Beschluss vom Verwaltungsgericht Köln - 18 K 6502/19; 18 K 6555/19; 18 K 6558/19 und 18 K 6559/19
Tenor
I. Dem Gerichtshof der Europäischen Union (Gerichtshof) werden gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Fragen zur Auslegung der Richtlinie 2012/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. November 2012 zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums (RL 2012/34/EU) zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU dahin auszulegen, dass eine Entgeltregelung auch dann tauglicher Beschwerdegegenstand sein kann, wenn der Geltungszeitraum für das zu überprüfende Entgelt bereits abgelaufen ist (Beschwerde gegen ein sog. Altentgelt)?
2. Wenn Frage 1. mit Ja beantwortet wird: Ist Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU dahin auszulegen, dass die Regulierungsstelle bei einer ex-post-Kontrolle von Altentgelten diese mit ex-tunc-Wirkung für unwirksam erklären kann?
3. Wenn Fragen 1. und 2. mit Ja beantwortet werden: Lässt die Auslegung des Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU eine nationale Regelung zu, die eine Möglichkeit der ex-post-Kontrolle von Altentgelten mit ex-tunc-Wirkung ausschließt?
4. Wenn Fragen 1. und 2. mit Ja beantwortet werden: Ist Art. 56 Abs. 9 RL 2012/34/EU dahin auszulegen, dass die dort vorgesehenen Abhilfemaßnahmen der zuständigen Regulierungsstelle auf Rechtsfolgenseite dem Grunde nach auch die Anordnung der Rückzahlung von rechtswidrig erhobenen Entgelten durch den Infrastrukturbetreiber eröffnet, obwohl Rückzahlungsansprüche zwischen Eisenbahnunternehmen und Infrastrukturbetreiber auf dem Zivilrechtsweg eingefordert werden können?
5. Wenn Frage 1. oder 2. mit Nein beantwortet wird: Ergibt sich ein Beschwerderecht gegen Altentgelte jedenfalls dann aus Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) und Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), wenn ohne eine Beschwerdeentscheidung der Regulierungsstelle nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) eine Erstattung von rechtswidrigen Altentgelten nach den Regelungen des nationalen Zivilrechts ausgeschlossen ist?
II. Die Verfahren werden bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über die vorgelegten Fragen ausgesetzt.
1
Gründe
2- 3
I. Sachverhalt
- 5
1. Die Klägerinnen sind bzw. waren öffentliche, nicht-bundeseigene Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), die in mehreren Regionen des Bundesgebiets und zum Teil im benachbarten Ausland Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr (SPNV) anbieten. Dabei nutz(t)en sie für die Erbringung der Verkehrsleistung das Schienennetz der Beigeladenen.
- 6
2. Die Beigeladene gehört zum bundeseigenen Konzern Deutsche Bahn AG und betreibt das größte Schienennetz in der Bundesrepublik Deutschland. Für die Nutzung ihrer Schienenwege erhebt sie Entgelte, die aufgrund von individuell geschlossenen Rahmennutzungsverträgen gegenüber den Klägerinnen gelten. Diese Trassenentgelte werden auf Basis der Entgeltgrundsätze in den jeweils von der Beigeladenen einseitig erstellten geltenden Schienennetz-Nutzungsbedingungen (SNB) einschließlich der jeweils geltenden Entgeltliste erhoben. Für jede Netzfahrplanperiode (NFP) erstellt die Beigeladene ein Trassenpreissystem (TPS), aus dem sich das zu entrichtende Entgelt ergibt. Eine NFP und damit auch die jeweiligen Trassenentgelte gelten für die Dauer eines Jahres.
- 7
3. Die Beklagte ist die oberste deutsche Regulierungsbehörde.
- 8
4. Die Klageverfahren sind Folge des Urteils des Gerichtshofs vom 9. November 2017 (CTL Logistics, C-489/15, EU:C:2017:834), wonach zivilrechtliche Erstattungsansprüche nur möglich sind, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts zuvor von der Regulierungsstelle oder einem Gericht, das deren Entscheidung überprüft hat, im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden ist.
- 9
5. Die Klägerinnen begehren im Rahmen einer Beschwerdeentscheidung, dass die Beklagte von der Beigeladenen erhobene Altentgelte im Rahmen einer ex-post-Kontrolle auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft. Im Einzelnen betroffen sind vorliegend die NFP 2002/2003 bis 2010/2011. Bestandteil der TPS für diese Jahre war auch ein sog. Regionalfaktor, den die Beigeladene zum 1. Januar 2003 einführte. Die Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Entgelte wird u.a. mit Blick auf diesen Regionalfaktor seit jeher zwischen den Beteiligten – und einer Vielzahl weiterer EVU – kontrovers diskutiert. Die Entgelte wurden seitens der EVU deshalb teilweise lediglich unter Vorbehalt gezahlt oder auch gekürzt und einbehalten.
- 10
6. Die Entgelthöhen und Entgeltgrundsätze unterlagen im Zeitraum ihrer Geltung einer Vorabprüfung durch die Regulierungsbehörde (ex-ante-Kontrolle), der im Falle rechtswidriger Regelungen ein Widerspruchsrecht nach dem Allgemeinen Eisenbahngesetz der jeweils geltenden Fassung (AEG a.F.) zustand. Erst seit Einführung des Eisenbahnregulierungsgesetzes (ERegG) sind Entgelthöhen und Entgeltgrundsätze genehmigungspflichtig.
- 11
7. Für die vorliegend betroffenen Entgeltzeiträume machte die Beklagte von ihrem Widerspruchsrecht im Rahmen der Vorabprüfung keinen Gebrauch. Seit 2008 unterzog die Beklagte das TPS der Beigeladenen verschiedenen Überprüfungen, insbesondere auch mit Blick auf die Rechtmäßigkeit der Regionalfaktoren.
