Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 7 K 7276/12
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
Tatbestand
2Die am 00.00.1959 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung als Contergangeschädigte und die Gewährung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStifG).
3Die Klägerin beantragte unter dem 05.11.2009 bei der Beklagten die Gewährung von Kapitalentschädigung und Conterganrente. Zur Begründung gab sie an, erst nach dem Wechsel ihrer Frauenärztin darauf aufmerksam gemacht worden zu sein, dass ihre körperlichen Schäden conterganbedingt seien. Sie habe dies auch mit ihrer älteren Schwester besprochen, die bestätigt habe, dass ihre Behinderungen auf der Einnahme von Contergan durch die Mutter beruhten. Das Präparat sei der Mutter während der Schwangerschaft 1958 in flüssiger Form verschrieben worden. Auch ihr Vater habe Contergan eingenommen, um besser schlafen zu können. Sie selbst habe auch Contergan erhalten. Ihre Mutter habe sich der Schwester der Klägerin später anvertraut. Sie, die Klägerin, habe ihren Vater auf die Einnahme von Contergan angesprochen. Dieser habe zugegeben, dass der Mutter Contergan verabreicht worden sei. Die Behinderungen der Klägerin habe er immer darauf zurückgeführt, dass die Klägerin am sog. Möbius-Syndrom leide.
4Thalidomidbedingte Fehlbildungen lägen in den angeborenen Gesichtsnervenlähmungen, der Hüftgelenksdysplasie und der Schultergelenksdysplasie.
5Der Beklagte lagen zahlreiche medizinische Unterlagen zur Entscheidung über den Antrag der Klägerin vor. Hinsichtlich der orthopädischen Schäden lag ein Befundbericht von Prof. Dr. Q. vom 11.01.2010 vor, wegen dessen Einzelheiten auf Blatt 26 der medizinischen Akte verwiesen wird. Auf das Vorliegen eines Conterganschadens ging Prof. Dr. Q. nicht ein. PD Dr. H. kommt in seiner Stellungnahme vom 01.08.2010 (Bl. 40 med. Akte) zu dem Ergebnis, dass ein Conterganschaden auf Grundlage der orthopädischen Schäden nicht wahrscheinlich sei. Allerdings gäbe es eine Kombination mit nichtorthopädischen Befunden bei der Klägerin. Hier scheine ihm ein Conterganschaden durch das Zusammentreffen wahrscheinlich.Zum augenärztlichen Fachgebiet lagen drei Stellungnahmen von Prof. Dr. K. vom 22.06.2010, 05.10.2010 und 20.12.2010 vor. In seiner ersten Stellungnahme (Bl. 39 med. Akte) gab Prof. Dr. K. an, die äußere horizontale Augenmuskellähmung könne auf einen Conterganschaden zurückgeführt werden. In seiner Stellungnahme von 05.10.2010 (Bl. 50 med. Akte) präzisiert er, dass „das Retraktionssyndrom (DD: Möbius-Syndrom) sowie die Facialisparese links mit Lidschlussinsuffizienz (...) mit einem Conterganschaden in Einklang zu bringen“ seien. In seiner an die Beklagte gerichtete Stellungnahme vom 20.12.2010 (Bl. 51 med. Akte) hielt er fest, dass die augenärztlichen Diagnosen mit hoher Wahrscheinlichkeit als Conterganschaden einzustufen seien. Bei Anerkennung seien die Schäden mit 12 Punkten zu bewerten.Aus HNO-ärztlicher Sicht äußerte sich Dr. X. unter dem 12.05.2011 (46 med. Akte). Sie bestätigte das Vorliegen einer beidseitigen, wenn auch seitenunterschiedlichen Facialisparese. Diese wäre mit 12 Punkten zu bewerten. Ob die Ursache der Facialisparese wirklich in der Conterganeinnahme der Mutter liege, könne sie nicht entscheiden. Möglicherweise könne eine Vorstellung des Falles bei Prof. Dr. L. Klarheit schaffen, da die Kombination der Nervenläsionen möglicherweise auch syndromatisch bedingt sein könne.
