt, ihn nicht als Staatenangehörigen ansehen. An diesem Nachweis dürfen aber aufgrund mitunter gegebener Beweisnot keine überspannten Anforderungen gestellt werden. Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist dem Kläger ein Reiseausweis für Staatenlose zu erteilen, weil zum einen das Nichtbestehen der syrischen Staatsangehörigkeit hinreichend nachgewiesen ist und hinsichtlich der ebenfalls in Betracht kommenden türkischen Staatsangehörigkeit nicht ersichtlich ist, welche Schritte der Kläger sinnvoller Weise noch zu deren Erlangung unternehmen könnte. Auch die Beklagte hat nicht dargelegt, welche erfolgversprechende Mitwirkungshandlungen der Kläger insoweit noch schuldet.
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Der Kläger besitzt die syrische Staatsangehörigkeit nicht. Er hat nicht nur in diesem und im voran gegangenen ausländerrechtlichen Verfahren, sondern bereits in seinem Asylverfahren vorgetragen, Makhtum zu sein und in Syrien nichts anderes als die Dorfvorsteherbescheinigung besessen zu haben. Dieser Vortrag ist inzwischen auch urkundlich belegt. Die für den Vater des Klägers anlässlich des Todes am 25.05.2008 vom Dorfvorsteher ausgestellte Sterbeurkunde weist aus, dass der Verstorbene in Syrien nicht registriert war. Der vereidigte Dolmetscher hat in der mündlichen Verhandlung Einblick in die syrische Urkunde genommen und festgestellt, dass die vom Kläger der Beklagten vorgelegte Urkunde hinsichtlich der Angaben zur Nationalität mit "ungeklärt" ungenau übersetzt sind. Nach den Angaben des Gerichtsdolmetschers heißt die wörtliche Übersetzung "nicht registriert", weil sich in der Spalte das arabische Wort für Makhtum findet. Damit steht fest, dass der Kläger, unabhängig vom Personenstatus seiner Mutter, nicht syrischer Staatsangehöriger sein kann.
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Da Vater wie Großvater des Klägers in der Türkei registriert waren, könnte der Kläger grundsätzlich seine dortige Registrierung erreichen. Ein solcher Weg geht nicht über den Erwerb der Staatsangehörigkeit nach Art. 11 des Türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 5901 vom 29.05.2009, sondern der Kläger müsste seine bestehende türkische Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des Art. 36 dieses Gesetzes nachweisen. Nach der gesetzlichen Regelung unterliegt der Nachweis keiner Form, bei Zweifeln an der Staatsangehörigkeit ist das Ministerium zu befragen. Eine Vermutung der türkischen Staatsangehörigkeit nach Maßgabe des Art. 36 Abs. 2 des Gesetzes streitet für den Kläger nicht, da er weder im Personalstandsregister der türkischen Republik eingetragen, noch einen Personalausweis, einen Pass oder ein Passersatzpapier besitzt.
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Im Grundsatz hat sich das Verfahren der Nachregistrierung durch das Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes in der Türkei nicht geändert. Deshalb hat die Kammer in ihrem Urteil vom 19.03.2007 im vorangegangenen Verfahren des Klägers es auch für zumutbar gehalten, dass der Vater des Klägers zunächst die standesamtlichen Registrierungen in der Türkei berichtigen lassen muss, die ihn als ledig und verstorben ausweisen. Nach einer anschließenden Registrierung der Eheschließung in der Türkei komme dann die standesamtliche Eintragung des Klägers in Betracht. Dieser Weg ist heute nach dem Tod des Vaters des Klägers nicht mehr gangbar. Zunächst hat es zwar keine Auswirkungen auf den Kläger, wenn sein Vater wegen der Nichtableistung seines Militärdienstes aus der Türkei ausgebürgert wurde. Dies folgt aus Art. 30 Abs. 2 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes und war inhaltsgleich schon im bis zum 11.06.2009 geltenden Staatsangehörigkeitsgesetz Nr. 403 geregelt. Die Kammer geht aber davon aus, dass eine realistische Aussicht auf Registrierung in der Türkei für den Kläger nicht besteht (im Ergebnis ebenso: Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien vom D..2006 an das VG E., das aber wohl irrig in einem Fall der Ausbürgerung nach Geburt des Kindes nur von einem innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Volljährigkeit auszuübenden Optionsrecht ausgeht). Maßgeblich für die gerichtliche Einschätzung, der Kläger werde bei türkischen Stellen nicht als türkischer Staatsangehöriger anerkannt, ist die hier bekannte Praxis angesichts des Umstandes, dass die Eltern des Klägers nicht in vom Staat anerkannter Weise verheiratet waren. Als nicht registrierte Ausländer konnte der Vater des Klägers in Syrien eine staatlich anerkannte Ehe nicht schließen, so dass auch der Kläger eine Heiratsurkunde seiner Eltern nicht beibringen kann. Eine solche ist aber nach bestehender Auskunftslage unentbehrlich für eine Nachregistrierung von Kindern. Ausweislich der Verbalnote der Türkischen Botschaft an das Auswärtige Amt vom 10.11.1997 liegt dann die Entscheidung beim Innenministerium (vgl. Art. 36 Abs. 3 des Gesetzes Nr.5901; Art. 39 des Gesetzes Nr.403), und zwar in einer "langwierigen Prozedur", deren Formalitäten "sich nur in der Türkei erledigen" lassen. In vergleichbaren Fällen bleiben dann auch sogar gerichtliche Anfragen (z. B. im Verfahren 10 A 7588/06) an die Türkische Botschaft seit vielen Monaten unbeantwortet.
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Die Auskunft des Türkischen Konsulats an das VG F. vom 24.04.2007, die die für eine Nachregistrierung notwendigen Unterlagen auflistet, stellt dafür Anforderungen, die regelmäßig nicht zu erfüllen sind und die zur Überzeugung der Kammer belegen, dass eine Nachregistrierung dieses Personenkreises offenbar nicht gewollt ist. Die Betroffenen müssen danach eine internationale Geburtsurkunde, Schulbescheinigungen für alle besuchten Schulklassen, eine Bescheinigung über die Staatsangehörigkeit der Eltern sowie eine Heiratsurkunde der Eltern vorlegen Zudem müssen die Eltern und zwei (sofern vorhanden) Geschwister unter Vorlage ihrer Ausweise bei der Antragstellung mit vorsprechen und zwei Zeugen im gleichen Alter wie die antragstellende Person mitbringen. Vor diesem Hintergrund sieht die Kammer - auch unter Auswertung des Urteils des Nds.OVG vom 26.02.2009 (11 LB 270/07) - keine Mitwirkungshandlung mehr, die Erfolg versprechend erscheint und zumutbar ist, die Staatsangehörigkeit des Klägers in der Türkei anerkennen zu lassen. Die entsprechenden Hinweise der Beklagten in ihrem Schriftsatz vom 26.04.2010 führen hingehen nicht weiter. Der Kläger kann gerade keinen Abstammungsausweis aus einem syrischen Ausländerregister erhalten. Das Ausstellen einer Sterbeurkunde bedeutet keinesfalls, dass auch eine Eheschließung des Vaters in Syrien registriert würde.
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Da nach alledem die Klage mit ihrem Hauptantrag Erfolg haben muss, hat die Beklagte die Verfahrenskosten gem. § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO.
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