- 12
8. Erstmalig mit Bescheid vom 5. März 2010 erklärte die Beklagte die Regelungen der Beigeladenen über die Erhebung des Regionalfaktors in ihren SNB ab dem 12. Dezember 2010 (Beginn der NFP 2010/2011) für ungültig. In diesem Bescheid verwies die Beklagte für die finanzielle (Rück-)Abwicklung der Entgeltregelungen auf den Zivilrechtsweg. Nachdem die Beigeladene Widerspruch eingelegt hatte, schloss die Beklagte am 30. Juli 2010 mit der Beigeladenen einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, mit dem der vorhergehende Bescheid aufgehoben und zudem vereinbart wurde, dass die Beigeladene die Regionalfaktoren ab dem 11. Dezember 2011 nicht mehr und ausgewählte Regionalfaktoren ab dem 12. Dezember 2010 nur noch in reduzierter Höhe erheben werde.
- 13
9. Währenddessen war es lange Zeit herrschende – bis hoch zum obersten deutschen Zivilgericht – nationale Zivilgerichtspraxis, dass die Zivilgerichte die vereinbarten Infrastrukturnutzungsentgelte nach nationalem Zivilrecht im Einzelfall inter partes auf ihre Billigkeit hin überprüften, im Falle der Unbilligkeit für unwirksam erklärten und etwaige Zahlungsansprüche der Infrastrukturbetreiber ablehnten bzw. Rückzahlungsansprüchen der EVU stattgaben (vgl. BGH, Urteil vom 18. Oktober 2011, KZR 18/10). Eine überwiegende Zahl der betroffenen EVU machte von der Möglichkeit der zivilrechtlichen Klage Gebrauch, von denen die meisten jedoch noch nicht rechtskräftig entschieden worden sind. Die Klägerinnen hingegen haben – jedenfalls für den überwiegenden Teil der streitigen Zeiträume – bisher davon abgesehen, entsprechende Klagen vor den Zivilgerichten anhängig zu machen.
- 14
10. Auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Berlin zur Auslegung der – in den hier erheblichen Punkten im Wesentlichen gleichlautenden – Richtlinie 2001/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2001 über die Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung (RL 2001/14/EG) entschied der Gerichtshof mit Urteil vom 9. November 2017 (CTL Logistics, C-489/15, EU:C:2017:834), dass eine unabhängig vom Eisenbahnregulierungsrecht vorgenommene auf den Einzelfall abstellende zivilrechtliche Billigkeitskontrolle im Widerspruch zum Diskriminierungsverbot des Art. 4 Abs. 5 RL 2001/14/EG stehe. Eine Erstattung von Entgelten nach den Vorschriften des Zivilrechts komme nur in Betracht, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts mit der Regelung über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zuvor von der Regulierungsstelle oder einem Gericht, das deren Entscheidung überprüft hat, im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden sei und der Anspruch auf Erstattung Gegenstand einer Klage vor den nationalen Zivilgerichten sein könne und nicht der in der genannten Regelung vorgesehenen Klage.
- 15
11. Daraufhin stellten die Klägerinnen sowie eine Vielzahl weiterer EVU im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nach § 66, § 68 ERegG bei der Beklagten den Antrag, die Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Entgelte festzustellen sowie teilweise die Beigeladene zur Rückzahlung der zu viel gezahlten Entgelte zu verpflichten.
- 16
12. Die Beklagte lehnte die Anträge mit mehreren im Wesentlichen gleich lautenden Beschlüssen vom 11. Oktober 2019, 3. Juli 2020 und 11. Dezember 2020 ab. Zur Begründung führte sie an, die Anträge seien unstatthaft und damit unzulässig, da sie keinen tauglichen Verfahrensgegenstand beträfen und die begehrten Rechtsfolgen nicht von einer Ermächtigungsgrundlage gedeckt seien. Effektiver Rechtsschutz habe den Zugangsberechtigten während der Geltung der betroffenen Entgelte im Zeitraum der entsprechenden NFP zugestanden (ex-ante-Prüfung). Weder dem Unionsrecht noch der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei zu entnehmen, dass der regulierungsrechtliche Rechtsschutz bis hin zur ex-post-Überprüfung von Altentgelten reiche. Eine Rückabwicklung könne vielfältige Herausforderungen verursachen, die ihrerseits die Berufsfreiheit und den Wettbewerb beeinträchtigen könnten.
- 17
13. Mit ihren am 6. bzw. 9. November 2019 beim vorlegenden Gericht erhobenen Klagen begehren die Klägerinnen – und in weiteren Verfahren eine Vielzahl weiterer EVU – die Verpflichtung der Beklagten, die Unwirksamkeit der Infrastrukturnutzungsentgelte mit Wirkung für die Vergangenheit und daran anknüpfende Rückzahlungspflichten der Beigeladenen insoweit festzustellen, als die Entgelte auf Regionalfaktoren beruhten. Der Wortlaut des auf die streitgegenständlichen Beschwerden anwendbaren Art. 56 RL 2012/34/EU sei bewusst weit gefasst, um die Entscheidungsbefugnis der Regulierungsstelle weit zu halten, so dass auch Altentgelte ein tauglicher Beschwerdegegenstand seien. Es seien die Regulierungsziele des Unionsrechts, wie das des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, in den Blick zu nehmen, dessen Wahrung oberste Aufgabe der Regulierungsstelle sei. Insoweit sei ein effektiver Rechtsschutz zu gewährleisten, Art. 47 GRCh. Das Verhalten der Beklagten, die Beschwerden der Klägerinnen als unzulässig abzulehnen, blockiere jedoch das gestufte Rechtsschutzsystem, das der Gerichtshof in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) vorgesehen habe. Die Entscheidung der Beklagten führe zu einer Perpetuierung der durch die rechtswidrigen Entgelte verursachten Wettbewerbsbeeinträchtigungen.
- 18
14. Die Beigeladene wehrt sich mit dem Argument gegen die Klage, es habe seinerzeit ausreichend effektiven Rechtsschutz gegeben, den die Klägerinnen hätten nutzen können. Das Vorabprüfungsverfahren unter der RL 2001/14/EG habe eine nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit mit rückwirkender Wirkung entbehrlich gemacht.
