Urteil vom Verwaltungsgericht Köln - 22 K 4264/20.A
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Beklagte.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung abwenden gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet
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Tatbestand
2Der Kläger besitzt die Staatsangehörigkeit der Republik Türkei und nimmt für sich die kurdische Volkszugehörigkeit in Anspruch. Er verließ nach eigenen Angaben die Türkei am 23. August 2019 mit einem Boot in Richtung türkisch-griechischer Grenze und gelangte mit Hilfe eines Schleusers am nächsten Tag nach Athen. Dort hielt er sich zwei Tage auf. Der Schleuser gab ihm einen griechischen Pass. Mit diesem reiste er am 26. August 2019 mit dem Flugzeug in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 14. Oktober 2019 einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung am 23. Oktober 2019 in Bonn trug er im Wesentlichen vor: Die Reise habe sein Vater, der als Lehrer gearbeitet habe, finanziert. Sein Vater sitze derzeit im Gefängnis. Er habe an einer Gülen-Schule gearbeitet. Diese sei vom Staat zwangsweise geschlossen worden, so dass sein Vater 2014/2015 seinen Arbeitsplatz verloren habe. Daraufhin hätten sie umziehen müssen. In E. F. habe er dann als Direktor in einer Import-/Exportfirma gearbeitet. Er selbst sei dann auf ein „Gülenkolleg“ gewechselt und habe dort Abitur gemacht. Am 15. Juli 2016 sei es dann zu dem Putsch gekommen. Einen Monat später seien Polizisten gekommen und hätten seinen Vater mitgenommen. Mehr als einen Monat hätten sie nichts von ihm gehört. Sie seien dann zu seinen Großeltern gezogen. Da auch andere Verwandte dorthin kamen, hätten sie eine andere Wohnung gesucht. Sein Onkel habe ihm dann ein WG-Zimmer besorgen können. Dort habe er mit anderen Schülern in seinem Alter gewohnt. Dort sei es zu einer nächtlichen Durchsuchung durch die Polizei und zu seiner Verhaftung gekommen. Er selbst sei zwölf Tage in Polizeigewahrsam gewesen. Von der Verhaftung existierten Foto- und Videoaufnahmen. Er sei dann auf Bewährung entlassen worden, allerdings sei das Strafverfahren weitergegangen. Sein Vater sei schließlich zu acht Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt worden. In seinem eigenen Strafverfahren sei er ein Jahr später wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation zu vier Jahren und zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Im Rahmen seiner Befragung legte der Kläger dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) unter anderem folgende Unterlagen vor:
3- Anklageschrift (Seiten 1 und 2 von insgesamt 11 Seiten) UYAP-Ausdruck in Kopie vom 22. Dezember 2017 (12 Tage Haft vom 07.10. bis 18.10.2017; Anklage Terrorverdacht wegen Mitgliedschaft bei Gülen);
4- Urteil (Seiten 1 und 2 von insgesamt 11 Seiten) UYAP-Ausdruck in Kopie vom 19. Februar 2019;
5- Fotos zu einer Verhaftung.
6Mit Bescheid vom 13. Juli 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000), dem Kläger am 4. August 2020 ausgehändigt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab (Ziffer 2). Es erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft noch den subsidiären Schutzstatus an (Ziffern 1 und 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4). Es drohte die Abschiebung in die Türkei an (Ziffer 5) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus: Der Kläger habe seine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Obwohl er im Februar 2019 zu vier Jahren und zwei Monaten Haft verurteil worden sei, habe er sich bis zu seiner Ausreise im August 2019 in der Türkei aufgehalten. Dass gegen ihn kein Haftbefehl vorgelegen haben solle, erscheine angesichts der Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung bemerkenswert. Bei einer solchen Verurteilung sei zu erwarten gewesen, dass die Behörden zeitnah gegen ihn vorgegangen wären. Im Übrigen widerspreche diese Darstellung den Kenntnissen des Bundesamts. Eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung bestehe insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraden seien, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der Gülen-Bewegung oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen würden. Vorliegend habe der Kläger nicht überzeugend dargelegt, dass er tatsächlich in den Fokus der türkischen Behörden geraten sei. Er habe keine Angaben hinsichtlich der Gülen-Bewegung, insbesondere inwieweit er selbst für diese aktiv gewesen sei, machen können. Seine Ausführungen zu den gegen ihn gerichteten Verfolgungshandlungen durch den türkischen Staat erschienen insgesamt nicht nachvollziehbar. Zwar habe er Dokumente zu seiner Anklage sowie zu einem Urteil und einem Widerruf vorgelegt, diese allerdings nur in Kopie. Die Herkunft der vorgelegten Dokumente sei nicht nachvollziehbar, so dass sie nicht geeignet seien, die Ausführungen des Klägers zu stützen. Auch verstricke sich der Kläger hierbei in Widersprüche.
