Urteil vom Verwaltungsgericht Lüneburg (1. Kammer) - 1 A 280/03
Gründe
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Die zulässige Klage ist begründet, soweit es dem Kläger um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.
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Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention, § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass dem Kläger bei einer Rückführung nach Vietnam unter Berücksichtigung aller Umstände, die derzeit für eine prognostische Beurteilung bekannt sind, künftig eine schutzrelevante Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Die insoweit anzustellende Prognose geht im vorliegenden Falle zu Gunsten des Klägers aus.
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1. § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Verhältnis zur Asylanerkennung iSv Art. 16 a GG tiefgreifend verändert (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG, Rdn. 12, 13). Mit der neu gefassten Vorschrift hat sich nämlich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/ 83/EG v. 30.9. 2004 ein grundlegender Perspektiv- und Paradigmenwechsel zu einer prognostischen Opferbetrachtung vollzogen (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteil der Kammer v. 7.9. 2005 - 1 A 240/02 -). Das ist bei der hier anzustellenden Prognose zu beachten.
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Da inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist, sind deren Standards im Wege der Auslegung des § 60 AufenthG richterlich schon beachtlich (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff). Das gilt auch angesichts dessen, dass die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (Art. 38 Abs. 1 d. Richtlinie; vgl. dazu VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - , InfAuslR 2005, S. 296 = Asylmagazin 2005, S. 28 m.w.N; VG Braunschweig Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -; VG Stuttgart aaO.; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.3. 2005 - A 2 K 10264/03 -; VG Köln Urt. v. 10.6.2005 - 18 K 4074/04.A - ; BGH, NJW 1998, 2208). Vgl. insoweit Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, Art. 16 a GG, X Europäisches Asylrecht, Rdn. 142:
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„Die neuen Definitionen für die Nachfluchtgründe (Art 5 RL 2004/83/EG) betreffen unmittelbar nur die Asyl- u. nicht die Flüchtlingsanerkennung. In letzterer Hinsicht ist deren Anwendung formell von der Umsetzung der EG-RL abhängig. Da aber bisher keine verbindlichen Festlegungen für diesen Bereich im innerstaatlichen Recht existieren, können die neuen Definitionen anstelle der bisherigen Grundlagen (dazu Rn 49 ff) sofort angewandt werden (zu den Besonderheiten für Nachfluchtgründe im Folgeantragsverfahren vgl § 28 II AsylVfG; Duchrow, ZAR 2044, 339). Hinsichtlich des Asylgrundrechts könnte angesichts der festgestellten Abweichungen (dazu Rn 139) entweder der Wortlaut von § 28 I AsylVfG, der auf den Nachfluchtgrundbeschluss des BVerfG zurückgeht, im Zuge der Umsetzung der RL entsprechend geändert werden oder die Rspr von sich aus die RL-Definitionen zur Auslegung auch des Asylgrundrechts heranziehen.“
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Auch Meyer/ Schallenberger (NVwZ 2005, 776) halten die gen. Richtlinie schon vor ihrer innerstaatlichen Umsetzung im Rahmen einer richterlichen Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG für heranziehbar:
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„Damit haben sich die EU-Mitgliedstaaten erstmals auf eine gemeinsame Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention geeinigt. Soweit § 60 I AufenthG (vgl. § 51 I AuslG) die Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug nimmt, wird bei seiner Auslegung unmittelbar auf die im Folgenden zu besprechende Richtlinie zurückzugreifen sein. Dies gilt auch schon vor der Umsetzung der Richtlinie, soweit die Richtlinie den Begriff des Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention definiert.“
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Die gen. Richtlinie ist auch deshalb (schon) heranziehbar, weil die Bundesregierung in den Ratsgremien bereits auf der Grundlage des Entwurfs eines Zuwanderungsgesetzes verhandelt hat (vgl. V 3.4.2 des Berichtes der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, August 2005, S. 512 m.w.N.).
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Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist somit aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ). Vgl. dazu OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 - :
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„Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht.“
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Auf eine Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht kommt es - mangels erlittener Verfolgung und mangels einer aus solchen Gründen erfolgten Flucht - bei einer solchen prognostischen Beurteilung der „Furcht vor Verfolgung“ oder der künftigen Gefahr, „einen ernsthaften Schaden zu erleiden“ (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie), nicht an. Es ist vielmehr eine zukunftsorientierte Einschätzung dazu abzugeben, ob die vorgetragene Furcht vor künftiger Verfolgung (vgl. die beispielhaft genannten Verfolgungshandlungen und -gründe, Art. 9 und Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG) nach Lage der Dinge berechtigt ist.