- 19
15. Währenddessen wurden die bei den nationalen Zivilgerichten anhängigen (Rück-)Zahlungsklagen nach der Entscheidung des Gerichtshofs vom 9. November 2017 (CTL Logistics, C-489/15, EU:C:2017:834) teils bis zum Bestehen einer bestandskräftigen Entscheidung der Regulierungsstelle – um die es vorliegend geht – ausgesetzt. Teils wurden die Verfahren vor den nationalen Zivilgerichten weiter verhandelt und die Ansprüche dabei nunmehr auf (unionsrechtliches) Kartellrecht gestützt. In diesem Zusammenhang ist auf nationaler Ebene durch den Bundesgerichtshof höchstrichterlich im Nachgang an die vorgenannte Entscheidung des Gerichtshofs entschieden worden, dass Ansprüche auf Kartellschadensersatz nach Art. 102 AEUV oder auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung nicht durch nationales oder europäisches Eisenbahnregulierungsrecht ausgeschlossen seien. Zur Geltendmachung dieser Ansprüche sei daher auch keine vorherige regulierungsbehördliche Feststellung erforderlich (vgl. nur BGH, Urteil vom 29. Oktober 2019 – KZR 39/19 – Trassenentgelte I).
- 20
16. Das Kammergericht Berlin sieht dies anders und hat mit Beschluss vom 10. Dezember 2020 (Az.: 2 U 4/12 Kart) dem Gerichtshof Fragen dazu vorgelegt, ob eine Überprüfung eisenbahnrechtlicher Zugangsentgelte am Maßstab des Art. 102 AEUV und/oder des nationalen Kartellrechts mit der RL 2001/14/EG vereinbar sei. Dieses Vorabentscheidungsverfahren (DB Station & Service, C-721/20) ist zum Zeitpunkt der hiesigen Vorlage noch nicht entschieden. In einem weiteren Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof (Urteil vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie, C-120/20, EU:C:2021:553) hat dieser zur Frage der Entscheidung eines ordentlichen Gerichts über die Höhe von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastrukturen entschieden, dass die Bestimmungen des Art. 30 Abs. 2, 5 und 6 RL 2001/14/EG, der im Wesentlichen den Nachfolgebestimmungen in Art. 56 RL 2012/34/EU gleicht, unmittelbare Wirkung entfalten können.
- 21
17. Aus den insgesamt 32 beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren, die die nachträgliche Überprüfung von Infrastrukturnutzungsentgelten für die Nutzung des Schienennetzes der Beigeladenen sowie der Personenbahnhöfe der DB Station & Service AG (Beigeladene in anderen Klageverfahren) betreffen und im Wesentlichen vergleichbar sind, hat das Gericht zum Zwecke der Vorlage der oben genannten Fragen an den Gerichtshof diejenigen ausgewählt, für die sich weder aus Gründen der Rechtshängigkeit eines parallelen Zivilverfahrens und des insofern anhängigen Vorabentscheidungsersuchens des Kammergerichts Berlin (DB Station & Service, C-721/20) noch wegen Besonderheiten in der Person des Klägers/der Klägerin zum Zeitpunkt der Vorlage an den Gerichtshof Zweifel an der Zulässigkeit der verwaltungsgerichtlichen Klage ergeben.
- 22
18. Vor einer Entscheidung über die verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren erscheint es zweckmäßig, die Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs zu den in der Entscheidungsformel gestellten Fragen einzuholen, weil die Sachentscheidung von der Beantwortung der Vorlagefragen abhängt.
- 24
II. Rechtlicher Rahmen
Charta der Grundrechte der Europäischen Union
26- 27
19. Art. 47 GRCh lautet:
„Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht
29Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
30Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Jede Person kann sich beraten, verteidigen und vertreten lassen.
31Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“
32Vertrag über die Europäische Union
33- 34
20. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV lautet:
„Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.“
36RL 2012/34/EU
37- 38
21. Erwägungsgrund 34 RL 2012/34/EU lautet:
„Um Transparenz und einen nichtdiskriminierenden Zugang zu den Eisenbahnfahrwegen und Leistungen in Serviceeinrichtungen für alle Eisenbahnunternehmen sicherzustellen, sollten alle für die Wahrnehmung der Zugangsrechte benötigten Informationen in den Schienennetz-Nutzungsbedingungen veröffentlicht werden. Die Schienennetz-Nutzungsbedingungen sollten der international gängigen Praxis entsprechend in mindestens zwei Amtssprachen der Union veröffentlicht werden.“
40- 41
22. Erwägungsgrund 42 RL 2012/34/EU lautet:
„Bei den Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden und so weit wie möglich angestrebt werden, den Bedürfnissen aller Nutzer und Verkehrsarten gerecht und ohne Diskriminierung zu entsprechen. Diese Regelungen sollten einen fairen Wettbewerb bei der Erbringung von Eisenbahnverkehrsdiensten ermöglichen.“
43- 44
23. Erwägungsgrund 76 RL 2012/34/EU lautet:
„Die effiziente Verwaltung und gerechte und nichtdiskriminierende Nutzung der Eisenbahninfrastruktur erfordern die Einrichtung einer Regulierungsstelle, die über die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie wacht und als Beschwerdestelle fungiert, unbeschadet der Möglichkeit gerichtlicher Nachprüfung. Diese Regulierungsstelle sollte ihre Informationsanfragen und Entscheidungen mit geeigneten Sanktionen durchsetzen können.“
46- 47
24. Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU lautet:
„Aufgaben der Regulierungsstelle
49(1) Ist ein Antragsteller der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er unbeschadet des Artikels 46 Absatz 6 das Recht, die Regulierungsstelle zu befassen, und zwar insbesondere gegen Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers oder gegebenenfalls des Eisenbahnunternehmens oder des Betreibers einer Serviceeinrichtung betreffend:
50a) den Entwurf und die Endfassung der Schienennetz-Nutzungsbedingungen;
51b) die darin festgelegten Kriterien;
52c) das Zuweisungsverfahren und dessen Ergebnis;
53d) die Entgeltregelung;
54e) die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die er zu zahlen hat oder hätte;
55f) die Zugangsregelungen gemäß Artikel 10 bis 13;
56g) den Zugang zu Leistungen gemäß Artikel 13 und die dafür erhobenen Entgelte.