6In ihrer Stellungnahme vom 04.11.2011 (Bl. 54 med. Akte) kam Prof. Dr. L. zu dem Ergebnis, dass ein Zusammenhang der Symptomatik der Klägerin mit einer Thalidomideinnahme der Mutter extrem unwahrscheinlich sei. Aus ihrer Sicht handele es sich bei den Gesichtsnervenlähmungen um das Möbius-Syndrom. Zwar seien Paresen des N. abducens und des N. facialis auch bei Thalidomidembryopathie zu beobachten. Allerdings bestünden in diesen Fällen auch schwere Fehlbildungen der Ohren im Sinne einer Anotie bzw. Mikrotie. Derartige Fehlbildungen weise die Klägerin nicht auf.Der Hüftschaden der Klägerin sei ebenfalls nicht conterganbedingt, da es an thalidomidbedingten Extremitätenfehlbildungen fehle.Gleiches gelte für die Dysplasie beider Schultergelenke. Bei einer thalidomidbedingten Fehlbildung der Schultergelenke müssten zwingend auch deutliche Armfehlbildungen vorliegen.
7Im Wesentlichen unter Wiedergabe der Stellungnahme von Prof. Dr. L. lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 21.11.2011 ab.
8Hiergegen erhob die Klägerin unter dem 01.12.2011 Widerspruch, den sie unter dem 03.02.2012 ausführlich begründete. Mit Schreiben vom 15.03.2012 legte sie eidesstattliche Versicherungen des Vaters und der Schwester vor, in denen diese bestätigten, dass die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft Contergan eingenommen habe.
9Die Beklagte legte den Fall Dr. T. -I. zur Erstellung eines fachärztlichen Gutachtens vor, das dieser unter dem 24.10.2012 (Bl. 87 med. Akte) erstellte. Darin kommt Dr. T. -I. zu dem Ergebnis, dass ein Thalidomidschaden nicht vorliege. Er habe in der Literatur keine Fälle gefunden, in denen das Thalidomidsyndrom bei Schädigung der 6. und 7. Hirnnerven ohne gleichzeitige Beeinträchtigung des Ohres vorkomme. Auch habe er in Schädigungsmustern von über 1000 Einzelschäden bei anerkannten Thalidomidopfern nach Fällen gesucht, die in der Kombination der Einzelschäden dem Fall der Klägerin entsprächen. Auch hierbei sei kein vergleichbarer Fall gefunden worden. Alle Fälle mit Schädigungen der 6. und 7. Hirnnerven wiesen einen zusätzlichen Ohrschaden auf, die meisten außerdem zusätzlich Schäden an den Extremitäten und innere Schäden.
10Unter Hinweis auf dieses Fachgutachten wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Bescheid vom 06.12.2012 zurück.
11Hiergegen hat die Klägerin am 21.12.2012 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen Folgendes vorträgt:
12Sie habe nachvollziehbar dargelegt, dass ihre Behinderungen mit der Conterganeinnahme der Mutter während der Schwangerschaft zusammenhängen könnten. Soweit die Beklagte auf das Vorliegen des Möbius-Syndroms verweise, übersehe sie, dass dieses auch mit Thalidomideinnahme in Verbindung gebracht werden könne. Außerdem passten die Merkmale des Möbius-Syndroms nicht auf die Klägerin, da diese sowohl lächeln könne als auch eine Mimik habe.
13Alle Schäden der Klägerin tauchten in der Punktetabelle der Beklagten auf. Die Schäden könnten auch in unterschiedlichen Zusammenstellungen auftreten.
14Auf Conterganfälle müsse die Beweiserleichterung des § 84 AMG angewandt werden. Diese müsse für die Klägerin insbesondere deshalb gelten, weil in den verschiedenen Gutachten, die dem Gericht vorliegen, mehrere Gutachter der Auffassung seien, dass die Diagnosen und Symptome der Klägerin auf der Einnahme des Conterganmedikaments durch die Mutter beruhen. Die Beklagte stelle überhöhte Beweisanforderungen, indem sie faktische den Ausschluss jeglichen Zweifels fordere.
15Die Stellungnahmen von Prof. Dr. L. und Dr. T. -I. zum Vorliegen des Möbius-Syndroms könnten nicht nachvollzogen werden. Es sei nicht nachgewiesen, dass neben der Schädigung der Hirnnerven auch Ohrschäden hinzukommen müssten. Die Nachforschungen von Dr. T. -I. seien unzureichend. Es müsse von ca. 12.000 Contergan-geschädigten Personen ausgegangen werden. Dr. T. -I. habe lediglich auf einen Bruchteil der Fälle zugreifen können.Die Beklagte habe lediglich die Gutachten berücksichtigt, die zu Lasten der Klägerin ausfielen. Es könne überdies keinen Zufall darstellen, dass die Mutter der Klägerin Thalidomid eingenommen habe und die Klägerin Schäden aufweise, die im Punktekatalog der Beklagten auftauchten, aber dennoch kein Conterganschaden vorliegen solle.