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Ein solches Überwiegen der unter Wertungs- und Abwägungsgesichtspunkten für eine Verfolgungsfurcht des Klägers sprechenden Umstände iSv § 60 AufenthG iVm der Richtlinie 2004/83/EG ist hier gegeben.
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2. Dahinstehen kann, ob der Kläger aus einer „latenten Gefährdungslage“ iSd dazu entwickelten Rechtsprechung aus Vietnam geflohen ist, also die nicht entfernte Möglichkeit bestand, dass er nach seiner Entlassung, innerstaatlichen Flucht und seinem Untertauchen in Saigon Opfer einer Verfolgung und eines Übergriffs werden würde (BVerwGE 81, 170/172 f). Die Wahrscheinlichkeit hierfür dürfte zunächst - wegen der eigenmächtigen Flucht des Klägers - ohne Frage bestanden haben. Ob die Voraussetzungen einer Gefährdungslage auch noch in dem Zeitpunkt vorlagen, als der Kläger dann Vietnam verlassen konnte, kann hier offen bleiben.
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Ebenso kann dahinstehen, ob die Ausreise des Klägers als Beleg für eine auf abweichender Gesinnung beruhende politische Gegnerschaft verstanden werden könnte (BVerwG, InfAuslR 1989, S. 169): Der Kläger fand das, was er als „Postannahme“ und Zeitungsbote gelesen hatte, zwar „sehr nützlich für das vietnamesische Volk und den Staat“ (S. 2 der Anhörung vom 24.3.2006), hatte jedoch möglicherweise noch keine ausgesprochen politische Gegnerschaft entwickelt.
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Der Kläger ist im Falle einer Rückkehr nach Vietnam auf der Grundlage einer Prognose zu flüchtlingsrelevanten Umständen aus anderen Gründen bedroht.
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3. Ausgangspunkt dabei ist, dass es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Auf derartige Ereignisse (Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) hat der Flüchtling keinen Einfluss. Ihre Veränderung kann zur Anerkennung führen - gerade auch mit Blick auf § 28 AsylVfG.
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Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen objektiver wie subjektiver Art, die allesamt einen „Bedarf an internationalem Schutz“ hervorrufen (Art. 5), in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen im Herkunftsland bei § 28 AsylVfG als objektiver Nachfluchttatbestand stets beachtlich und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind. Die Richtlinie ist im vorliegenden Bedeutungszusammenhang gesetzessystematisch und rechtsmethodisch auch heranzuziehen (a.A. wohl OVG NRW, Urt. v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A -, Asylmagazin 10/2005, S. 26/27). Denn der Gesetz- wie auch Richtliniengeber hat sich ganz ausdrücklich zu den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention bekannt (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2004/83/EG) und auch im Falle subjektiver Nachfluchtgründe - bei objektiven ohnehin - grundsätzlich einen „Schutzbedarf“ anerkannt. Dieser kommt „insbesondere“ (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie, was den 2. Halbsatz des § 28 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders akzentuiert) dann zum Zuge, wenn sich die Nachfluchtaktivitäten als Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder nur Ausrichtung darstellen.
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Aber auch dann, wenn das nicht so ist, kann bei selbst geschaffenen Verfolgsgründen und -gefahren ausnahmsweise (bei entsprechender Fallgestaltung) eine Anerkennung in Betracht kommen (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) - auch bei Folgeanträgen (§ 28 Abs. 2 AufenthG, Art. 5 Abs. 3 Richtlinie).
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Bei Verhaltensweisen, die bei wertender Betrachtung typischerweise nicht mehr von dem Zweck erfasst werden, der die Unerheblichkeit des Nachfluchtverhaltens begründet (risikolose Verfolgungsprovokation), wie das z.B. bei der Wahl des Ehepartners mit anschließender christlicher Erziehung (BVerwGE 90, 127/131) oder bei einer Konvertierung (VG Schleswig, AuAS 6/1992, S. 12) der Fall ist, kommt ohnehin - auch soweit sie sich als subjektive Nachfluchtgründe darstellen - die Möglichkeit einer Anerkennung in Betracht (Marx, Kommentar zum AsylverfahrensG, 3. Auflage, § 28 Rdn. 41 ff).