57(6) Die Regulierungsstelle gewährleistet, dass die vom Infrastrukturbetreiber festgesetzten Entgelte dem Kapitel IV Abschnitt 2 entsprechen und nichtdiskriminierend sind. Verhandlungen zwischen Antragstellern und einem Infrastrukturbetreiber über die Höhe von Wegeentgelten sind nur zulässig, sofern sie unter Aufsicht der Regulierungsstelle erfolgen. Die Regulierungsstelle hat einzugreifen, wenn bei den Verhandlungen ein Verstoß gegen die Bestimmungen dieses Kapitels droht.
58(9) Binnen eines Monats ab Erhalt einer Beschwerde prüft die Regulierungsstelle die Beschwerde und fordert gegebenenfalls einschlägige Auskünfte an und leitet Gespräche mit allen Betroffenen ein. Innerhalb einer vorab bestimmten angemessenen Frist, in jedem Fall aber binnen sechs Wochen nach Erhalt aller sachdienlichen Informationen entscheidet sie über die betreffenden Beschwerden, trifft Abhilfemaßnahmen und setzt die Betroffenen über ihre begründete Entscheidung in Kenntnis. Unbeschadet der Zuständigkeiten der nationalen Wettbewerbsbehörden für die Sicherstellung des Wettbewerbs in den Schienenverkehrsmärkten entscheidet sie gegebenenfalls von sich aus über geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von Antragstellern, Marktverzerrung und anderer unerwünschter Entwicklungen in diesen Märkten, insbesondere in Bezug auf Absatz 1 Buchstaben a bis g.
59Entscheidungen der Regulierungsstelle sind für alle davon Betroffenen verbindlich und unterliegen keiner Kontrolle durch eine andere Verwaltungsinstanz. Die Regulierungsstelle muss ihre Entscheidungen durchsetzen können und gegebenenfalls geeignete Sanktionen, einschließlich Geldbußen, verhängen können.
60Wird die Regulierungsstelle mit einer Beschwerde wegen der Verweigerung der Zuweisung von Fahrwegkapazität oder wegen der Bedingungen eines Angebots an Fahrwegkapazität befasst, entscheidet die Regulierungsstelle entweder, dass keine Änderung der Entscheidung des Infrastrukturbetreibers erforderlich ist, oder schreibt eine Änderung dieser Entscheidung gemäß den Vorgaben der Regulierungsstelle vor.“
61Nationales Eisenbahnregulierungsgesetz (ERegG)
62- 63
25. § 66 Abs. 1, 3, 4 ERegG lautet:
„Die Regulierungsbehörde und ihre Aufgaben
65(1) Ist ein Zugangsberechtigter der Auffassung, durch Entscheidungen eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so hat er unabhängig von § 52 Absatz 7 das Recht, die Regulierungsbehörde anzurufen.
66(3) Kommt eine Vereinbarung über den Zugang oder über einen Rahmenvertrag nicht zustande, können die Entscheidungen des Eisenbahninfrastrukturunternehmens durch die Regulierungsbehörde auf Antrag des Zugangsberechtigten oder von Amts wegen überprüft werden. Der Antrag ist innerhalb der Frist zu stellen, in der das Angebot zum Abschluss von Vereinbarungen nach § 13 Absatz 1 Satz 2 oder § 54 Satz 3 angenommen werden kann.
67(4) Überprüft werden können auf Antrag oder von Amts wegen insbesondere
681. der Entwurf und die Endfassung der Schienennetz-Nutzungsbedingungen,
692. der Entwurf und die Endfassung der Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen,
703. die darin festgelegten Kriterien,
714. das Zuweisungsverfahren und dessen Ergebnis,
725. die Entgeltregelung,
736. die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat oder hätte,
747. die Höhe und Struktur sonstiger Entgelte, die der Zugangsberechtigte zu zahlen hat oder hätte,
758. die Zugangsregelungen nach den §§ 10, 11 und 13,
769. Entscheidungen zum Verkehrsmanagement hinsichtlich möglicher Verstöße gegen das Eisenbahnregulierungsrecht,
7710. Entscheidungen über die Art und Weise der Erneuerungen und von geplanten und ungeplanten Instandhaltungen hinsichtlich möglicher Verstöße gegen das Eisenbahnregulierungsrecht, wobei die jeweiligen Planungen von der Überprüfung mit umfasst sind; § 9 des Bundeseisenbahnverkehrsverwaltungsgesetzes bleibt unberührt; und
7811. die Erfüllung der Anforderungen der §§ 8 bis 8d, einschließlich der Anforderungen in Hinsicht auf Konflikte zwischen den Interessen von Eisenbahnverkehrsunternehmen und Eisenbahninfrastrukturunternehmen.“
79- 80
26. § 67 Abs. 1 ERegG lautet:
„Befugnisse der Regulierungsbehörde, Überwachung des Verkehrsmarktes, Vollstreckungsregelungen
82(1) Die Regulierungsbehörde kann gegenüber Eisenbahnen und den übrigen nach diesem Gesetz Verpflichteten die Maßnahmen treffen, die erforderlich sind, um Verstöße gegen dieses Gesetz oder unmittelbar geltende Rechtsakte der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes zu beseitigen oder zu verhüten. Vollstreckt die Regulierungsbehörde ihre Anordnungen, so beträgt die Höhe des Zwangsgeldes abweichend von § 11 Absatz 3 des Verwaltungs-Vollstreckungsgesetzes bis zu 500 000 Euro.“
83- 84
27. § 68 ERegG lautet:
„Entscheidungen der Regulierungsbehörde
86(1) Binnen eines Monats ab Erhalt einer Beschwerde prüft die Regulierungsbehörde die Beschwerde. Dazu fordert sie von den Betroffenen die für die Entscheidung erforderlichen Auskünfte an und leitet Gespräche mit allen Betroffenen ein. Innerhalb einer vorab bestimmten angemessenen Frist, in jedem Fall aber binnen sechs Wochen nach Erhalt aller erforderlichen Informationen entscheidet sie über die Beschwerde, trifft Abhilfemaßnahmen und setzt die Betroffenen von ihrer Entscheidung, die zu begründen ist, in Kenntnis. Unabhängig von den Zuständigkeiten der Kartellbehörden entscheidet sie von Amts wegen über geeignete Maßnahmen zur Verhütung von Diskriminierung und Marktverzerrung.