7Der Kläger hat am 6. August 2020 Klage erhoben.
8Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: Er besitze einen Zugang zum UYAP-System und könne darüber sämtliche gegen ihn ergangenen Entscheidungen der türkischen Justiz vorlegen. Aus den gegen ihn ergangenen Urteilen ergebe sich, dass er wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung verurteilt worden sei. Auch werde darauf verwiesen, dass sein Vater Gülen-Anhänger und deswegen verhaftet worden sei. Auch lägen mittlerweile weitere Anklagen bzw. Festnahmebefehle gegen ihn vor. Zur weiteren Begründung legt der Kläger im gerichtlichen Verfahren folgende Unterlagen vor:
9- Urteil des 9. Strafgerichts in L. vom 00. 00. 0000;
10- Berufungsurteil der 2. Zivilkammer des Kreisgerichts L. vom 00. 00. 0000;
11- Schreiben des Strafverteidigers Rechtsanwalt D. E.;
12- Beschluss (Erlass eines Haftbefehls) des 2. Amtsgerichts für Strafsachen T. vom 00. 00. 0000;
13- Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft T. vom 00. 00. 0000 wegen Beleidigung des Präsidenten.
14Der Kläger beantragt,
15die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
16hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
17sowie weiter hilfsweise die Beklagte unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juli 2020 (Gesch.-Z.: 0000000-000) zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Türkei vorliegen.
18Die Beklagte beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den angefochtenen Bescheid.
21Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen.
23Entscheidungsgründe
24Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
25Die Klage ist mit ihrem Hauptantrag begründet.
26Ziffer 1 des Bescheids des Bundesamtes vom 13. Juli 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Ihm steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
27Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
28Im Einzelnen sind definiert die Verfolgungshandlungen in § 3a AsylG, die Verfolgungs-gründe in § 3b AsylG und die Akteure, von denen eine Verfolgung ausgehen kann bzw. die Schutz bieten können, in den §§ 3c, 3d AsylG. Einem Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, der nicht den Ausschlusstatbeständen nach § 3 Abs. 2 AsylG oder nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unterfällt oder der den in § 3 Abs. 3 AsylG bezeichneten anderweitigen Schutzumfang genießt, wird die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt (§ 3 Abs. 4 AsylG). Als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Zwischen den Verfolgungsgründen (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i. V. m. § 3b AsylG) und den Verfolgungshandlungen – den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen, § 3a AsylG – muss für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
29Eine Verfolgung i. S. d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
30Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist, gilt einheitlich der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“), der demjenigen der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht.
31Vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25/10 –, juris, Rn. 22.
32Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungs-weise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.
33Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23/12 –, juris, Rn. 32.
34Es ist Sache des Asylbewerbers, die Gründe für seine Furcht vor politischer Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatland politische Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissenstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden.
35Vgl. BVerwG, Beschluss vom 3. August 1990 – 9 B 45.90 –, juris, Rn. 2; OVG NRW, Urteil vom 14. Februar 2014 – 1 A 1139/13.A –, juris, Rn. 35.
36Gemessen an diesen Grundsätzen konnte der Einzelrichter die Überzeugung gewinnen, dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Landes befindet. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit bzw. Zurechnung zur sog. Gülen-Bewegung.
