Urteil vom Verwaltungsgericht Koblenz (2. Kammer) - 2 K 719/18.KO

Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 29. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2018 verpflichtet, die im Leistungsbescheid vom 7. Oktober 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 2015 unter Ziffer 2.b. des Widerspruchsbescheides vorgenommene Festsetzung von Stundungszinsen im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens zurückzunehmen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 4/5 und die Beklagte zu 1/5.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in noch festzusetzender Höhe abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, im Wege des Wiederaufgreifens des Verfahrens einen an ihn ergangenen Leistungsbescheid vom 7. Oktober 2011 hinsichtlich der darin festgesetzten Stundungszinsen und im Umfang einer wegen nichtberücksichtigter Dienstzeit (sog. Abdienquote) überhöhten Rückforderungssumme teilweise zurückzunehmen.

2

Im Februar 2000 wurde der Kläger in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Im Zeitraum 5. Oktober 2000 bis 6. Dezember 2006 studierte er unter Beurlaubung vom militärischen Dienst Humanmedizin studiert. Im September 2002 wurde seine Dienstzeit auf die volle Verpflichtungszeit von 18 Jahren mit Dienstzeitende 13. Juni 2017 festgesetzt. Nach Erteilung der Approbation wurde er im Dezember 2006 zum Stabsarzt ernannt. Zum 30. Dezember 2008 wurde er an der A. Universität in B. unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Zeit zum Akademischen Rat ernannt. Deshalb war er kraft Gesetzes (§ 125 Beamtenrechtsrahmengesetz a.F.) mit Ablauf des 29. Dezember 2008 aus dem Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit entlassen.

3

Mit dem bereits erwähnten Leistungsbescheid wurde er zur Rückzahlung von Ausbildungsentgelt und im Rahmen seiner ärztlichen Aus- und Weiterbildungen entstandener Fachausbildungskosten in Höhe von insgesamt 139.887,40 € herangezogen. Im Zuge des dagegen geführten Widerspruchsverfahrens wurde ihm Ratenzahlung gegen eine Verzinsung in Höhe von 2 % über dem jeweiligen Basiszinssatz gewährt. Des Weiteren wurde angeordnet, die Einziehung der Stundungszinsen erfolge nach Erledigung der Hauptforderung. Dieser Leistungsbescheid ist schließlich nach einem Urteil des erkennenden Gerichts vom 22. Juni 2016 – 2 K 1177/15.KO – in Bestandskraft erwachsen. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 2016 – 10 A 10726/16.OVG – abgelehnt.

4

Mit Schreiben vom 13. April 2017 beantragte der Kläger das Wiederaufgreifen des Verfahrens. Aufgrund eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. April 2017 – 2 C 16.16 – liege eine Änderung der Sach- und Rechtslage vor. Der Leistungsbescheid sei sowohl hinsichtlich der Stundungszinsen als auch hinsichtlich der generellen Nichtberücksichtigung seiner Fachausbildungszeiten bei der Festsetzung der Hauptforderung zurückzunehmen.