87(2) Beeinträchtigt im Fall des § 66 Absatz 1 oder 3 die Entscheidung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens das Recht des Zugangsberechtigten auf Zugang zur Eisenbahninfrastruktur, so
881. verpflichtet die Regulierungsbehörde das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung der Entscheidung oder
892. entscheidet die Regulierungsbehörde über die Geltung des Vertrags oder des Entgeltes, erklärt entgegenstehende Verträge für unwirksam und setzt die Vertragsbedingungen oder Entgelte fest.
90Die Entscheidung nach Satz 1 kann auch Schienennetz-Nutzungsbedingungen oder Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen betreffen.
91(3) Die Regulierungsbehörde kann mit Wirkung für die Zukunft das Eisenbahninfrastrukturunternehmen zur Änderung von Maßnahmen im Sinne des § 66 Absatz 4 verpflichten oder diese Maßnahmen für ungültig erklären, soweit diese nicht mit den Vorschriften dieses Gesetzes oder unmittelbar geltenden Rechtsakten der Europäischen Union im Anwendungsbereich dieses Gesetzes in Einklang stehen.“
92- 93
III. Entscheidungserheblichkeit und Rechtswertung
- 95
28. Die Sachentscheidung der beim vorlegenden Gericht anhängigen und im Hinblick auf die hiesige Vorlage ausgesetzten verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren hängt von der Auslegung der RL 2012/34/EU ab (unten 1.). Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist die Richtlinie in Fortführung der Rechtsprechung des Gerichtshofs dahingehend auszulegen, dass sie eine Überprüfung von Altentgelten vorsieht bzw. gebietet und eine Entscheidung mit ex-tunc Wirkung ermöglicht (unten 2.). Rückzahlungsansprüche sind hingegen ausschließlich auf dem Zivilrechtsweg zu verfolgen (unten 3.).
- 96
29. 1. Die vorgelegten Fragen sind für die vorliegend betroffenen Rechtsstreite entscheidungserheblich.
- 97
30. Der Erfolg der anhängigen Klagen hängt zunächst maßgeblich von der Beantwortung der Fragen 1. und 2. ab. Mit diesen will das vorlegende Gericht klären lassen, ob Art. 56 RL 2012/34/EU dahin auszulegen ist, dass den Klägerinnen eine Beschwerdemöglichkeit mit dem Ziel einer ex-post-Kontrolle sogenannter Altentgelte mit Wirkung für die Vergangenheit zusteht. Die Beklagte hat die erhobenen Beschwerden als unzulässig abgewiesen und damit eine materiell-rechtliche Entscheidung in der Sache abgelehnt. Sollte die Beschwerdemöglichkeit der Klägerinnen dem Grunde nach bestehen, so ist die Beklagte gehalten, die Rechtmäßigkeit der strittigen Entgelte ex-post zu prüfen, das Ergebnis mit erga omnes Wirkung festzuhalten und ggf. weitere hieran anknüpfende Rechtsfolgen auszusprechen. Dabei kann dahinstehen, ob die nationalen Ermächtigungsgrundlagen in §§ 66 ff. ERegG europarechtskonform ausgelegt werden müssen oder die Richtlinienvorschrift in Art. 56 RL 2012/34/EU unmittelbar anzuwenden ist (vgl. zur unmittelbaren Anwendbarkeit: EuGH, Urteil vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie, C-120/20, EU:C:2021:553, Rn. 58).
- 98
31. Frage 3. wirft die Frage einer nationalen Abweichungsbefugnis auf.
- 99
32. Frage 4. richtet den Blick darauf, wie unwirksame Entgelte rückabgewickelt werden können. Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) geht davon aus, dass zivilgerichtliche Rückzahlungsansprüche eine vorherige öffentlich-rechtliche Entgeltkontrolle verlangen. Zu klären ist, ob der Regulierungsstelle auf Rechtsfolgenseite aus Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU die Befugnis zukommt, selbst Rückzahlungsansprüche festzusetzen, um ein mögliches Neben- bzw. Hintereinander von mehreren Rechtswegen zu vermeiden.
- 100
33. Sollte eine Beschwerdemöglichkeit dem Grunde nach nicht bestehen (Frage 1. wird verneint), die Beschwerde auf Rechtsfolgenseite nicht zu einer Unwirksamkeitserklärung ex tunc führen können (Frage 1. wird bejaht, Frage 2. wird verneint) oder eine nationale Abweichungsbefugnis angenommen werden (Frage 1. und 3. werden bejaht), so ist mit Frage 5. jedenfalls für die konkrete Einzelfallkonstellation, die aus den Rechtswirkungen der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) entstanden ist, zu klären, ob die Beklagte die Beschwerde als unstatthaft hätte verwerfen dürfen oder eine Sachentscheidung zu erlassen war.
- 101
34. Da sowohl der Wortlaut der nationalen Ermächtigungsgrundlagen in §§ 66 ff. ERegG als auch der entsprechenden Richtlinienvorschrift in Art. 56 RL 2012/34/EU zumindest teilweise offen gehalten ist und sich auch nach den herkömmlichen Auslegungsmethoden (Historie, Systematik, Sinn und Zweck) keine eindeutigen Schlüsse ziehen lassen, hält das vorlegende Gericht eine Auslegung des entsprechenden unionsrechtlichen Richtlinienrechts durch den Gerichtshof für angezeigt.
- 102
35. 2. Es stellt sich demnach im Ausgangspunkt die Frage, ob nach Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU die Regulierungsstelle die Kompetenz bzw. sogar die Pflicht hat, Altentgelte mit Wirkung für die Vergangenheit auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist dies zu bejahen.
- 103
36. a) Ausgehend vom Wortlaut der auszulegenden unionsrechtlichen Vorschrift ist festzustellen, dass dieser die vorliegend betroffene Konstellation der mutmaßlich rechtswidrigen Altentgelte auf Tatbestandsebene ebenso erfasst wie er die Möglichkeit der Überprüfung dieser Entgelte mit Wirkung für die Vergangenheit auf Rechtsfolgenebene zulässt. Der Wortlaut der Vorschrift ist äußerst weit gefasst und erlaubt, wenn nicht sogar suggeriert, ein weites Verständnis der der Regulierungsstelle eingeräumten Befugnisse. Art. 56 RL 2012/34/EU, der mit „Aufgaben der Regulierungsstelle“ überschrieben ist, skizziert den Rahmen der der Regulierungsstelle obliegenden Aufgaben und in diesem Kontext zugleich auch der ihr zu diesem Zwecke zur Verfügung stehenden Kompetenzen.