37Die vom islamischen, seit 1999 im Exil in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen 1969 gegründete Bewegung war lange Zeit eng mit der AKP verbunden und hat durch ihr Engagement im Bildungsbereich über Jahrzehnte ein islamisches Bildungs- und Elitenetzwerk aufgebaut, aus dem die AKP nach der Regierungsübernahme 2002 Personal für die staatlichen Institutionen rekrutierte, um die kemalistischen Eliten zurückzudrängen. Im Dezember 2013 kam es zum politischen Zerwürfnis zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, als Staatsanwälte und Richter, die der Gülen-Bewegung zugerechnet wurden, Korruptionsermittlungen gegen die Familie des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan sowie Minister seines Kabinetts aufnahmen. Seitdem wirft die Regierung Gülen und seiner Bewegung vor, die staatlichen Strukturen der Türkei unterwandert zu haben. Seit Ende 2013 hat die Regierung in mehreren Wellen Zehntausende mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung in diversen staatlichen Institutionen suspendiert, versetzt, entlassen oder angeklagt. Die Regierung hat ferner Journalisten strafrechtlich verfolgt und Medienkonzerne, Banken und auch andere Privatunternehmen durch die Einsetzung von Treuhändern zerschlagen und teils enteignet. Die türkische Regierung hat die Gülen-Bewegung als terroristische Organisation eingestuft, die sie „FETÖ“ oder auch „FETÖ/PDY“ nennt („Fethullahistische Terrororganisation/ Parallele Staatliche Struktur“)
38Vgl. dazu Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24. August 2020, Seite 4 (im Folgenden: Lagebericht AA).
39Nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes dauert die systematische Verfolgung mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung an. In der Regel reicht das Vorliegen eines der vorliegenden Indizien, um eine strafrechtliche Verfolgung als mutmaßlicher „Gülenist“ einzuleiten:
40- Nutzung der verschlüsselten Kommunikations-App ByLock;
41- Geldeinlage bei der Bank Aysa nach dem 25.12.2013;
42- Abonnement bei der Nachrichtenagentur Cihan oder der Zeitung Zaman;
43- Spenden an den Gülen-Strukturen zugeordnete Wohltätigkeitsorganisationen;
44- Besuch Gülen zugeordneter Schulen durch Kinder;
45- Kontakte zu Gülen zugeordneten Gruppen/Organisationen/Firmen (inkl. abhängige Beschäftigte);
46- Teilnahme an religiösen Versammlungen der Gülen-Bewegung.
47Eine Verurteilung setzt nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes in der Regel das Zusammentreffen mehrerer dieser Indizien voraus.
48Vgl. Lagebericht AA, Seite 9.
49Unter Berücksichtigung dieser Sachlage ist in Bezug auf den Kläger festzustellen, dass diesem unabhängig von der Frage, ob in seiner Person eines oder mehrere der vorstehenden Kriterien erfüllt sind, nicht nur eine Strafverfolgung droht, sondern er bereits wegen der Zurechnung zur Gülen-Bewegung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden ist. Dies ergibt sich aus dem vom Kläger vorgelegten Urteil des 9. Strafgerichts in Konya vom 19. Februar 2019. Darin stützt das Gericht die Mitgliedschaft des Klägers in der Gülen-Bewegung zum einen auf den Umstand, dass sein Vater aufgrund von Handlungen für die Gülen-Bewegung festgenommen worden sei, und zum anderen auf die Tatsache, dass der Kläger in den Wohnungen der Gülen-Bewegung gewohnt habe, obwohl er vom Hintergrund der Gründung dieser Wohngesellschaften in Kenntnis gewesen sei. Wörtlich führt das Gericht aus:
50„Der Aufenthalt in einer der Alibi-Wohnungen der Organisation nach dem Putschversuch vom 15. Juli, die Kontaktaufnahme mit Organisationsmitgliedern, das gemeinsame Leben mit dem Organisator Ayhan Gündem weisen die Voraussetzungen für ein Organisationsmitglied auf. Obwohl auch der Vater des Beklagten verhaftet und vom Dienst suspendiert wurde, ist er in eine Wohnung der Organisation gezogen, hat sich hier aufgehalten und somit mit Vorsatz die Straftat begangen. Aufgrund dessen wurde die Verurteilung des Beklagten beschlossen.“
51Angesichts dieses Urteils sowie der zahlreichen anderen vom Kläger vorgelegten Unterlagen hat das erkennende Gericht keine Zweifel am Wahrheitsgehalt der geschilderten Geschehnisse. Der Vortrag des Klägers stellt sich als uneingeschränkt glaubhaft dar. Damit besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in die Türkei Opfer von Verfolgungsmaßnahmen seitens des türkischen Staates wird.