16Die Klägerin leide überdies an X-Beinigkeit, einer kleinen Körpergröße sowie kleinen Händen und Füßen.
17Unter dem 17.04.2014 legte die Klägerin eine weitere Stellungnahme vom Prof. Dr. Q. vom 09.04.2014 vor. Darin hält dieser fest, dass er aufgrund der festgestellten orthopädischen Diagnosen nicht zweifelsfrei zu dem Schluss gekommen sei, dass bei der Klägerin ein Conterganschaden vorliege. Darum sei dies in den Diagnosen auch nicht erwähnt worden. Hier stimme er mit der Einschätzung von PD Dr. H. überein. Es wäre eine ergänzende orthopädische Untersuchung, insbesondere der Hände, erforderlich. Außerdem empfehle er eine humanmedizinische Untersuchung durch ein Institut für medizinische Genetik und Humangenetik.
18Die Klägerin beantragt,
19die Beklagte unter Aufhebung des ablehnenden Bescheides vom 21.11.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2012 zu verpflichten, der Klägerin Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu gewähren.
20Die Beklagte beantragt,
21die Klage abzuweisen.
22Sie tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen und verweist im Wesentlichen auf die angefochtenen Bescheide.
23Sie legt eine ergänzende fachliche Stellungnahme von Prof. Dr. L. vom 28.03.2014 vor. Darin kommt die Gutachterin zu dem Ergebnis, dass eine Thalidomidembryopathie bei der Klägerin höchst unwahrscheinlich sei. Diese folge daraus, dass die Facialisparese mit Ohrmuschelfehlbildungen einhergehen müsste, um einen Thalidomidschaden zu bejahen. Vielmehr entsprächen die bei der Klägerin vorhandenen Fehlbildungen im Gesicht dem Möbius-Syndrom. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Arbeit von Miehlke und Partsch (1963), die 13 Einzelkasuistiken mit fazialen Symptomen aufgelistet haben. Zusätzlich erwähnen sie 11 Beobachtungen aus der Literatur. Alle erwähnten Kinder wiesen Ohrfehlbildungen in Kombination mit Gesichtsnervparesen auf. Wesentlich sei, dass in der Literatur zur fazialen Thalidomidembryopathie lediglich Fälle beschrieben seien, die Gesichtsparesen nur in Kombination mit Ohrmuschelfehlbildungen (Mikrotie, Anotie) aufwiesen. Zwar könne eine pränatale Thalidomidexposition eine faziale Symptomatikkombination auslösen, die an ein Möbius-Syndrom erinnere. Deshalb sei gerade das Möbius-Syndrom eine äußert wichtige und dringend zu beachtende Differentialdiagnose. Beim Möbius-Syndrom handele es sich um ein sporadisch auftretendes, phänotypisch und genetisch heterogenes Syndrom, bei der Thalidomidembryopathie um einen durch Teratogen ausgelöste Symptomkombination. Soweit eine Thalidomidschädigung mit dem Begriff Möbius-Syndrom in Verbindung gebracht werde, handele es sich um eine äußerst unglückliche Verquickung von Begrifflichkeiten, die erst in der neueren Literatur auftauche.
24Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
25Entscheidungsgründe
26Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber nicht begründet.
27Der Bescheid der Beklagten vom 21.11.2011 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 06.12.2012 ist rechtmäßig. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem ContStifG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
28Anspruchsgrundlage für die begehrte Verpflichtung der Beklagten, der Klägerin Leistungen nach dem ContStifG zu gewähren, ist § 12 Abs. 1 ContStifG i.d.F. der Bekanntmachung vom 25.06.2009 (BGBl. I 1537), zuletzt geändert durch das dritte Gesetz zur Änderung des ContStifG (BGBl. I 1847). Nach dieser Vorschrift setzt die Gewährung von Leistungen nach § 13 ContStifG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener der Unmöglichkeit einer über jeden Zweifel erhabenen Kausalitätsfeststellung Rechnung zu tragen.
29Vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschlüsse vom 02.12.2011 – 16 E 723/11 –, vom 25.03.2013 – 16 E 1139/12 – und vom 14.01.2015 – 16 E 435/13 –, juris.
30Aus Sicht der Kammer muss es jedoch mit Wahrscheinlichkeit gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung gegeben sein, die in ursächlichem Zusammenhang mit Fehlbildungen des Antragstellers steht. Würde es dagegen ausreichen, dass Thalidomid als theoretische Ursache für Fehlbildungen nicht auszuschließen ist, ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers von Leistungen aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen.
31Mit der dargestellten Anspruchsgrundlage hat der Gesetzgeber spezielle Anforderungen an den Zusammenhang zwischen Einnahme des thalidomidhaltigen Arzneimittels und den Fehlbildungen der Antragsteller festgelegt, neben denen für die von der Klägerin geforderte Anwendung des § 84 Abs. 2 AMG kein Raum ist. Dies gilt ungeachtet des weiteren Umstandes, dass § 84 AMG keinen Anspruch gegen die öffentliche Hand vermittelt, sondern die Haftung des pharmazeutischen Unternehmers regelt, und seine Anwendung nach § 118 AMG auf Arzneimittel ausgeschlossen ist, die – wie die thalidomidhaltigen Präparate der Grünenthal GmbH – vor dem 01.01.1978 abgegeben worden sind.
32Die Klägerin weist keine Fehlbildungen auf, die nach § 12 Abs. 1 ContStifG einen Anspruch auf Leistungen nach dem ContStifG begründen. Dabei lässt die Kammer dahinstehen, ob die vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen des Vaters und der Schwester der Klägerin eine ausreichende Grundlage für die Annahme bieten, die Mutter der Klägerin habe tatsächlich in der maßgeblichen Zeit der Schwangerschaft Contergan eingenommen. Jedenfalls sind die von der Klägerin geltend gemachten Fehlbildungen von ihrem „Erscheinungsbild“,
33vgl. zu dessen Bedeutung für die Annahme einer ursächlichen Verbindung: Begründung des Gesetzesentwurfs über die Errichtung einer nationalen Stiftung „Hilfswerk für das behinderte Kind“, BT-Drs. VI/926, S. 8 zu § 13,
34her nicht so beschaffen, dass sie zumindest mit Wahrscheinlichkeit mit einer Conterganeinnahme der Mutter in Verbindung stehen. Die Fehlbildungen der Klägerin entsprechen nicht den charakteristischen thalidomidbedingten Fehlbildungen. Sie sind in der bei der Klägerin vorliegenden Form auch nicht vereinzelt im Zusammenhang mit der Einnahme von Thalidomid während der Schwangerschaft der Mutter festgestellt worden.
35Vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 14.01.2015 – 16 E 435/13 –, juris.
36Hiervon ist die Kammer nach Auswertung sämtlicher ärztlichen Stellungnahmen, insbesondere der von der Medizinischen Kommission der Beklagten eingeholten und im gerichtlichen Verfahren ergänzten gutachterlichen Stellungnahmen überzeugt.