- 104
37. Die von der Richtlinienvorschrift an die Beschwerdekonstellation gestellten tatbestandlichen Anforderungen erfassen ohne weiteres eine etwaige Rechtsverletzung durch rechtswidrige Altentgelte. Auf Tatbestandsseite knüpft Art. 56 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RL 2012/34/EU an die Auffassung eines Antragstellers an, „ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein“. Diese Formulierung ist in mehrfacher Hinsicht offen und lässt die dahinterstehende Intention des Richtliniengebers vermuten, einen möglichst breiten Anwendungsbereich für das Beschwerderecht der Eisenbahnunternehmen zu eröffnen. Indem die Aufzählung der für das Beschwerderecht relevanten Sachverhalte neben den beiden beispielhaft genannten Alternativen „ungerecht behandelt“ und „diskriminiert“ als Auffangkonstellation „auf andere Weise in seinen Rechten verletzt“ nennt, wird die Beschwerdemöglichkeit nach dem Richtlinienrecht auf jede denkbare Situation der Rechtsverletzung auf Seiten des Eisenbahnunternehmens erstreckt. Die Formulierung „worden zu sein“ bringt dabei zum Ausdruck, dass der Erfolg der Rechtsverletzung – gleich ob durch ungerechte Behandlung, Diskriminierung oder auf andere Weise – beim Beschwerdeführer, jedenfalls nach seiner Auffassung, bereits eingetreten sein muss. Hieraus kann der Rückschluss gezogen werden, dass Konstellationen des vorbeugenden Rechtsschutzes, in denen der Beschwerdeführer der Auffassung ist, zukünftig in seinen Recht verletzt zu werden, nach dieser Vorschrift noch nicht das Recht des Eisenbahnunternehmens begründen, die Regulierungsstelle zu befassen. Dieses Verständnis wird auch dadurch bestätigt, dass der vorbeugende Rechtsschutz gesondert in Art. 56 Abs. 2 Satz 2 RL 2012/34/EU aufgegriffen wird. Wird mit der Formulierung in Art. 56 Abs. 1 Satz 1 RL 2012/34/EU lediglich das Erfordernis aufgestellt, dass der Erfolg der irgendwie gearteten Rechtsverletzung bereits eingetreten ist, erfasst diese Formulierung jedenfalls alle gegenwärtigen, aber durchaus auch alle in der Vergangenheit liegenden Rechtsverletzungen. Dieser breite Anwendungsbereich auf Tatbestandsseite wird auch nicht dadurch eingeschränkt, dass der zweite Halbsatz der Vorschrift eine Aufzählung derjenigen Szenarien enthält, die „insbesondere“ die Beschwerdemöglichkeit eröffnen. Dieser Halbsatz stellt lediglich dar, welche Szenarien nach den Vorstellungen des Richtliniengebers vor allem zu einem Beschwerderecht des Eisenbahnunternehmens führen, regelt diese aber keinesfalls abschließend.
- 105
38. Auf Rechtsfolgenseite räumt die Vorschrift der Regulierungsstelle einen breiten Gestaltungsspielraum ein, der durchaus auch die Unwirksamkeitserklärung von Entgeltregelungen mit Wirkung für die Vergangenheit zulässt. Hinsichtlich der in Betracht kommenden Rechtsfolgen normiert Art. 56 Abs. 6 Satz 1 RL 2012/34/EU, dass die Regulierungsstelle „gewährleistet, dass die vom Infrastrukturbetreiber festgesetzten Entgelte dem Kapitel IV Abschnitt 2 entsprechen und nicht diskriminierend sind“, und Art. 56 Abs. 9 UAbs. 1 Satz 2 RL 2012/34/EU weiter, dass die Regulierungsstelle jedenfalls binnen sechs Wochen nach Erhalt aller sachdienlichen Informationen „Abhilfemaßnahmen“ trifft. Nach Art. 56 Abs. 9 UAbs. 1 Satz 3 RL 2012/34/EU entscheidet die Regulierungsstelle gegebenenfalls über „geeignete Maßnahmen zur Korrektur von Fällen der Diskriminierung von Antragstellern“. Die von der Regulierungsstelle nach diesen Vorschriften getroffene Rechtsfolge muss gemäß Art. 56 Abs. 9 UAbs. 2 Satz 2 RL 2012/34/EU von der Regulierungsstelle durchgesetzt werden können, wobei sie gegebenenfalls geeignete Sanktionen, einschließlich Geldbußen, verhängen können muss. Die vorgenannten Formulierungen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie allesamt offen und weit gehalten sind, sondern vor allem dadurch, dass sie zielorientiert sind. Der Fokus des Richtliniengebers lag offensichtlich darauf, sicherzustellen, dass es der Regulierungsstelle – mit den ihr durch ebendiese Norm eingeräumten Befugnissen – in jedem Fall möglich ist, Abhilfemaßnahmen zu treffen und durchzusetzen, die gewährleisten, dass die von den Infrastrukturbetreibern einseitig festgesetzten Entgelte nicht diskriminierend sind. Unter „Abhilfemaßnahme“ könnte dabei so ziemlich jede Maßnahme der Regulierungsstelle gefasst werden, die zu dem erwünschten Erfolg einer diskriminierungsfreien Entgeltregelung führt. Als Form der „Korrektur von Fällen der Diskriminierung“ dürfte in der Kompetenz der Regulierungsstelle nicht nur die Unwirksamkeitserklärung einer diskriminierenden Entgeltregelung mit Wirkung für die Zukunft zu sehen sein, sondern, weil diesem Begriff eine Richtigstellung des Vergangenen immanent ist, insbesondere auch die Abschaffung ihrer bisherigen Wirkung durch Unwirksamkeitserklärung mit Wirkung für die Vergangenheit.