52Der Auffassung des Bundesamts, wonach der Vortrag des Klägers und die vorgelegten Beweismittel nicht ausreichten, um eine begründete Furcht vor Verfolgung darzutun, ist nicht zu folgen. Das Bundesamt verkennt, dass nicht nur Personen mit exponierter Stellung innerhalb der Gülen-Bewegung Verfolgung droht, sondern die Maßnahmen richten sich auch gegen jene, denen eine nicht näher definierte angebliche Nähe zur Gülen-Bewegung vorgeworfen wird.
53Vgl. Lagebericht AA, Seite 5.
54Der Auffassung des Bundesamtes, der Kläger sei bislang nicht in den Fokus der türkischen Justiz geraten, vermag das Gericht ebenfalls nicht zu folgen. Angesichts der Verurteilung wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung erscheint diese Auffassung kaum vertretbar zu sein. Soweit das Bundesamt darauf abstellt, dass die vorgelegten Unterlagen nicht geeignet seien, den Vortrag des Klägers zu stützen, weil er die Urteile nur teilweise und nur in Kopie vorgelegt habe, hat sich dieser Einwand durch die Vorlage des gesamten Urteils im gerichtlichen Verfahren erübrigt. Weitere Gesichtspunkte, die gegen die Eignung der vorgelegten Unterlagen sprechen könnten, hat das Bundesamt nicht vorgetragen. Solche sind auch nicht ersichtlich.
55Auch der Einwand des Bundesamtes, es erscheine „lebensfremd“, dass der Kläger nach seiner Verurteilung im Februar 2019 bis zu seiner Ausreise im August 2019 auf freiem Fuß gewesen sei, wird durch das vorgelegte Urteil entkräftet. Denn im Rahmen der Strafzumessung wird unter Punkt 7 die Anwendung einer einjährigen Bewährungsfrist nach Artikel 221 Absatz 5 des türkischen Strafgesetzbuches ausgesprochen. In dieser Vorschrift heißt es (in der im Internet verfügbaren englischen Übersetzung):
56„Anyone who benefits under provisions for effective contrition shall be subject to probation for a term of one year.“ (In deutscher Übersetzung lautet die Vorschrift sinngemäß: „Wer nach den Bestimmungen zur effektiven Reue profitiert, unterliegt der Probezeit von einem Jahr.“)
57Die Anwendung dieser Vorschrift steht auch im Einklang mit den gerichtlichen Feststellungen. Wörtlich führt das Gericht insoweit aus:
58„Der Beklagte hat angegeben, er möchte seine Rechte im Rahmen der Bestimmungen für die Reue in Anspruch nehmen. In diesem Rahmen hat er Informationen über sich und die Handlungen und die Positionierungen weiterer Personen innerhalb der Organisation angegeben. Er hat bestimmte Personen identifiziert. Somit bestehen die Voraussetzungen für die Beanspruchung von Rechten im Rahmen der Bestimmungen für die Reue. Dabei wurde die Persönlichkeit, die die Position innerhalb der Organisation, die Bedeutung der Informationen und weitere Aspekte berücksichtigt und es wurde eine Strafminderung von 1/3 vorgesehen.“
59Dass sich der Kläger nach seiner Verurteilung im Februar 2019 bis zur seiner Ausreise im August 2019 noch auf freiem Fuß befand, ist also nicht „lebensfremd“, sondern entspricht der türkischen Rechtslage.
60Da dem Kläger ein Anspruch auf Flüchtlingsschutz zukommt, braucht über die gegenüber § 3 AsylG nachrangigen Gewährleistungen des § 4 AsylG und des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht mehr entschieden zu werden. Die weiteren negativen Entscheidungen wie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG sind daher ebenfalls aufzuheben.
61Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
62Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 Satz 2 ZPO.
63Rechtsmittelbelehrung
64Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn
65- 66
1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
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2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
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3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.
70Auf die ab dem 1. Januar 2022 unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV) wird hingewiesen.
71Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 VwGO im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.
72Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.
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Referenzen
- 10 C 25/10 1x (nicht zugeordnet)
- 1 A 1139/13 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 55a, 55d VwGO 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 67 1x
- VwGO § 55a 1x
- 10 C 23/12 1x (nicht zugeordnet)