Beschluss vom Verwaltungsgericht Hannover (10. Kammer) - 10 B 403/15
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin vom 23. Januar 2015 gegen die in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. Januar 2015 ausgesprochene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
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Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung ihrer Abschiebung nach Italien im Rahmen eines sog. Dublin-III-Verfahrens.
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Die 1951 geborene Antragstellerin ist nach eigenen Angaben Staatsangehörige der Demokratischen Republik Kongo. Sie reiste ebenfalls nach eigenen Angaben am 23. August 2014 aus der Demokratischen Republik Kongo aus und erreichte am 26. August 2014 das Bundesgebiet mit dem Flugzeug. Hier stellte sie am 1. September 2014 einen Asylantrag.
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Die Überprüfung der Fingerabdrücke der Antragstellerin im EURODAC-System ergab, dass der Antragstellerin durch die Behörden Italiens am 9. April 2014 ein Einreisevisum für den F. ausgestellt worden war, das vom 21. April 2014 bis 19. Mai 2014 gültig war. Das Bundesamt richtete daher unter dem 29. Oktober 2014 ein Übernahmeersuchen an Italien. Die italienischen Behörden haben auf dieses Ersuchen nicht reagiert.
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Mit Bescheid vom 13. Januar 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab und ordnete ihre Abschiebung nach Italien an. Dieser Bescheid wurde der Antragstellerin am 16. Januar 2015 zugestellt.
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Am 23. Januar 2015 hat die Antragstellerin Klage erhoben – 10 A 402/15 – und um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht.
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Zur Begründung macht die Antragstellerin geltend, dass ihr bei einer Zurückschiebung nach Italien aufgrund systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention drohe. Sie sei traumatisiert, weil im Februar 2014 ihr Ehegatte zuhause von Regierungssoldaten erstochen worden sei. Sie selbst sei sexuell missbraucht worden. Ihr Sohn sei verschwunden. Sie habe große Angst gehabt, allein weiter im Kongo zu leben. Sie sei verwirrt und leide an Demenz, massiven Schlafproblemen und sei überdies an Krebs erkrankt. Sie sei psychisch wie physisch an ihre Grenzen gelangt und nicht in der Lage, ihren Alltag allein zu bewältigen. In G. lebe ihre Tochter, auf deren Betreuung sie angewiesen sei.
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Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
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die aufschiebende Wirkung ihrer zum Aktenzeichen 10 A 402/15 erhobenen Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. Januar 2015 ausgesprochene Abschiebungsanordnung anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.
II.
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I. Der Antrag ist zulässig, insbesondere ist er gemäß § 34 a Abs. 2 AsylVfG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, soweit sich die Klage gegen die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides angeordnete Abschiebung nach Italien richtet.
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II. Der Antrag ist auch begründet. Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsandrohung überwiegt. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin, denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung der Antragstellerin nach Italien.
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Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidungen auf § 27 a und § 34 a AsylVfG. Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll.
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Es ist schon zweifelhaft, ob diese Voraussetzungen vorliegen. Da die Antragstellerin ihren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes nach dem 1. Januar 2014 gestellt haben, sind nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180 – Dublin III VO –) die Vorschriften dieser Verordnung anzuwenden. Nach Art. 12 Dublin III VO kommt eine Zuständigkeit Italiens in Betracht, weil die Antragstellerin im Besitz eines Einreisevisums für Italien war. Dieses Visum war allerdings kein (bei Einreise der Klägerin) gültiges Visum im Sinne von Art. 12 Abs. 2 Dublin III VO, weil es nur bis zum 19. Mai 2014 gültig war. Nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III VO begründen auch (nicht länger als sechs Monate) abgelaufene Visa, aufgrund deren der Antragsteller in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, die Zuständigkeit des ausstellenden Staates, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat. Die Anknüpfung an abgelaufene Visa setzt allerdings voraus, dass diese rechtliche notwendige Voraussetzung für die Einreise waren (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III VO, 2014, Art. 12 K23). Das war hier nicht der Fall, weil die Klägerin erst nach Ablauf des Visums und damit unabhängig von diesem in die Bundesrepublik eingereist ist. Angesichts dessen spricht Überwiegendes dafür, dass Italien nicht aufgrund von Art. 12 Abs. 4, Abs. 2 Dublin III VO zuständig geworden ist, sondern die originäre Zuständigkeit aufgrund von Art. 13 Abs. 1 Dublin III VO bei der Antragsgegnerin lag.