- 106
39. b) Sinn und Zweck der Vorschrift stützen die vorstehende Wortlautauslegung und bekräftigen das Erfordernis eines breiten Anwendungsbereichs des Beschwerderechts auf Tatbestandsseite einerseits sowie umfassender Kompetenzen der Regulierungsstelle auf Rechtsfolgenseite andererseits. Die Zielrichtung der Richtlinie 2012/34/EU im Allgemeinen bzw. ihres Art. 56 im Konkreten lässt sich insbesondere den Erwägungsgründen der Richtlinie entnehmen. Gemäß Erwägungsgrund 34 zielt die Richtlinie darauf ab, Transparenz und einen nichtdiskriminierenden Zugang zu den Eisenbahnfahrwegen und Leistungen in Serviceeinrichtungen für alle Eisenbahnunternehmen sicherzustellen. Speziell bei Entgelt- und Kapazitätszuweisungsregelungen sollte gemäß Erwägungsgrund 42 der Richtlinie allen Unternehmen ein gleicher und nichtdiskriminierender Zugang geboten werden. Dem Erfordernis, eine effiziente Verwaltung und gerechte und nichtdiskriminierende Nutzung der Eisenbahninfrastruktur sicherzustellen, entspricht gemäß Erwägungsgrund 76 die Einrichtung einer Regulierungsstelle. Danach soll die Regulierungsstelle über die Anwendung der Vorschriften dieser Richtlinie wachen und als Beschwerdestelle fungieren. Der Blick in die Erwägungsgründe verdeutlicht, dass eines der mit der Richtlinie verfolgten Hauptregulierungsziele darin besteht, den nichtdiskriminierenden Zugang der Eisenbahnunternehmen zur Eisenbahninfrastruktur zu gewährleisten, und dass der Regulierungsstelle die Aufgabe obliegt, die Verwirklichung dieses Ziels zu überwachen. Steht nun wie in der vorliegenden Konstellation in Rede, dass eine Entgeltregelung diskriminierend ist, dann verstößt diese Regelung offensichtlich gegen das soeben genannte Regulierungsziel, und es ist an der Regulierungsstelle, diesen Verstoß zu beseitigen und zukünftig zu verhindern. Ebendiesem Auftrag dient die extensive Auslegung der Ermächtigungsvorschrift des Art. 56 Abs. 1, 6 und 9 RL 2012/34/EU. Je weiter das Beschwerderecht der Eisenbahnunternehmen einerseits und die Kompetenzen der Regulierungsstelle andererseits reichen, desto umfassender und effizienter lassen sich die Regulierungsziele der Richtlinie erreichen. Wieso das Ziel, mittels diskriminierungsfreien Zugangs materielle Gerechtigkeit herzustellen, nur für den jeweiligen Geltungszeitraum eines Entgelts bzw. einer Netzfahrplanperiode gelten soll, lässt sich mithilfe des Sinns und Zwecks der Vorschrift dagegen ebenso wenig erklären wie – wie dargestellt – mithilfe des Wortlauts derselben.
- 107
40. c) Auch die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nur so verstehen, dass eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Altentgelten durch die Regulierungsstelle möglich und geboten ist. In der Rechtssache CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) heißt es in Randnummer 97 zur Auslegung der Richtlinie 2001/14/EG – die die Vorgängerrichtlinie der hier einschlägigen Richtlinie 2012/34/EU und bezüglich der Aufgaben und Kompetenzen der Regulierungsstelle im Wesentlichen gleichlautend war –: „Die Erstattung von Entgelten nach den Vorschriften des Zivilrechts kommt also nur in Betracht, wenn die Unvereinbarkeit des Entgelts mit der Regelung über den Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zuvor von der Regulierungsstelle oder von einem Gericht, das die Entscheidung dieser Stelle überprüft hat, im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts festgestellt worden ist und der Anspruch auf Erstattung Gegenstand einer Klage vor den nationalen Zivilgerichten sein kann und nicht der in der genannten Regelung vorgesehenen Klage.“ Indem der Gerichtshof dort von der „Erstattung“ von Entgelten spricht, offenbart er konkludent, dass auch er das Verständnis teilt, dass nach unionsrechtlichem Eisenbahnregulierungsrecht eine Rückabwicklung von Infrastrukturnutzungsentgelten grundsätzlich in Betracht kommt. Das von der Beklagten sowie der Beigeladenen ins Feld geführte Argument, mit dem Passus „im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts“ habe der Gerichtshof ausdrücken wollen, die nationalen Gesetzgeber hätten bei Umsetzung des Richtlinienrechts in nationales Recht insofern einen Gestaltungsspielraum, als sie entscheiden könnten, ob eine rückwirkende Überprüfung von Altentgelten möglich und geboten sei oder nicht, überzeugt nicht. Denn der vorstehend zitierte Passus der Entscheidung dürfte nicht dahin zu verstehen sein, dass der nationale Gesetzgeber befugt ist, den unionsrechtlich vorgesehen Rechtsbehelf der Beschwerde der Eisenbahnunternehmen seinem Wesen nach zu begrenzen. Schon aus Gründen des Effektivitätsgebots (effet utile) erscheint es ausgeschlossen, dass ein zur Gewährleistung der Richtlinienziele so wesentliches Element wie das Beschwerderecht der Eisenbahnunternehmen bzw. die Abhilfekompetenz der Regulierungsstelle im Rahmen der Umsetzung auf nationaler Ebene beschränkt werden kann.
