Beschluss vom Verwaltungsgericht Karlsruhe - A 1 K 2745/22

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 22.07.2022 wird angeordnet.

2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

 
Der Antrag hat Erfolg, da er zulässig und begründet ist.
1. Der Antrag ist zulässig. Er ist insbesondere nicht verfristet, da der Bescheid vom 22.07.2022 dem Antragsteller ausweislich des Sendungsnachverfolgungsdienstes der Deutschen Post erst am 10.08.2022 zugegangen ist und der am 17.08.2022 bei Gericht eingegangene Antrag somit die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG gewahrt hat. Ein früheres Zugangsdatum ergibt sich dabei auch nicht aus der Zustellfiktion des § 4 Abs. 2 Satz 2 VwZG, denn nach dem Wortlaut der Vorschrift greift diese Fiktion nicht in solchen Fällen, in denen – wie hier – der Zugang nachweislich erst später erfolgt ist. Unabhängig davon lässt sich den Akten der Antragsgegnerin nicht entnehmen, mit welcher Form des Einschreibens der angefochtene Bescheid versendet worden ist. Ein bloßes Einwurf-Einschreiben aber erfüllt schon tatbestandlich nicht die Voraussetzungen des § 4 VwZG (vgl. BT.-Drs. 15/5216, S. 12, Schlatmann, in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG, 12. Auflage 2021, § 4 VwZG Rn. 2).
2. Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse des Antragstellers, einstweilen von Vollzugsmaßnahmen aus der angefochtenen Abschiebungsandrohung verschont zu bleiben, überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Verfügung.
a) Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen nur dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung bestehen dann, wenn die Überprüfung ergibt, dass die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben wird.
b) So verhält es sich hier. Die Ablehnung des Asylverfahrens als offensichtlich unbegründet wird im Hauptsacheverfahren voraussichtlich keinen Bestand haben, da die hierfür maßgeblichen Voraussetzungen des § 30 AsylG voraussichtlich nicht vorliegen.
aa) Die Antragsgegnerin stützt die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet allein auf den Umstand, dass der Antragsteller in einem 2006 durchgeführten Asylverfahren über seine Identität sowie seine Staatsangehörigkeit getäuscht und diese Täuschung erst mit Stellung des hier verfahrensgegenständlichen Asylfolgeantrags im Jahr 2021 offengelegt und korrigiert hat.
Zwar ist nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuscht oder diese Angaben verweigert. Voraussetzung hierfür dürfte jedoch sein, dass der Asylbewerber diese Täuschung nicht in irgendeinem (früheren), sondern gerade (auch) in dem zur Entscheidung stehenden Asylverfahren begangen bzw. aufrechterhalten hat.
Hierfür streitet zum einen der Wortlaut der Norm, wonach die Täuschung „im“, also „in dem“ und nicht lediglich „in einem“ Asylverfahren erfolgt sein muss. Auch verlangt § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG, dass der Ausländer „täuscht“ und nicht lediglich „getäuscht hat“. Die Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet kann daher auf eine Identitätstäuschung nicht gestützt werden, sofern der Ausländer den von ihm zu verantwortenden Irrtum über seine Identität oder Staatsangehörigkeit aus freien Stücken aufklärt (vgl. Heusch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 34. Edition Stand 01.07.2022, § 30 Rn. 41; Lehnert, in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 3. Auflage 2021, § 30 Rn. 15). Kann aber selbst eine im zur Entscheidung stehenden Asylverfahren begangene Identitätstäuschung noch mit der Folge korrigiert werden, dass der qualifizierte Ablehnungsgrund des § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG nicht mehr Platz greift, so kann für eine in einem zurückliegenden Verfahren begangene Täuschung jedenfalls dann nichts anderes gelten, wenn diese mit Stellung des neuen Asylantrags aus freien Stücken offengelegt und richtiggestellt wird.
Zum anderen liegt § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ausweislich der Gesetzesbegründung die Erwägung zugrunde, dass ein individuelles Verfolgungsschicksal nur festgestellt werden kann, wenn die Identität und die Staatsangehörigkeit des Verfolgten bekannt sind, und dass ein politisch Verfolgter in der Bundesrepublik Deutschland um Asyl nachsucht, weil er auf den Schutz deutscher Behörden vertraut. Es ist dem Ausländer daher nach Auffassung des Gesetzgebers zuzumuten, spätestens gegenüber dem für die Entscheidung zuständigen Bundesamt seine Identität oder Staatsangehörigkeit darzulegen oder Angaben dazu zu machen (vgl. BT-Drs. 12/4450, S. 22). Damit aber dürfte § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG keine Anwendung auf solche Fälle finden, in denen – wie hier – der Ausländer dem für die Entscheidung zuständigen Bundesamt Identität und Staatsangehörigkeit aus freien Stücken offenlegt. Eine in einem früheren Verfahren begangene Identitätstäuschung mag zwar bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers zu berücksichtigen sein, rechtfertigt aber voraussichtlich nicht aus sich heraus, einen neuen, unter wahrer Identität gestellten Asylantrag unter bloßen Verweis auf § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG und damit möglicherweise ohne jede inhaltliche Prüfung des geltend gemachten Verfolgungsschicksals als offensichtlich unbegründet abzulehnen.
10 
Nach alledem liegen die Voraussetzungen einer Ablehnung als offensichtlich unbegründet nach § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG voraussichtlich nicht vor. In seinem Asylfolgeantrag vom 31.01.2021 hat der Antragsteller die früher von ihm begangene Täuschung über Identität und Staatsangehörigkeit aus freien Stücken offengelegt und richtiggestellt. Dass er auch im hier zur Entscheidung stehenden Verfahren über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hätte, wird von der Antragsgegnerin nicht behauptet und ist auch sonst nicht erkennbar.
11 
bb) Anderweitige Umstände, die eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet zu tragen vermöchten, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Auf die Frage, ob sich der Asylantrag im Hauptsacheverfahren möglicherweise als unbegründet erweisen wird, kommt es bei der Beurteilung der hier allein in Rede stehenden offensichtlichen Unbegründetheit nicht an.
12 
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
13 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen