Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 3286/13
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
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Tatbestand
2Die am 00.00.1958 geborene Klägerin ist thalidomidgeschädigt und erhält Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz in der Fassung des 3. Änderungsgesetzes vom 26.06.2013, BGBI. 1 S. 1847 (ContStifG).
3Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 20.10.2009 beantragte die Klägerin im Anschluss an ein eigenes Schreiben vom Juli 2009 bei der beklagten Stiftung die Erhöhung der mit Bescheid vom 20.12.1974 zuerkannten 40,15 Schadenspunkte. Sie verwies auf weitere Schäden, die nachträglich festgestellt, jedoch bereits bei Geburt zu erwarten gewesen seien. Im Einzelnen führte die Klägerin eine massive Dysplasie des Schultergürtels beidseitig, eine chronische Schulterluxation beidseitig sowie eine rechte Hüftdysplasie an. Außerdem machte sie eine erhebliche chronifizierte Symptomatik in Gestalt einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung geltend, die sich in persönlichkeitsstrukturellen Veränderungen manifestiere und in Wechselwirkung mit den schwerwiegenden körperlichen Handicaps zu nachhaltigen Beeinträchtigungen führe. Zum Beleg verwies sie auf eine ärztliche Bescheinigung der Diplom-Psychologin V. C. . Unter dem 14.05.2010 übersandte die Klägerin weitere ärztliche Bescheinigungen.
4Mit Bescheid vom 28.01.2013 änderte die Beklagte den Bescheid vom 20.12.1974 und erhöhte die Gesamtpunktezahl von 40,15 auf 41,41, was jedoch nicht zu einer Leistungserhöhung führte. Die Erhöhung der Punktezahl resultierte aus einer vom medizinischen Fachbereich HNO festgestellten Gehörgangsenge beidseits gemäß Diagnoseziffer 324. Gleichfalls zur Überprüfung gestellte Neubewertungen in den Bereichen Innere Medizin, Urologie und Orthopädie lehnte die Beklagte ab. In Bezug auf psychische Beeinträchtigungen führte sie aus:
5„ ... Hinsichtlich einer posttraumatischen Belastungsstörung, die in der Medizinischen Punktetabelle keine Berücksichtigung findet - was aber möglicherweise innerhalb der Medizinischen Kommission zu diskutieren ist -, sollten weitere Befunde vorgelegt werden. Nachdem Sie dem nachgekommen sind, hat der zuständige Gutachter für den medizinischen Bereich Inneres mit E-Mail vom 19. August 2012 ausgeführt, dass er im vorliegenden Fall eine posttraumatische Störung auf eine Missbrauchssituation, nicht aber auf eine Thalidomidschädigung zurückführt. Ergänzend hat sich der zuständige Gutachter für den medizinischen Fachbereich Neurologie mit der Thematik befasst und kommt in der zu Ihrer Akte gereichten Stellungnahme vom 04.09.2012 zu dem Ergebnis, dass eine psychische Beeinträchtigung als mittelbare Folge einer Thalidomidschädigung denkbar ist. Solche mittelbaren Folgen berücksichtigt die Punktetabelle jedoch nicht. Daher können bei der derzeitigen Fassung der Richtlinien insoweit keine Punkte anerkannt werden. ...“
6Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch und bemängelte, dass die Auswertung des zum Beleg einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung vorgelegten Befundberichts von einem Gutachter aus dem Fachbereich Innere Medizin, nicht aber durch einen Facharzt mit der erforderlichen Expertise auf dem Gebiet der Psychotraumatologie erfolgt sei. Der Hinweis auf „eine Missbrauchssituation" reduziere die Gewalt- und Missbrauchserlebnisse der Klägerin unangemessen. Die Klägerin verwies auf die Zeit-umstände, in die sie hineingeboren worden sei. Ein wertschätzender und liebevoll-fürsorglicher Umgang mit behinderten Kindern sei keineswegs selbstverständlich gewesen. Auch sei es häufig zu Missbilligung und Ablehnung im sozialen Umfeld gekommen. Die Klägerin verwies in diesem Zusammenhang auf ihre eigene Familie, namentlich das Verhalten der dominanten Mutter und den Umstand, dass sie ab einem Alter von 7 Jahren in einem Kinderheim aufgewachsen sei, wo sie schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei. Nicht weniger gravierend stellten sich die im Gesundheitswesen zugefügten Traumatisierungen dar. Sie habe ohne jede Rücksicht und Schutz die Scham des Immer-wieder-Vorgeführt-, Ausgezogen-, Betrachtet-und Angefasstwerdens durch Fremde erlebt. Nicht weniger rücksichtslos sei sie dem Schrecken und dem Schmerz des Brechens ihrer Knochen ausgesetzt gewesen. Zwar seien auch Kinder und Jugendliche ohne Behinderung schwerer körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt; in ihrem Fall stelle die frühe Stigmatisierung und Isolierung aufgrund der Contergan-Schädigung einen wesentlichen Faktor für die Traumatisierungen dar, die zu lebenslangen irreversiblen psychischen Schäden geführt hätten. Aufgrund dessen müsse eine weitere Begutachtung durch einen qualifizierten Sachverständigen erfolgen.
7Mit Widerspruchsbescheid vom 08.05.2013 wies die Beklagte den Widerspruch nach Befassung der Medizinischen Kommission als unbegründet zurück. Nach den Richtlinie für die Gewährung von Leistungen wegen Conterganschadensfällen trete die Stiftung nur für ursprünglich angelegte Fehlbildungen ein. Ablehnung, Missbrauch und Misshandlungen wegen conterganbedingten Fehlbildungen seien, auch wenn sie durch nichts zu rechtfertigen seien, keine entschädigungspflichtigen Ursprungsschäden. Die Forderung nach einer fachkundigen psychologischen Bewertung gehe daher ins Leere.
8Die Klägerin hat am 29.05.2013 Klage erhoben. Sie wiederholt ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Die Beklagte verweise zu Unrecht auf die Richtlinien. Der Anspruch ergebe sich unmittelbar aus § 13 Abs. 2 ContStifG. Eine Einschränkung hier-nach begründeter Ansprüche durch die Richtlinien sei nicht möglich. Eine psychische Erkrankung sei als Funktionsstörung des Körpers einzuordnen. Jede psychische Störung sei auch eine Körperfunktionsstörung, da sie sich im Stoffwechselgeschehen des Gehirns unmittelbar abbilde. Eine posttraumatische Belastungsstörung lasse sich anhand bildgebender Verfahren nachweisen und stelle damit eine bereits angelegte Fehlbildung dar. Das steigende Lebensalter der Betroffenen führe zu vermehrten negativen Folgen der Schädigung, zu denen auch eine posttraumatische Belastungsstörung zähle. Sie wären auch im Fall einer zivilrechtlichen Anspruchstellung zu berücksichtigen. Das 3. Änderungsgesetz gleiche diese Nachteile nur zum Teil aus.
9Die Klägerin beantragt,
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1. den Bescheid der Beklagten vorn 28.01.2013 und den Widerspruchsbescheid vom 08.05.2013 aufzuheben,
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2. die Beklagte zu verpflichten, ihr Leistungen wegen des Conterganschadens in gesetzlicher Höhe zu erbringen.
Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen. Posttraumatische Störungen zählten nicht zu den Fehlbildungen, die bei Geburt bereits vorlägen oder angelegt seien.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe
18Die Entscheidung ergeht gemäß § 101 Abs. 2 VwGO im Einverständnis der Beteiligten ohne eine mündliche Verhandlung.
19Die ausschließlich auf die Berücksichtigung einer posttraumatischen Belastungsstörung bei der Bemessung der Leistungen nach dem ContStifG gerichtete Klage ist nicht begründet.
20Der Bescheid der beklagten Stiftung vom 28.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.05.2013 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Diese hat keinen Anspruch auf eine Berücksichtigung einer Traumatisierung und etwaiger hierauf beruhender Funktionsstörungen im Rahmen des Entschädigungssystems nach dem ContStifG.
21Die Beklagte weist zutreffend darauf hin, dass sich die Höhe der Kapitalentschädigung, der Conterganrente und der jährlichen Sonderzahlung gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 ContStifG nach der Schwere des Körperschadens und der hierdurch hervorgerufenen Körperfunktionsstörungen richtet. Die Vorschrift entspricht damit dem seit dem Gesetz über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ vom 17.12.1971 (BGBl. I S. 2018) verfolgten Stiftungszweck, wie er in § 2 ContStifG zum Ausdruck kommt. Zweck der Stiftung ist es hiernach, behinderten Menschen, deren Fehlbildungen mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen (früher Chemie Grünenthal GmbH in Stolberg), durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können, Leistungen zu erbringen und ihnen durch die Förderung oder Durchführung von Forschungs- und Erprobungsvorhaben Hilfe zu gewähren, um ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft zu unterstützen und die durch Spätfolgen hervorgerufenen Beeinträchtigungen zu mildern. Hiermit ist bereits vom Wortlaut her zum Ausdruck gebracht, dass Leistungen im Sinne des Gesetzes an eine thalidomidbedingte körperliche Unregelmäßigkeit anknüpfen. Das Gesetz geht damit von dem nach Bekanntwerden der Thalidomid-Schäden bei Neugeborenen Anfang der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts ersichtlichen Befund aus, der sind in körperlichen Fehlbildungen manifestierte. In Übereinstimmung hiermit grenzt § 12 Abs. 1 ContStifG der Kreis der anspruchsberechtigten Personen ebenfalls auf Personen ab, deren Fehlbildungen mit der Einnahme in Verbindung gebracht werden können. Dem folgen auch die auf der Grundlage des § 13 Abs. 6 ContStifG vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erlassenen Richtlinien für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadenfällen vom 16.07.2013, zuletzt geändert am 11.06.2014, die ebenso wie die medizinische Punktetabelle nach § 4 Abs. 2 der Richtlinie ausschließlich körperliche Fehlbildungen (orthopädische Schäden, innere Schäden, Augenschäden und HNO-Schäden) erfassen. Damit ist die von der Klägerin geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung schon im Ansatz nicht angesprochen, da es sich hierbei um eine psychische Folgereaktion auf ein als traumatisch empfundenes Ereignis handelt. Diese psychische Folgereaktion wird auch nicht dadurch zu einem körperlichen Schaden, dass sich aufgrund des medizintechnischen Fortschritts Hirnaktivitäten bildlich erfassen lassen.