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Die Antragstellerin hat darüber hinaus schon in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt angegeben, dass sie von der Unterstützung ihrer in Deutschland lebenden Tochter abhängig sei. Insofern spricht nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung Überwiegendes für eine schon originäre Zuständigkeit der Antragsgegnerin aufgrund von Art. 16 Abs. 2, Abs. 1 Dublin III VO.
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Eine Zuständigkeit Italiens folgt hier allenfalls aus Art. 22 Abs. 7 Dublin III VO. Danach ist davon auszugehen, dass der ersuchte Mitgliedsstaat dem Aufnahmegesuch eines anderen Mitgliedsstaats stattgegeben hat, wenn er nicht binnen eines Monats auf das Aufnahmegesuch antwortet. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn ein an sich unzuständiger Staat nur dadurch zuständig wird, dass er die an sich rechtmäßige Ablehnung des Aufnahmegesuchs nicht rechtzeitig erklärt hat.
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Diese Folge aus dem Sanktionscharakter des Art. 22 Abs. 2 Dublin III VO findet ihre Grenzen jedoch dort, wo die Annahme der Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedsstaates grundrechtlich geschützte Positionen verletzen würde. Das ist hier der Fall. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 16 der Dublin III-Verordnung soll ein zwischen einem Antragsteller und seinem Kind bestehendes Abhängigkeitsverhältnis, das durch den Gesundheitszustand oder hohes Alter des Antragstellers begründet ist, als ein verbindliches Zuständigkeitskriterium herangezogen werden, um die uneingeschränkte Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie zu gewährleisten.
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Es gibt daher gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsgegnerin im Lichte von Art. 16 Abs. 1 Dublin III VO gehalten ist, die aufgrund der Fiktionswirkung von Art. 22 Abs. 7 Dublin III VO begründete Zuständigkeit Italiens durch Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III VO zu korrigieren (vgl. Filzwieser/Sprung, Dublin III VO, 2014, Art. 22 K15).
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Jedenfalls im Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz geht das Gericht auch davon aus, dass die Antragstellerin insofern auch eine wehrfähige Rechtsposition besitzt. Zwar nimmt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich an, dass den Zuständigkeits- und Fristenregelungen der Dublin-Verordnungen keine subjektivrechtliche Dimension zukommt (vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – Rs. C-4/11 „Puid“ –, juris Rn. 29; Urteil vom 10.12.2013 – Rs. C-394/12 „Abdullahi“ –, juris Rn. 62; BVerwG, Beschluss vom 19.3.2014 – BVerwG 10 B 6.14 –, juris). Diese Rechtsprechung verhält sich indes nicht zu Zuständigkeitsregeln mit Bezug zu familiären Beziehungen. Der hohe Rang des Schutzes von Ehe und Familie ist dabei ein gewichtiges Argument für individuell durchsetzbare Berücksichtigung auch bei erklärter Übernahmebereitschaft eines Mitgliedsstaats. Erst recht gilt dies, wenn die Zuständigkeit einzig aus der Fiktionswirkung des Art. 22 Abs. 7 Dublin III VO folgt.
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Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass die Abschiebung (noch) nicht durchgeführt werden kann, weil der Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis entgegensteht.
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Die Abschiebungsanordnung als Festsetzung des Zwangsmittels des unmittelbaren Zwangs (Abschiebung) darf erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung erfüllt sind. Dem Bundesamt obliegt in diesem Zusammenhang sowohl die Prüfung von zielstaats- als auch von inlandsbezogenen Abschiebungsverboten bzw. -hindernissen einschließlich der Prüfung, ob die Abschiebung aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen – wenn auch nur vorübergehend – rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist. Dies gilt nicht nur für bereits vor Erlass der Abschiebungsanordnung vorliegende, sondern auch für etwa danach entstandene Abschiebungshindernisse.
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Solche Abschiebungshindernisse werden sich hier voraussichtlich aus dem Alter und dem Gesundheitszustand der Antragstellerin ergeben. Nach dem vorgelegten ärztlichen Berichten leidet die Antragsteller neben den vorgetragenen, aber bisher nicht belegten Beeinträchtigungen infolge einer posttraumatischen Belastung und Altersdemenz auch an einem Mammakarzinom mittlerer Risikoklasse, dessen Diagnose und Behandlungsbedürftigkeit näherer Abklärung bedarf.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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