- 108
41. d) Vorliegend streitet auch der Gedanke des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47 GRCh, Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV für eine Auslegung zugunsten einer rückwirkenden Überprüfungsmöglichkeit von Altentgelten durch die Regulierungsstelle. Ganz konkret in den vorliegenden Verfahren käme es nämlich dazu, dass die Klägerinnen im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs in Sachen CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) vollkommen rechtsschutzlos gestellt wären, wenn sie nicht die Möglichkeit der Überprüfung der Altentgelte mit ex-tunc-Wirkung durch die Beklagte hätten. Der bis zu dieser Entscheidung des Gerichtshofs in Deutschland herrschenden nationalen Zivilgerichtspraxis hat der Gerichtshofs durch die Entscheidung in Sachen CTL Logistics (Urteil vom 9. November 2017, C-489/15, EU:C:2017:834) insofern eine Absage erteilt, als die betroffenen Eisenbahnunternehmen zur Geltendmachung etwaiger Rückzahlungsansprüche nun zunächst auf eine behördliche Entscheidung der Regulierungsstelle über die Wirksamkeit der Entgelte angewiesen sind. Entschiede der Gerichtshof in der vorliegenden Angelegenheit nun, dass eine rückwirkende Überprüfung der Altengelte nicht mehr möglich ist, so endete der Rechtsschutz der Klägerinnen – je nach Ausgang des derzeit noch anhängigen Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache DB Station & Service, C-721/20 – an dieser Stelle. Dies dürfte mit dem europäischen Justizgewährleistungsanspruch nicht vereinbar sein.
- 109
42. e) Dass eine Überprüfung von Altengelten mit ex-tunc-Wirkung nach Art. 56 RL 2012/34/EU möglich und unter Umständen geboten ist, überzeugt auch im Rahmen einer Gesamtbetrachtung. Es steht in Einklang mit der Rechtsordnung, wenn diskriminierende Entgelte (auch im Nachhinein) aufgrund ihrer diskriminierenden Wirkung für unwirksam erklärt werden und zurückgezahlt werden müssen. Derjenige, in diesem Fall der Eisenbahninfrastrukturbetreiber, der diskriminierende Entgelte erhebt, ist grundsätzlich nicht schützenswert und es besteht prinzipiell auch kein Grund dafür, dass rechtswidrig erlangte Entgelte bei demjenigen verbleiben sollten, der sie rechtswidrig erlangt hat. Damit ist andererseits nicht gesagt, dass es nicht auch Sonderkonstellationen geben kann, in denen etwa besonderer Vertrauensschutz eine Rolle spielt und derjenige, der das rechtswidrige Entgelt erhoben hat, ausnahmsweise schutzwürdig ist. Auch diese Erwägungen ändern jedoch nichts an der Überzeugung des vorlegenden Gerichts, dass es grundsätzlich eine Möglichkeit geben muss, auch nicht mehr gültige Entgelte auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und für den Fall ihrer Rechtswidrigkeit rückabzuwickeln.
- 110
43. f) Auch das Argument der Beigeladenen, das unter der Richtlinie 2001/14/EG geltende Vorabprüfungsverfahren habe eine nachträgliche Kontrolle der Infrastrukturnutzungsbedingungen mit rückwirkender Kontrolle entbehrlich gemacht, überzeugt nicht. Die Aufteilung in Vorabprüfungsverfahren und nachträgliche Überprüfung entspringt nicht dem Unionsrecht, sondern wurde auf nationaler Ebene entwickelt. Auf ebendieser steht seit jeher jedoch auch fest, dass die „Regulierungsbehörde […] weiterhin zur Ex-post Kontrolle befugt [ist], für die Infrastrukturbetreiber […] daher nur eine bedingte Sicherheit [besteht].“ (vgl. nur Begründung zum Gesetzesentwurf der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 18/8334, S. 225 zu § 73 Abs. 2 ERegG). Ein Ausschlussverhältnis zwischen Vorabprüfung und nachträglicher Kontrolle soll daher gerade nicht existieren.
- 111
44. 3 Soweit einige Klägerinnen die Kompetenzen der Regulierungsbehörde durch Auslegung des Art. 56 Abs. 9 RL 2012/34/EU dahingehend ausweiten wollen, dass Rückzahlungsansprüche im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Regulierungsentscheidung getroffen werden können (Frage 4.), überzeugt dies das vorlegende Gericht hingegen nicht. Das Verhältnis der Eisenbahnunternehmen und der Infrastrukturbetreiber ist im Ausgangspunkt vertraglich und damit zivilrechtlich geprägt. Das Regulierungsrecht als Teil des öffentlichen Rechts wirkt in dieses Vertragsverhältnis bindend nur ein, um die Regulierungsziele umzusetzen und einem monopolisierten Wettbewerb einen Rahmen zu setzen. Abwicklungen von vertraglich geschuldeten Leistungen, die Durchsetzung von Sekundäransprüchen und die Rückabwicklung vertraglicher Leistungen bleiben dabei jedoch dem Vertragsverhältnis originär zugewiesen, so dass insoweit der Zivilrechtsweg im nationalen Verständnis eröffnet ist. Ein gleichberechtigtes Nebeneinander und damit ein Wahlrecht für die Zugangsberechtigten von zivilrechtlichem und öffentlich-rechtlichem Rückzahlungsanspruch lässt sich weder dem europäischen Recht noch der Rechtsprechung des Gerichtshofs entnehmen. Hiervon scheint auch die Generalanwältin Capeta in ihren Schlussanträgen vom 7. April 2022 (C-721/20, EU:C:2022:288) auszugehen, wenn sie die Regulierungsstelle für nicht befugt hält, über Geldforderungen sowie Ansprüche auf Schadensersatz zu entscheiden.
- 112
45. Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- § 68 ERegG 2x (nicht zugeordnet)
- § 66 Abs. 1, 3, 4 ERegG 1x (nicht zugeordnet)
- 3 RL 2012/34 1x (nicht zugeordnet)
- 2 U 4/12 1x (nicht zugeordnet)
- 5 RL 2001/14 1x (nicht zugeordnet)
- § 73 Abs. 2 ERegG 1x (nicht zugeordnet)
- § 67 Abs. 1 ERegG 1x (nicht zugeordnet)
- 34 RL 2012/34 1x (nicht zugeordnet)
- 2003 bis 2010/20 1x (nicht zugeordnet)
- 56 RL 2012/34 7x (nicht zugeordnet)
- §§ 66 ff. ERegG 2x (nicht zugeordnet)
- 2 RL 2012/34 3x (nicht zugeordnet)
- 1 RL 2012/34 3x (nicht zugeordnet)
- 76 RL 2012/34 1x (nicht zugeordnet)
- 6 RL 2001/14 1x (nicht zugeordnet)
- 9 RL 2012/34 9x (nicht zugeordnet)
- 42 RL 2012/34 1x (nicht zugeordnet)