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3.1 Hier liegt es so, dass sich die Verhältnisse in Vietnam iSe objektiven Nachfluchtgrundes gerade in letzter Zeit - jedenfalls seit der Erhebung der Klage im August 2003 - erheblich verschärft haben, wie die entsprechenden sachkundigen Berichte über die Verhältnisse in Vietnam aus dem Jahre 2005 zeigen. Die Aktivitäten des Klägers würden heute sehr viel schärfer geahndet als im Jahr 2001, als der Kläger Vietnam verlassen hat: Initiiert von dem als möglichen Staatspräsidenten derzeit im Gespräch befindlichen Nguyen Khoa Dien ist nämlich in Vietnam eine „scharfe Zensur in Medien und Internet“ eingeführt worden (Märkische Allgemeine Zeitung v. 6.3.2006: „Richtungsstreit in Vietnam“), die auch den Kläger als ehemaligen „Zeitungsboten“ hart treffen könnte. Deshalb ist der Kläger im Falle seiner Rückkehr ernsthaft bedroht.
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Für die insoweit erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist die Einschätzung von Sachkennern, Gutachtern und Beobachtern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen, die in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt ist (vgl. z.B. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -). Darauf kann hier Bezug genommen werden - mit der Ergänzung, dass vom designierten Staatspräsidenten eine „scharfe Zensur in Medien und Internet“ eingeführt worden ist (Märk. Allg. Zeitung v. 6.3.06).
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Nach den letzten Lageberichten des AA (v. 28.8.2005 und v. 12.2.2005) ist es so, dass regierungskritische Aktivitäten in Vietnam nicht nur mit „größter Aufmerksamkeit“, sondern ggf. sogar eben auch mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen regelrecht „verfolgt“, öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten in gar keiner Weise toleriert werden und Dissidenten massiven Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt sind. Aktive Gegner des Sozialismus können nach den weit gefassten und auch (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit „nicht auf einen grundsätzlichen Wandel“ in Vietnam (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005).
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Inhaftiert oder bestraft werden inzwischen in Vietnam nämlich nicht nur aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“, sondern auch solche, die (möglicherweise fälschlich) nur dafür gehalten werden - woran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lageberichte v. 12.2.05 und v. 28.8.05). Maßgeblich ist, ob eine „Verletzung der Staatsinteressen“ konstatiert werden kann (vgl. VG Meiningen, Urt. v. 20.9.2005 - 2 K 20124/04.Me -, S. 13 d. Urt.-Abdr.). Vgl. „Pogrom“, Heft 3/2005, S. 34:
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„Trotz der wirtschaftlichen Öffnung hat sich die Lage der Menschenrechte nicht gebessert und ist das Land heute von Freiheit und Demokratie weiter denn je entfernt. Noch immer ist Vietnam ein Ein-Parteien-Staat, in dem die Kommunistische Partei einen absoluten Machtanspruch vertritt. Vor allem die Glaubens-, Presse- und Meinungsäußerungs- sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden von den vietnamesischen Behörden systematisch verletzt. Auch in den Vereinten Nationen zeigt Hanoi keine Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog über die Defizite bei der Durchsetzung der Menschenrechte im eigenen Land. Ganz im Gegenteil... „
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- Pogrom/bedrohte Völker, Heft 3/2005, S. 34 -.
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Deshalb werden „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (so der Lagebericht d. AA v. 12.2.05):
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„Dessen Kontrolle wurde durch einen neuen Erlass - gemeinsam unterzeichnet von den Ministerien für Öffentliche Sicherheit, Kultur, Planung und Telekommunikation! - am 14.07.2005 weiter verschärft. Danach müssen die Betreiber von Internet-Cafés (wo die überwältigende Mehrheit der Vietnamesen Zugang zum Internet hat) die Personalien der Nutzer und die von ihnen aufgesuchten Webpages registrieren.“ (so Lagebericht des AA v. 28.8.05).
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Viele Journalisten üben „Selbstzensur“, so dass sachkundige Berichte über die Verhältnisse in Vietnam nur noch vereinzelt auftauchen:
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„Journalisten in Vietnam stehen laut Pressegesetz unter der Staatskontrolle: "Journalisten haben die Aufgabe, die offizielle Linie der Kommunistischen Partei und der Regierung zu propagieren. Alle Informationen müssen dem Interesse des Landes und des Volkes dienen. Journalisten werden mit Geldstrafen belegt, wenn ihre Berichte die legitimen Wirtschaftsinteressen von Organisationen und Einzelpersonen verletzen, selbst wenn die Berichte der Wahrheit entsprechen". Wie oft hat die Regierung Druck auf Journalisten ausgeübt, damit diese wissen, daß nur die Wirtschaft, aber nicht die Politik liberalisiert wird.“ - so menschenrechte Nr. 2 / 2005, hrg. v. IGFM, S. 25 -
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Versuche, mit Flugblättern oder Zeitungen über Sachverhalte zu informieren und eine Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht v. 12.2.05,. S. 6) - nach zwei Aufständen, nämlich dem vom Februar 2001, in dessen Folge zahlreiche Menschen nach Kambodscha und von dort in die USA flohen, und jenem vom April 2004, bei dem es zu 3 Todesopfern kam (Lagebericht AA v. 28.8.2005).
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Angesichts solcher Gesamtumstände in Vietnam ist der Vortrag des Klägers sehr nachvollziehbar, dass er festgenommen und während seiner Haft gefoltert worden sei.
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Denn die vietnamesische Polizei und Justiz schreckt auch vor Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK, Art. 1 der UN-Folterkonvention) keineswegs zurück, wie die Meldung der IGFM (kath.net) v. 17.12. 2004 zeigt:
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„Mindestens fünf der sechs inhaftierten mennonitischen Christen in Vietnam sind im Gefängnis fortgesetzt misshandelt worden. Zwei vor kurzem freigelassene Mennoniten berichteten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), dass auch die infolge von Misshandlung psychisch krank gewordene Le Thi Hong Lien vor Schlägen nicht verschont blieb. Die IGFM wirft der vietnamesische Polizei vor, dass sie in allen ihren Gefängnissen die Gewalt bewusst eingesetzt hat, um falsche Geständnisse zu erzwingen.“
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Die Verschärfung der Lage in Vietnam zeigt sich auch daran, dass sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. „nationale Sicherheit Vietnams“ zur Last gelegt werden, seit kurzem per Erlass ausdrücklich als „Staatsgeheimnisse“ eingestuft werden. Im letzten Jahr wurden offiziell über 80 Todesurteile verhängt, davon 64 vollstreckt. Informationen hierüber sind inzwischen ebenfalls zum „Staatsgeheimnis“ erklärt worden (ai-Jahresbericht 2005, S. 359), so dass auch darüber nicht mehr offiziell berichtet wird und werden darf.
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3.2 Die Bedrohung des Klägers rührt aber auch - nach seiner innerstaatlichen Flucht nebst Untertauchen - aus seinen exilpolitischen Aktivitäten hier in Deutschland (Bl. 47 ff. und 61 f. GA, vgl. auch die in der mündlichen Verhandlung v. 24.3.2006 überreichten Dokumente und Belege) her.
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Die gezeigten Aktivitäten stellen sich als Ausdruck und Fortsetzung einer schon in Vietnam vorhandenen und erkennbar betätigten - freiheitlichen - Ausrichtung bzw. Überzeugung dar. Hierbei ist zu unterstreichen, dass auch ein Engagement in der Heimat von nur untergeordneter Bedeutung - je nach individuellen Umständen - Ausdruck einer inneren festen politischen Überzeugung sein kann (BVerfG, InfAuslR 1989, 31; InfAuslR 1990, 197; InfAuslR 1992, 142). Insbesondere muss das Engagement nicht bereits den Charakter und Ausprägungsgrad von Vorfluchtgründen haben und damit schon Anlass zu Verfolgungsmaßnahmen gegeben haben (BVerfG, InfAuslR 1989, 31; InfAuslR 1990, 127). Erforderlich ist lediglich die Fortführung einer zuvor aufgezeigten Lebenshaltung und Einstellung - ohne dass diese schon zu einer Gefährdung oder Verfolgung geführt haben muss.
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Die vom Kläger vorgetragenen Aktivitäten (seine innerstaatliche Flucht nach der Haft, sein 3-jähriges Untertauchen in Saigon) reichen als sichtbares Engagement - wenn auch von untergeordneter Bedeutung - für eine politische Grundüberzeugung, die gegen das vietnamesische Regime gerichtet ist, aus. Das gilt in besonderem Maße deshalb, weil das Regime den Kläger während seiner Haft bereits gefoltert hat und dieser nach seiner Entlassung für lange Zeit untergetaucht war und er sich so dem staatlichen Zugriff entzogen hatte.
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Die Einschätzung des Klägers als eines politisch unzuverlässigen Staatsbürgers mit falscher Gesinnung, der als potentiell gefährlich betrachtet wurde, wird belegt durch die Absicht, den Kläger in eines der bekannten „Umerziehungslager“ zu verbringen (vgl. Anhörung v. 22.6.2001, S. 4). Der Kläger mit seiner Tätigkeit als „Postannahme“ wurde vom vietnamesischen Staat offenbar sehr ernst genommen. Andernfalls hätte es der Haft und der Androhung von Umerziehung nicht bedurft.
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3.3 Die Kläger ist entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid auch glaubwürdig.
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Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass es eine Beschränkung auf Strengbeweise in der VwGO nicht gibt, §§ 86 Abs. 1, 96 Abs. 1, 108 VwGO, es vielmehr auf das Gesamtergebnis des Verfahrens einschließlich bekannter Stellungnahmen - etwa von amnesty intern. oder der IGFM - ankommt und den eigenen Erklärungen der Kläger größere Bedeutung als sonst bei Parteibekundungen zuzumessen ist. Diese sind im Übrigen stets wohlwollend zu beurteilen. Vgl. dazu OVG Lüneburg, Beschl. v. 21.3. 1997 - 12 L 1595/97 - :
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"Der Asylsuchende ist aufgrund der ihm obliegenden Mitwirkungspflicht gehalten, die in seine Sphäre fallenden Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern (BVerwG, Beschl. v. 30.10.1990 - BVerwG 9 C 72.89 -, Buchholz, aaO, Nr. 135). Das Gericht muß sich die feste Überzeugung vom Wahrheitsgehalt des Vorbringens verschaffen (BVerwG, Urt. v. 16.4.1985 - BVerwG 9 C 109.84 -,BVerwGE 71, 180 (181); Urt. v. 12.11.1985 - BVerwG 9 C 27.85 -, EZAR 630 Nr. 23). Allerdings ist der Lage des Asylbewerbers, der sich in der Regel in einem Beweisnotstand befindet, insoweit Rechnung zu tragen, daß den eigenen Erklärungen des Asylsuchenden größere Bedeutung beizumessen ist als dies üblicherweise in der Prozeßpraxis bei Bekundungen einer Partei geschieht, auch soll der Beweiswert der Aussage des Asylbewerbers im Rahmen des Möglichen wohlwollend beurteilt werden (siehe dazu BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, aaO; Urt. v. 1.10.1985 - BVerwG 9 C 20.85 -, Buchholz, aaO, Nr. 37). Andererseits kann der Umstand, daß der Asylbewerber den Beweis einer zum Gesamtergebnis des zum Verfahrens gehörenden Tatsache vereitelt oder anderweitig unmöglich macht, ein bei der Überzeugungsbildung maßgeblicher Umstand sein.
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Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Asylsuchenden nur geglaubt werden, wenn diese Unstimmigkeiten überzeugend aufgelöst werden können (BVerwG, Urt. v. 16.4.1985, aa0; Urt. v. 23.2.1988 - BVerwG 9 C 32.87 -, EZAR 630 Nr. 25; siehe auch BVerfG - 1. Kammer des Zweiten Senats -, Beschl. v. 29.1.1991 - 2 BvR 1384/90 -, InfAuslR 1991, 171 (175) und Beschl. v. 12.3.1992 - 2 BvR 721/91 -, InfAuslR 1992, 231 (233))."