37Die orthopädischen Schädigungen der Klägerin im Bereich der Schulter- und Hüftgelenke sind nicht mit der Einnahme von Thalidomid in Verbindung zu bringen. So sind die schriftlichen Äußerungen von PD Dr. H. vom 01.08.2010 dahingehend zu verstehen, dass aus orthopädischer Sicht ein Conterganschaden unwahrscheinlich sei. Für die Annahme eines thalidomidtypischen Fehlbildungsmusters bei den festgestellten Fehlbildungen der Schultergelenke müssten Schäden an den Händen hinzukommen. Soweit PD Dr. H. hinzufügt, „evtl. in Kombination mit Hypoplasie des 1. Strahls“ ist festzuhalten, dass weder er noch der zuvor untersuchende Prof. Dr. Q. eine solche Hypoplasie (= Unterentwicklung) des 1. Strahls bei der Klägerin festgestellt haben. Die bei der Klägerin bestehende Hüftdysplasie sieht PD Dr. H. als auch „sonst sehr häufig“ an, was nach dem Verständnis der Kammer gerade keine Befürwortung eines Thalidomidschadens darstellt. Soweit PD Dr. H. mit Blick auf die Kombination mit nichtorthopädischen Fehlbildungen ein Conterganschaden wahrscheinlich erscheint, stellt er dies zugleich unter den Vorbehalt einer positiven Festlegung der anderen Fachkollegen. Eine belastbare und mit einer – wenn auch äußerst knappen – Begründung versehene Aussage von PD Dr. H. zum Vorliegen eines Conterganschadens lässt sich vor diesem Hintergrund nur in Bezug auf sein Fachgebiet der Orthopädie entnehmen.Prof. Dr. L. , die als Humangenetikerin in der medizinischen Kommission der Beklagten zur fachübergreifenden Beurteilung des Vorliegens eines Conterganschadens herangezogen wird, hat in ihren gutachterlichen Stellungnahmen vom 04.11.2011 und 28.03.2014 eingehend und nachvollziehbar dargelegt, dass sowohl die Hüftgelenks- als auch die Schultergelenksschäden der Klägerin mangels Extremitätenfehlbildungen nicht als Conterganschäden einzuordnen seien. Das von Prof. Dr. L. und PD Dr. H. zur Beurteilung herangezogene Fehlbildungsmuster entspricht den gutachterlichen Aussagen auch in anderen bei der Kammer anhängigen Verfahren und ist durch entsprechende Fachquellen untermauert.
38Vgl. Smithells/Newman, Recognition of thalidomide defects J. Med. Genet. 1992, 29, 716, 718; Henkel/Willert, Dysmelia – A classification and pattern of malformation in a group of congenital defects of the limbs, journal of Bone & Joint Surgery 51 B, 399,401; Q. , Thalidomid-Embryopathie: eine vielfältige Katastrophe, Pädiatrie hautnah, 2014, 44, 46.
39Danach liegt bei Thalidomidembryopathie ein Fehlbildungsmuster an den oberen Extremitäten vor, das eine Knochenreduktion von distal nach proximal aufweist und radial (daumenseitig) und longitudinal ausgeprägt ist. Es finden sich primär Fehlbildungen beider Daumen, bei stärkerer Schädigung auch Fehlbildungen der Radii und in der Folge auch Schädigungen von Humeri, Glenohumeralgelenken (Schultergelenke), Ulnae und ulnaren Fingern. Die proximale Schädigung der Klägerin in Form der Schultergelenksdysplasie entspricht nicht diesem Schädigungsmuster.Mit Blick auf Schäden an den Hüftgelenken beschreiben Smithells/Newman, dass selten auch angeborene Hüftluxationen ohne Deformationen der unteren Extremitäten auftreten können. Allerdings sind auch nach dieser Fachmeinung Schäden im Bereich der unteren Gliedmaßen bei normal entwickelten oberen Gliedmaßen ungewöhnlich.
40Vgl. Smithells/Newman, Recognition of thalidomide defects J. Med. Genet. 1992, 29, 716 ff.
41Nicht-thalidomidbedingte Hüftschäden hingegen kommen, worauf PD Dr. H. und Prof. Dr. L. hinweisen, auch sonst häufig vor. Schließlich zieht auch Prof. Dr. Q. in seiner fachärztlichen Stellungnahme vom 11.01.2010 aus dem Vorliegen von Hüftschädigungen bei der Klägerin nicht den Schluss auf einen Conterganschaden.Die Kammer sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass die obigen Erkenntnisse überholt oder unvollständig sind. Sie entsprechen vielmehr dem anerkannten Wissensstand insbesondere auch zu den Fehlbildungsmustern bei Thalidomidembryopathie. Mit Blick auf den zeitlichen Abstand zu den Geburten der thalidomidgeschädigten Kinder dürfen diese Muster der angeborenen Fehlbildungen als gefestigt bezeichnet werden.
