Beschluss vom Verwaltungsgericht Hannover (12. Kammer) - 12 B 1138/22

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers - 12 A 1137/22 - gegen die in Nr. 5 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 03.03.2022 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

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Der Antrag des Antragstellers,

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die aufschiebende Wirkung der Klage - 12 A 1137/22 - gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen,

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hat Erfolg.

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Er ist zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1, § 36 Abs. 1 AsylG statthaft.

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Er ist auch begründet.

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Im Fall der durch das C. (im Folgenden: Bundesamt) verfügten Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 30 AsylG ordnet das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 4 AsylG die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der gemäß § 36 Abs. 3, § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung an, wenn das persönliche Interesse des Asylbewerbers, von der sofortigen Aufenthaltsbeendigung vorerst verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an ihrer sofortigen Durchsetzung übersteigt. Die Aussetzung der Abschiebung darf gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Dies ist der Fall, wenn unter Zugrundelegung der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme - hier die der sofortigen Aufenthaltsbeendigung zugrunde liegende Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet - einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99). So liegt der Fall hier.

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Nach § 30 Abs. 1 AsylG, auf den sich das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes offenbar stützt, ist ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist der Fall, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 02.05.1984 - 2 BvR 1413/83 -, juris Rn. 27; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 30 AsylG Rn. 3; Heusch, in: BeckOK Ausländerrecht, 28. Edition, Stand: 01.10.2021, § 30 AsylG Rn. 14 m.w.N.). In Fällen, in denen der Asylbewerber - wie der Antragsteller hier - eine kollektive Verfolgungssituation in seinem Heimatland geltend macht, kommt die Abweisung einer Asylklage als offensichtlich unbegründet in der Regel nur dann in Betracht, wenn entweder eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung besteht oder eindeutige und widerspruchsfreie Auskünfte und Stellungnahmen sachverständiger Stellen die Entscheidung des Gerichts tragen (BVerfG, Beschl. v. 12.07.1983 - 1 BvR 1470/82 -, juris Rn. 57).

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Dahingestellt bleiben kann, ob diese Voraussetzungen hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) und der damit in Zusammenhang stehenden Frage vorliegen, ob eine Gruppenverfolgung von irakischen Staatsangehörigen yezidischer Religionszugehörigkeit - wie dem Antragsteller - im Distrikt Sinjar bzw. in der Provinz Ninive beachtlich wahrscheinlich ist (ablehnend Nds. OVG, Urt. v. 30.7.2019 - 9 LB 133/19 -, juris Rn. 109 ff.; ebenso VG Hannover, zuletzt Urt. v. 16.07.2021 - 6 A 5139/17 -, n.v.). Zumindest im Hinblick auf den subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) bestehen durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer qualifizierten Ablehnung des Asylantrages nach § 30 Abs. 1 AsylG. Das Verwaltungsgericht Braunschweig hat dazu Folgendes ausgeführt (Beschl. v. 62.01.2022 - 2 B 18/22 -, juris Rn. 10):

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„Unter Berücksichtigung der jüngeren Geschichte des Irak mit dem Erstarken des IS in den Jahren 2013 bis 2015, seinen rechtlich als Gruppenverfolgung anzusehenden grausamen und gewalttätigen Übergriffen auf die Yeziden, der Zurückdrängung des IS durch den irakischen Staat, Verbündete und eine Vielzahl paramilitärischer Gruppierungen in den Folgejahren und den seither schwelenden multiplen religiösen sowie ethnischen Konflikten im Irak sind subsidiäre Schutzansprüche für Menschen aus dem Nordirak gegenwärtig nicht offensichtlich ausgeschlossen (vgl. dazu auch VG München, Beschluss vom 16.04.2020 - M 4 S 20.30879 -, juris Rn. 25). Zu klären ist dazu unter Auswertung der aktuellen Erkenntnisse nicht nur, ob ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt in der Bezugsregion des Irak besteht. Zur Klärung der Frage, ob eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit vorliegt, bedarf es darüber hinaus aktueller Feststellungen zur Gefahrendichte für die Zivilbevölkerung in dem fraglichen Gebiet, die jedenfalls auch eine annäherungsweise Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits zu umfassen hat, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden; außerdem ist eine wertende Gesamtbetrachtung mit Blick auf die Anzahl der Opfer und die Schwere der Beeinträchtigungen in der Zivilbevölkerung unter Berücksichtigung der medizinischen Versorgungslage erforderlich (vgl. z.B. Nds. OVG, Beschluss vom 11.03.2021, a.a.O., Rn. 117; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.10.2021 - 9 A 2152/20.A -, juris Rn. 153 m.w.N.). Schon wegen der Komplexität dieser Feststellungen bestehen ernstliche Zweifel dagegen, den Anspruch auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abzulehnen.“

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Diesen Ausführungen schließt sich die Einzelrichterin an (so auch schon VG Hannover, Beschl. v. 10.02.2022 - 12 B 403/22 -, n.v.).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.

 


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