22Dessen ungeachtet macht die Klägerin auch keinen bei Geburt vorhandenen oder bereits angelegten psychischen Schaden geltend. Ist die posttraumatische Belastungsreaktion der Schaden, so bezieht sich dieser nicht auf die Thalidomidgabe, sondern auf das Verhalten Dritter, auf das psychisch reagiert wird. Dieses ist in Gestalt der Behandlung durch die Mutter im Elternhaus und später während der häuslichen Besuche nach der Heimeinweisung sowie im Kinderheim ebenso eindrucksvoll wie erschreckend dargestellt. Auch ist es ohne weiteres nachvollziehbar, dass die medizinischen Untersuchungen und orthopädischen Eingriffe von einem der Situation hilflos ausgelieferten Kind als traumatisierend empfunden wurden. Für all dies ist jedoch die Einnahme von Thalidomid durch die Mutter eine zwar notwendige, aber doch nur mittelbare Voraussetzung. Traumatisierend ist nicht das Medikament, sondern das Verhalten anderer Menschen.
23Es bedarf hier keiner Entscheidung, ob der Gesetzgeber den Kreis der berücksichtigungsfähigen Schäden um psychische (Folge-)Schäden hätte erweitern können. Denn jedenfalls war und ist eine solche Erweiterung nicht geboten. Der Gesetzgeber hat bei der normativen Umsetzung des Schutzkonzeptes einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Eine Erweiterung der Ersatzleistung über das zuerkannte Maß hinaus ist erst dann (verfassungsrechtlich) geboten, wenn die bestehende Regelung wegen zwischenzeitlich eingetretener Änderungen evident untragbar geworden und der Gesetzgeber gleichwohl untätig geblieben ist. Hiervon kann angesichts der fortlaufenden Anpassungen, namentlich durch die deutliche Erhöhung der Sätze durch das 3. Änderungsgesetz, nicht die Rede sein. Hiermit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass bei der Mehrzahl der Geschädigten bei zunehmendem Lebensalter ein durch Forschungsergebnisse belegter erhöhter Bedarf zum Ausgleich der erlittenen Schäden eingetreten ist. Dass auch diese Erhöhung nicht alle Nachteile ausgleicht, wie die Klägerin ausführt, kann durchaus unterstellt werden. Jedoch begründet das ContStifG keine umfassende Staatshaftung im Sinne eines der zivilrechtlichen Deliktshaftung vergleichbaren Schadensersatzes (z.B. §§ 842, 843 BGB). Dies rechtfertigt eine Begrenzung der Ersatzleistungen nicht nur in Bezug auf die Höhe der Geldleistung, sondern auch mit Blick auf den Kreis der ersatzfähigen Schäden.
24Zur verfassungsrechlichen Bewertung des Entschädigungssystems nach dem ContStifG vgl. BVerfG, Urteil vom 08.07.1976 – 1 BvL 19 und 20/75, 1 BvR 148/75 -, BVerfGE 42, 263-312; Beschluss vom 26.02.2010 – 1 BvR 1541/09, 1 BvR 2685/09 -, juris, VG Köln, Urteil vom 23.09.2010 – 26 K 6648/08 -, jeweils m.w.N., zuletzt: BVerwG, Urteil vom 19.06.2014 – 10 C 1.14 – (Revisionsentscheidung zu Urteil des VG Köln vom 17.01.2013 – 26 K 4264/11 -, juris).
25Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
26Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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Referenzen
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- 26 K 4264/11 1x (nicht zugeordnet)
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- 26 K 6648/08 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 842 Umfang der Ersatzpflicht bei Verletzung einer Person 1x
- 1 BvR 2685/09 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
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- § 13 Abs. 2 ContStifG 1x (nicht zugeordnet)
- § 2 ContStifG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- VwGO § 101 1x
- 1 BvR 148/75 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
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- BGB § 843 Geldrente oder Kapitalabfindung 1x
- 19 und 20/75 1x (nicht zugeordnet)