42Eine weitere orthopädische Begutachtung der Klägerin war durch das Gericht nicht zu veranlassen. Der entsprechenden Empfehlung von Prof. Dr. Q. 09.04.2014 sowie der daran anknüpfenden Beweisanregung der Klägerin folgt die Kammer nicht. Es fehlt an Anhaltspunkten, die eine Beweiserhebung über weitere orthopädische Schäden, insbesondere an den Händen der Klägerin, erforderlich machen. Die Klägerin ist bereits am 06.01.2010 durch Prof. Dr. Q. in seiner Spezialsprechstunde für Contergan-Geschädigte und Dysmelie-Patienten untersucht worden. Dort stellte Prof. Dr. Q. neben den bereits bekannten Diagnosen noch eine Dysplasie beider Hüftgelenke fest. Schäden an den Händen oder Armen der Klägerin wurden weder festgestellt noch wurde ein entsprechender Verdacht geäußert. Dass Prof. Dr. Q. die Hände der Klägerin untersucht hat, ergibt sich aus der Feststellung im Gutachten, dass der Faustschluss beidseits komplett sei und keine Strahldefekte vorlägen. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Begehren der Klägerin nach einer weiteren orthopädischen Begutachtung als Ausforschung dar, ob nicht doch noch ein orthopädischer Schaden entdeckt werden könne, der auf eine Conterganschädigung schließen ließe. Dem entspricht es, dass Prof. Dr. Q. für seine Empfehlung zur weiteren Untersuchung keine Begründung abgibt.
43Auch die Facialis- und Abducensparese der Klägerin ist nicht mit der Einnahme von Thalidomid durch die Mutter der Klägerin während der Schwangerschaft in Verbindung zu bringen. Davon ist die Kammer nach Auswertung der gutachterlichen Stellungnahmen von Prof. Dr. L. vom 04.11.2011 und 28.03.2014 und Dr. T. -I. vom 24.10.2012 überzeugt. Beide Mitglieder der medizinischen Kommission der Beklagten haben nachvollziehbar dargelegt, dass die bei der Klägerin vorhandenen Fehlbildungen im Gesicht nur dann auf einer Conterganeinnahme beruhen können, wenn zugleich Fehlbildungen an den Ohren hinzukämen. Dies schlussfolgern sie aus Beispielen der Literatur sowie eigenen Falldokumentationen. Insbesondere in ihrer Stellungnahme vom 28.03.2014 setzt sich Prof. Dr. L. mit der Fachliteratur zu Gesichtsparesen aufgrund von Thalidomideinnahme auseinander und weist darauf hin, dass alle dort beschriebenen Fälle Ohrmuschelfehlbildungen aufwiesen. Nach Miehlke/Partsch, die insgesamt 24 Kinder aus eigenen Fällen oder Mitteilungen von Kollegen zum Gegenstand ihrer Untersuchung machten, tritt die thalidomidbedingte Facialis- und Abducensparese in Kombination mit Ohrmissbildungen auf.
44Vgl. Miehlke/Partsch, Ohrmißbildung, Facialis- und Abducenslähmung als Syndrom der Thalidomidschädigung, Archiv für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfheilkunde, Nr. 181, 1963, 154 ff.
45Auch Dr. T. -I. konnte bei Nachforschung in seiner eigenen Fallsammlung, bestehend aus über 1000 Einzelschäden, keinen Fall einer Schädigung des 6. und 7. Hirnnervens finden, in dem nicht zugleich Fehlbildungen an den Ohren vorlagen. Die Kammer verkennt nicht, dass Dr. T. -I. lediglich 4 Fälle in seiner Datenbank mit vergleichbaren Hirnnervenschäden finden konnte. Allerdings stehen die Ergebnisse – wie gezeigt – im Einklang mit den Untersuchungen von Miehlke/Partsch aus 24 Fällen. Diese Zahlen mögen mit Blick auf die Gesamtzahl der Geburten von Kindern mit thalidomidbedingten Missbildungen nicht sonderlich hoch erscheinen. Jedoch ist bei der Einordnung der Schäden in typische Fehlbildungsmuster zu berücksichtigen, dass auch kein einziger Fall bekannt ist, in dem die thalidomidbedingte Facialisparese ohne Missbildung an den Ohren aufgetreten ist. Auch für Smithells/Newman handelt es sich bei der Kombination von Facialisparese mit Anotie oder Mikrotie (= Ohrmuschelfehlbildungen) um ein typisches Fehlbildungsmuster.
46Vgl. Smithells/Newman, Recognition of thalidomide defects J. Med. Genet. 1992, 29, 716 ff.
47Bestätigt wird dies letztlich auch mit Blick auf den Fehlbildungszeitplan, aus dem sich ergibt, dass die kritische Phase für das Auftreten von Augenmuskel- und Hirnnervenlähmung aufgrund von Thalidomid-Einwirkung vollständig in den Zeitraum für die Entstehung von Ohrmuschelfehlbildungen fällt.