5

Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 29. Januar 2018 lehnte die Beklagte das Wiederaufgreifen des Verfahrens ab. Der dagegen gerichtete Widerspruch des Klägers vom 22. Februar 2018 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 12. Juni 2018 zurückgewiesen. Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG – lägen nicht vor. Insbesondere sei die Abänderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht als Änderung der Sach- und Rechtslage oder der allgemeinen Rechtsauffassung zu qualifizieren. Es bestehe auch kein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG. Das der Behörde in diesem Zusammenhang eingeräumte Ermessen könne sich nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zu einem Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens verdichten. Durch die enumerative Auflistung der zwingenden Wiederaufgreifensgründe in § 51 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 VwVfG lasse der Gesetzgeber erkennen, dass er nur in diesen Fällen das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit gegenüber dem formalen Prinzip der Bestands- und Rechtskraft als so unerträglich ansehe, dass er den Konflikt zu Gunsten des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit löse. Umstände, die eine erneute Entscheidung im Einzelfall geböten, müssten daher von einer den in § 51 Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 VwVfG geregelten Fällen vergleichbaren Bedeutung sein und die Aufrechterhaltung des Erstbescheides schlechthin unerträglich erscheinen lassen. Ein solcher Fall liege hier nicht vor, weil die Aufrechterhaltung des Leistungsbescheides weder als Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben zu werten noch von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Bescheides auszugehen sei. Zu berücksichtigen sei insbesondere, dass die Erhebung von Stundungszinsen und auch die in dem Bescheid praktizierte Anwendung der Abdienquote über viele Jahre hinweg in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unbeanstandet geblieben sei. Dies zeige sich auch darin, dass im Falle des Klägers die Rechtmäßigkeit des Leistungsbescheides sowohl durch das erkennende Gericht als auch durch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz bestätigt worden sei.

6

Dagegen hat der Kläger am 10. Juli 2018 Klage erhoben.

7

Er macht geltend, ihm stehe ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Erstverfahrens und teilweise Aufhebung des Leistungsbescheides vom 7. Oktober 2011 zu, soweit darin Stundungszinsen erhoben würden und im Rahmen der Anwendung der Abdienquote seine Fachausbildungszeiten generell nicht mindernd berücksichtigt geblieben seien. In diesem Umfang erweise sich der Leistungsbescheid nach der bereits genannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als rechtswidrig. Angesichts der teilweisen Rechtswidrigkeit des Leistungsbescheides habe er Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. In der Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei eine Änderung der allgemeinen Rechtsauffassung zu erblicken, die einer Rechtsänderung im Sinne dieser Vorschrift gleichstehe. Im Übrigen habe er Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 VwVfG. Eine Ermessensentscheidung fehle hier völlig. Außerdem führe eine ordnungsgemäße Ermessensausübung zu einer Ermessensreduktion auf Null zu seinen Gunsten. Angesichts des Umstandes, dass es für die Erhebung von Stundungszinsen an einer Rechtsgrundlage fehle, sei die Aufrechterhaltung des Bescheides insoweit unerträglich. Letzteres gelte auch für die völlige Nichtberücksichtigung der von ihm geleisteten Dienstzeiten als anspruchsmindernd.

8

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2018 zu verpflichten, den Leistungsbescheid vom 7. Oktober 2011 hinsichtlich der veranschlagten Stundungszinsen und der wegen nichtberücksichtigter Dienstzeiten überhöhten Rückforderungssumme zurückzunehmen.

9

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

10

Sie ist der Klage entgegengetreten und wiederholt und vertieft ihr diesbezügliches Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungs- und Widerspruchsakten der Beklagten (2 Hefte) und der Gerichtsakte 2 K 1177/15.KO Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

12

Die zulässige Klage hat nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

13

Soweit die Beklagte im Bescheid vom 29. Januar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Juni 2018 das Wiederaufgreifen des Verfahrens betreffend den bestandskräftigen Leistungsbescheid vom 7. Oktober 2011 in Gestalt des dazu ergangenen Widerspruchsbescheides vom 30. November 2015 auf der Grundlage des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG abgelehnt hat, ist der Bescheid rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Denn ihm steht ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach dieser Bestimmung nicht zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO –) [I.].

14

Demgegenüber erweist sich die Ablehnung des Wiederaufgreifens des Verfahrens auf der Grundlage des § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in Bezug auf die Festsetzung von Stundungszinsen als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. In diesem Umfang war der streitgegenständliche Bescheid daher aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Verfahren wiederaufzugreifen und den Leistungsbescheid vom 7. Oktober 2011 teilweise zurückzunehmen (§ 113 Abs. 5 VwGO) [II.].

15

I. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach der hier allein in Betracht zu ziehenden Bestimmung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegen nicht vor. Hiernach hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- und Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat. Dies ist hier nicht der Fall. Wie die Beklagte bereits im angefochtenen Bescheid und im Widerspruchsbescheid zutreffend ausgeführt hat, stellt die Änderung der (höchstrichterlichen) Rechtsprechung nach ständiger Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG dar. Eine Ausnahme davon liegt nur dann vor, wenn die Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung Ausdruck neuer allgemeiner Rechtsauffassung ist (Kopp/Ramsauer, VwVfG, Komm., 18. Aufl. 2017, § 51, Rn. 30 m.w.N.). Auch davon ist hier nicht auszugehen. Es geht lediglich um die inhaltliche Reichweite einer konkreten Norm und deren Auslegung. Mit einer Änderung der allgemeinen Rechtsauffassungen hat dies nichts zu tun.

16

II. Die teilweise Verpflichtung der Beklagten zum Wiederaufgreifen des Verfahrens und entsprechender teilweiser Rücknahme des Leistungsbescheids vom 7. Oktober 2011 besteht nur hinsichtlich der in dem Leistungsbescheid enthaltenen Festsetzung von Stundungszinsen. Insoweit hat der Kläger wegen einer Ermessensreduktion auf Null Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Rücknahme der genannten Festsetzung (1.). Soweit er darüber hinaus auch ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Nichtberücksichtigung seiner Dienstzeiten während der Facharztausbildung (sog. Abdienquote) begehrt, kann er damit nicht durchdringen. Insoweit hat die Beklagte das Wiederaufgreifen des Verfahrens in rechtlich nicht zu beanstandender Weise abgelehnt (2.).

17

1. Gemäß § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG hat der Kläger Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Wiederaufgreifensantrag vom 13. April 2017 (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne). Nach der Unberührtheitsklausel des § 51 Abs. 5 VwVfG wird im Falle eines Antrags auf Wiederaufgreifen die Zulässigkeit der Rücknahme eines Verwaltungsaktes nicht berührt (Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 51, Rn. 50). Dies hat die Beklagte zumindest im Widerspruchsverfahren zutreffend erkannt und dementsprechend unter anderem eine Prüfung des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG vorgenommen. Dabei hat sie allerdings hinsichtlich der Festsetzung der Stundungszinsen zu Unrecht das Vorliegen eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes verneint (a.). Soweit sie dabei des Weiteren bei Unterstellung des Vorliegens eines rechtswidrigen Verwaltungsakts die Änderung des Bescheides vom 7. Oktober 2011 in Bezug auf die Festsetzung der Stundungszinsen abgelehnt hat, trifft diese Entscheidung auf rechtliche Bedenken, weil sich insoweit das Wiederaufgreifens- und Abänderungsermessen entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten zu Gunsten des Klägers auf Null verdichtet hat (b.).

18

a. Die Festsetzung von Stundungszinsen auf der Grundlage des § 56 Abs. 4 Satz 3 Soldatengesetz – SG – ist rechtswidrig, weil die in der genannten Norm enthaltene Härteregelung zur Rechtfertigung des mit dieser Festsetzung verbundenen Eingriffs in die Rechtstellung des Rückzahlungsverpflichteten nicht herangezogen werden kann. Die Erhebung von Zinsen stellt einen zusätzlichen erheblichen Eingriff in die Rechtsstellung des Rückzahlungsverpflichteten dar. Für einen solchen Eingriff in das Eigentumsrecht des Art. 14 Abs. 1 Grundgesetz – GG – bedarf es einer gesetzlichen Grundlage, in der Regel in Gestalt eines förmlichen Parlamentsgesetzes. Denn die Pflicht des Gesetzgebers, Eingriffsregelungen selbst zu regeln, steigt mit der Wesentlichkeit des Eingriffs. Dementsprechend hat der Gesetzgeber in anderen Konstellationen, in denen der Staat dem Bürger Zahlungsverpflichtungen gegen Ratenzahlung stundet, Regelungen getroffen, die ausdrücklich zur Erhebung von Zinsen ermächtigen, wobei auch die Zinshöhe gesetzlich bestimmt wird (vgl. z.B. § 234 Abs. 1 und § 238 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung, § 18 Abs. 2 Satz 2 Bundesausbildungsförderungsgesetz).

19

Im Soldatenrecht fehlt eine entsprechende gesetzliche Grundlage. Die Forderung von Zinsen kann nicht auf § 56 Abs. 4 Satz 3 SG gestützt werden. Diese Norm zielt allein darauf ab, die Rückzahlungsverpflichtung für den ehemaligen Soldaten in Fällen besonderer Härte zu erleichtern. Dem Wortlaut nach ermöglicht sie allein den vollständigen oder teilweisen Verzicht auf die Forderung. Zu Recht wird sie jedoch so ausgelegt, dass sie auch zu einer Stundung unter Einräumung von Ratenzahlung ermächtigt. Die Erhebung von Zinsen stellt demgegenüber eine zusätzliche und eigenständige Belastung des Rückzahlungsverpflichteten dar. Sie liegt damit außerhalb von Sinn und Zweck der Norm. Ebenso wenig kann die Zinsforderung auf § 59 Bundeshaushaltsordnung gestützt werden (vgl. hierzu insgesamt BVerwG, Urteil vom 16. April 2017 – 2 C 16.16 –, juris, Rn. 65-68 m.w.N.).

20

b. Erweist sich der Bescheid vom 7. Oktober 2011 demnach als teilweise rechtswidrig, so hat der Kläger auf der Rechtsfolgenseite der §§ 51 Abs. 5, 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Wiederaufgreifen und Abänderung bzw. teilweise Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes. Die insoweit von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung ist fehlerhaft, weil sie von ihrem Ermessen in einer nicht dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).

21

Der getroffenen Ermessensentscheidung, das Verfahren nicht wieder aufzugreifen, haftet der Makel der Fehlgewichtung von Belangen an. Wegen der Schwere des der Zinsfestsetzung zugrundeliegenden Rechtsverstoßes hätte die Beklagte nämlich das Verfahren wiederaufgreifen und den Leistungsbescheid insoweit aufheben müssen. Zweck der Ermächtigung zur Ermessensentscheidung über die Rücknahme ist es, dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung rechtswidriger Entscheidungen auf der einen und an der Rechtssicherheit auf der anderen Seite Rechnung zu tragen. Dabei dürfen grundsätzlich auch fiskalische Interessen eine Rolle spielen (Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn. 77, 78). In der Regel darf die Behörde die Ablehnung der Rücknahme fehlerfrei ohne nähere sachliche Prüfung damit begründen, dass der Bestandskraft des Verwaltungsaktes trotz der bestehenden Rechtswidrigkeit der Vorrang eingeräumt wird und für eine andere Beurteilung kein Anlass besteht. Dafür sprechen vor allem Gründe der Rechtssicherheit und der Verfahrensökonomie sowie die Überlegung, dass der Bürger die Möglichkeit ordentlicher Rechtsbehelfe hätte bzw. gehabt hätte (Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn. 81a). Dieser Gesichtspunkt gewinnt umso mehr an Gewicht, wenn – wie hier – die im Streit stehende Verwaltungsentscheidung gerichtlich bereits in zwei Instanzen für rechtmäßig befunden worden ist. Einer ausnahmsweise eingehenden Prüfung und Abwägung des Für und Wider eines Wiederaufgreifens bedarf es hingegen, wenn besondere Umstände vorliegen, die sich entweder der Behörde aufdrängen oder substantiiert vorgetragen werden. Dies kann zum Beispiel ein besonders qualifizierter Rechtsverstoß sein, dessen Aufrechterhaltung allein aus Gründen der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens nicht hinnehmbar erscheint. Dabei kommt es auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Verstoßes, die Zumutbarkeit der für die Betroffenen eingetretenen Situation, auf seit Erlass des Verwaltungsakts eingetretene Änderungen der Sach- und Rechtslage oder Rechtsprechung an, aber auch darauf, weshalb die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts gegebenenfalls erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist geltend gemacht wurde (Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn. 82). Der Ermessensspielraum der Behörde kann schließlich auf Null schrumpfen mit der Folge, dass eine (teilweise) Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts erfolgen muss. Ist der Verwaltungsakt unanfechtbar geworden, so kommt dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Bestandskraft zwar regelmäßig eine erhebliche Bedeutung zu. Eine Reduktion kommt aber umgekehrt in Betracht, wenn Umstände vorliegen, die ein Festhalten an dem Verwaltungsakt als Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Ebenso, wenn sich die Rechtswidrigkeit aufdrängen musste, die Behörde selbst in vorwerfbarer Weise dazu beigetragen hat, dass der Betroffene den Verwaltungsakt unanfechtbar hat werden lassen oder die Aufrechterhaltung des Verwaltungsaktes schlechthin unerträglich erscheint (Kopp/Ramsauer, a.a.O., Rn. 79a; Urteil des erkennenden Gerichts vom 6. Juni 2018 – 2 K 887/17.KO –).

22

Ausgehend von diesen Maßstäben hat die Beklagte zwar zunächst zu Recht darauf verwiesen, dass sie grundsätzlich der Rechtssicherheit und der Aufrechterhaltung des Rechtsfriedens Vorrang einräumen darf, was insbesondere dann gilt, wenn – wie hier – in zwei gerichtlichen Instanzen die Rechtmäßigkeit des betroffenen Leistungsbescheides festgestellt worden ist. Dass diese Rechtsauffassung sich nachträglich im Wege der Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als fehlerhaft herausgestellt hat, zwingt für sich genommen nicht dazu, das Verfahren wieder aufzugreifen und den Leistungsbescheid teilweise aufzuheben. Soweit die Beklagte allerdings im Ergebnis das Vorliegen einer besonderen Ausnahmesituation, die sowohl das Wiederaufgreifensermessen als auch das Rücknahmeermessen auf Null reduziert, verneint hat, ist dies zu beanstanden. Es handelt sich hier um einen besonders schwerwiegenden Rechtsfehler, weil – wie oben dargelegt – es sich um einen Eingriff in das Eigentum (Art. 14 Abs. 1 GG) handelt, ohne dass es hierfür eine Rechtsgrundlage gibt. Dieses Verwaltungshandeln geht im Rahmen des § 56 Abs. 4 Satz 3 SG auch deutlich über die eigentliche Intention einer Härteregelung hinaus, indem diese Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut und ihrer Zweckbestimmung als Ermächtigungsgrundlage für den genannten Grundrechtseingriff herangezogen wird. Hinzu kommt, dass es sich hier nicht um einen abgeschlossenen, in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt handelt. Vielmehr ist die Zinsforderung der Höhe nach noch gar nicht festgesetzt und es wurden auch noch keine Zahlungen verlangt. Daher wird sich der rechtswidrige Zustand der Sache nach erst in Zukunft spürbar zu Lasten des Klägers auswirken, da er einen weiteren Bescheid über die Festsetzung der Höhe der Stundungszinsen zu gewärtigen hat. Dies ist selbst unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit nicht hinnehmbar und dient von daher auch nicht der endgültigen Herstellung des Rechtsfriedens. Vielmehr würde die Beklagte sehenden Auges in der Zukunft Forderungen realisieren, die ihr von Rechts wegen schon dem Grunde nach offensichtlich nicht zustehen. Darüber hinaus ist diese zu Tage tretende Rechtswidrigkeit der Zinsforderung leicht behebbar. Insoweit ist nicht nur der Vertrauensschutz der Beklagten eher gering zu bewerten, sondern auch fiskalische Erwägungen spielen eine nicht so große Rolle, weil die Anpassung des Staatshaushalts für die Zukunft immer möglich ist. Diese Umstände führen zu einem besonders schwerwiegenden und für jeden billig und gerecht Denkenden unerträglichen Rechtsverstoß, der wegen seines qualifizierten Eingriffscharakters in seiner Qualität über eine „bloß“ fehlerhafte und deshalb rechtswidrige Gesetzesanwendung deutlich hinausgeht. Dies zwingt im Ergebnis zum Wiederaufgreifen und zur Rücknahme der Zinsfestsetzung.

23

2. Auch hinsichtlich der vollständigen Nichtberücksichtigung der Facharztausbildungszeiten des Klägers als anspruchsmindernd (Abdienquote) erweist der Leistungsbescheid sich als rechtswidrig (a.). Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung, das Verfahren insoweit nicht wiederaufzugreifen, ist indes rechtlich nicht zu beanstanden (b.).

24

a. Nach der bereits zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O.) ist die Zeit, während der Sanitätsoffiziere nach erfolgter Approbation Dienst als Arzt in einem Bundeswehrkrankenhaus oder an anderen Stellen in der Bundeswehr leisten, als effektive Stehzeit anzuerkennen. Es widerspricht der Härtefallregelung des § 56 Abs. 4 Satz 3 SG, von einer Hemmung der Stehzeit auszugehen, wenn – wie im Falle des Klägers – während der vollen Dienstleistung als Arzt zugleich eine Fachausbildung i. S. d. § 56 Abs. 4 Satz 1 SG stattfindet. Anderes gilt nur für solche Zeiten, in denen der Sanitätsoffizier zum Zweck der Fortbildung von der üblichen ärztlichen Dienstleistung befreit war (vgl. BVerwG, a. a. O., Rn. 55, 57). Da letzteres im Falle des Klägers nicht der Fall war, hätte seine Zeit der Facharztausbildung anspruchsmindernd berücksichtigt werden müssen.

25

b. Allerdings liegt insoweit nach Auffassung der Kammer keine Ermessensreduktion auf Null dergestalt vor, dass die Beklagte das Verfahren auch insoweit wiederaufgreifen müsste. Sie hat dies vielmehr in ermessensfehlerfreier Weise abgelehnt.

26

Insoweit geht es nämlich „nur“ um die fehlerhafte Auslegung und Anwendung der Härtefallregelung des § 56 Abs. 4 Satz 3 SG. Soweit das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung dessen Reichweite neu bewertet und ausgedehnt hat, führt die Nichtberücksichtigung dieser Rechtsprechung bei in der Vergangenheit erlassenen bestandskräftigen Leistungsbescheiden nicht zu einem derart schwerwiegenden und unerträglichen Rechtsfehler wie im Falle der Festsetzung von Stundungszinsen ohne jegliche Rechtsgrundlage. Denn hier wird die Härtefallregelung nicht als Grundlage für einen zusätzlichen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 GG herangezogen. Es geht vielmehr lediglich um die Vorenthaltung einer unter Härtegesichtspunkten an sich gebotenen Wohltat im Sinne eines Teilerlasses der Rückforderungssumme. Es handelt sich damit insoweit um einen typischen Fall einer Rechtsprechungsänderung, die nach den oben dargelegten Maßstäben nicht dazu zwingt, sämtliche betroffenen Altfälle wiederaufzugreifen. Das gilt vorliegend erst recht vor dem Hintergrund der beiden genannten Gerichtsentscheidungen, die seinerzeit die Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise der Beklagten bestätigt haben. Ferner ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger durch die Nichtberücksichtigung in seiner Existenz gefährdet wäre.

27

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

28

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167 VwGO.

29

Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

Beschluss

30

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 25.770,18 € festgesetzt (§§ 52, 63 Abs. 2 GKG).

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Referenzen

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