48Vgl. Fehlbildungszeitplan, u.a. abrufbar unter http://contergan-karlsruhe.de/fbtabelle.html.
49Soweit demgegenüber Prof. Dr. K. in seiner augenärztlichen Stellungnahme vom 20.12.2010 das Vorliegen eines Conterganschadens für wahrscheinlich hält, kann dem mangels Auseinandersetzung mit dem Fehlen von Ohrmuschelfehlbildungen, mithin dem Abweichen von einem typischen Fehlbildungsmuster, nicht gefolgt werden. Aus welchem Grund Prof. Dr. K. die noch mit Schreiben vom 05.10.2010 gegenüber der Klägerin erwähnte Differential-Diagnose Möbius-Syndrom im späteren Schreiben vom 20.12.2010 an die Beklagte nicht mehr erwähnt, kann mit Blick auf die obigen Ausführungen dahinstehen.
50Der in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Einwand der Klägerin, dass das Fehlen einer Ohrmuschelfehlbildung nicht feststehe, führt zu keiner anderen Bewertung. Die Klägerin selbst hat einen fachärztlichen Untersuchungsbericht der HNO-Ärzte Dres. Arlt/Leibecke vom 21.03.2011 vorgelegt. Ohrschädigungen konnten bei der fachärztlichen Untersuchung nicht festgestellt werden. Auch wenn die Klägerin auf eine zügige Untersuchung durch den Arzt hinweist, kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass ein Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde bei einer Untersuchung auf seinem Spezialgebiet eine Ohrmuschelfehlbildung nicht erkennt. Jedenfalls bietet allein die Vermutung der Klägerin, sie sei nur oberflächlich untersucht worden, keine Anhaltspunkte für eine gerichtlich zu veranlassende Untersuchung der Klägerin auf Fehlbildungen an den Ohren, für die es nach fachärztlicher Untersuchung keine Anzeichen gibt.
51Auch der Behauptung der Klägerin, dass das Möbius-Syndrom durch Thalidomideinnahme ausgelöst werden könne, muss nicht weiter nachgegangen werden. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass die Klägerin selbst das Vorliegen des Möbius-Syndroms verneint. Denn das Möbius-Syndrom zeigt sich, worauf Prof. Dr. L. in ihrer Stellungnahme vom 28.03.2014 unter Bezugnahme auf bisher bekannte Einzelsymptome in der Datenbank OMIM hinweist, in unterschiedlicher Form. Auch beim Möbius-Syndrom können Ohrfehlbildungen auftreten. Soweit einige Symptome des Möbius-Syndroms denen der Thalidomidembryopathie entsprechen, mag es – worauf Prof. Dr. L. hinweist – zu einer äußerst unglücklichen Vermischung der Begrifflichkeiten kommen. Aus Sicht der Kammer fehlt es weiterhin an Anhaltspunkten, die das thalidomid-typische Fehlbildungsmuster der Kombination von Ohrmuschelfehlbildungen mit Facialis- und Abducensparese in Frage stellen. Für die Annahme, dass die für das Möbius-Syndrom typischen Symptome ohne Fehlbildungen der Ohrmuscheln durch Thalidomideinnahme ausgelöst werden, ist nichts ersichtlich.
52Der Anregung der Klägerin nach Einholung eines weiteren humangenetischen Gutachtens musste nicht gefolgt werden. Der Kammer liegen bereits Stellungnahmen von Prof. Dr. L. auf humangenetischem Fachgebiet vor. Diese sind hinreichend geeignet, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Sie weisen keine auch für den Nichtsachkundigen erkennbaren (groben) Mängel auf, beruhen vielmehr auf dem anerkannten Wissensstand insbesondere auch zu den Fehlbildungsmustern bei der Thalidomidembryopathie. Sie gehen von zutreffenden tatsächlichen Verhältnissen aus, enthalten keine unlösbaren Widersprüche und geben keinen Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit der Gutachter.
53Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 06.02.2012 – 1 A 1337/10 –; BVerwG, Beschluss vom 09.08.1983 – 9 B 1024/83 –.
54Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- 1 A 1337/10 1x (nicht zugeordnet)
- 16 E 723/11 1x (nicht zugeordnet)
- 16 E 435/13 2x (nicht zugeordnet)
- 16 E 1139/12 1x (nicht zugeordnet)
- 9 B 1024/83 1x (nicht zugeordnet)