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Somit kann nicht jede Ungenauigkeit oder (geringfügige) Widersprüchlichkeit im Vortrag eines Asylbewerbers schon als Beleg für einen auch im Kern unglaubwürdigen Vortrag gewertet werden. Das gilt insbesondere für Zeitangaben und die genaue Zahl von Ereignissen, erst recht aber für Einzelheiten von Foltermaßnahmen. Aus diesbezüglichen Ungenauigkeiten kann nicht - wie im angefochtenen Bescheid - eine Unglaubwürdigkeit abgeleitet werden, vor allem dann nicht, wenn das vorgetragene Gesamtgeschehen sich in sonstige Erkenntnisse einfügt und im Abgleich zu anderen Informationsquellen als zutreffend angenommen werden kann. Erst dann, wenn die Tatsachenwidrigkeit und Widersprüchlichkeit den berechtigten Schluss zulässt, der Vortrag sei insgesamt nicht auf eigene Erlebnisse gestützt, kann von Unglaubwürdigkeit gesprochen werden (vgl. VG Braunschweig, Beschl. v. 5.3.2003 - 6 B 75/03 -; BGH NJW 1999, 1562, 1564).
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Belanglos ist im Rahmen der Glaubwürdigkeitsprüfung hier, dass beim Entscheider der Beklagten in Erwartung eines hohen „Detailreichtums“ subjektiv offenbar der Eindruck der Unglaubhaftigkeit aufgekommen ist. Die bei der Anhörung vom 22.6.2001 in mehrfachen Nachfragen zum Ausdruck gelangte Erwartung, die Folterungen detailliert und genau beschreiben zu können, könnte nämlich deshalb nicht hinreichend erfüllt worden sein, weil diese Erwartung unter Berücksichtigung der erlittenen Schmerzen und der damit verbundenen Traumatisierung einfach „zu hoch gesteckt“ gewesen sein könnte und daneben die nachvollziehbare Unfähigkeit des Klägers, über seine Folterungen in allen Einzelheiten berichten zu können, im Vordergrund gestanden haben dürfte (vgl. dazu S. 7/8 der Anhörung v. 22.6. 2001:“...ist im Kopf alles durcheinander“ und „innerlich zittere ich“). Die vom Entscheider stammenden Vermerke zum Verhalten des Klägers bei dieser Anhörung („Tonlage und erkennbare emotionale Verfassung“, Fehlen von „Angst“, „gedankenverlorenes Schauen“, „entspannte“ Erscheinung) lassen den Eindruck zu, dass der Entscheider von einer festen, auf oberflächlicher „Alltagspsychologie“ gegründeten Vorstellung ausgegangen ist, wie man über Folterungen in rationaler Form möglichst detailliert zu berichten habe. Da der Kläger dieser Vorstellung jedoch nicht entsprach, wurden seine Schilderungen, die im Kern mit jenen übereinstimmen, die er bei seiner Anhörung am 24. März 2006 gemacht hat, als unglaubwürdig eingeschätzt.
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Die gebotene wohlwollende Bewertung der Angaben des Klägers unter Einbeziehung einer hier in Betracht zu ziehenden posttraumatischen Belastung hat damit nicht stattgefunden. Hierbei ist festzustellen, dass der Entscheider bei der Anhörung des Klägers wiederholt dagegen verstoßen hat, vorwurfsvolle Fragen nicht zu stellen, sondern derartige Fragen - etwa noch verbunden mit Vorhaltungen wie „allgemeine Schlagworte“, „viel zu ungenau“ - zu unterlassen (vgl. A. Wendler, Vernehmungslehre, Skriptum, S. 4; P.Menzel, Betrifft Justiz Nr. 66/ 2001, S. 76 ff, S. 78 m.w.N. zum „Aufeinandertreffen kulturell divergierender Kommunikationsmuster“).
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Bei der individuellen Prüfung aller Angaben des Kläger und deren Vergleich - unter Berücksichtigung seiner Mimik und Gestik - sowie ihrer allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich, dass der Kläger sich um einen kohärenten und im Kern plausiblen Vortrag hinsichtlich seiner Erlebnisse einschließlich der Folterungen in Vietnam sowie außerdem seiner exilpolitischen Aktivitäten in Deutschland bemüht hat. Dabei hat er sich nicht gescheut, die „Komplikation“ vorzutragen und zu erläutern, dass es sich bei seinem engen Verwandten nicht um seinen „Bruder“, sondern „eigentlich“ nur um einen „engen Verwandten“, nämlich den Sohn seiner Tante - seinen „Cousin“ - handele, den er lediglich immer als „Bruder“ bezeichne (Nennbruder). Auf eine entsprechende „Glättung“ und „Stimmigkeit“ seines Vortrages, der an sich schon abgeschlossen war (nach Rückübersetzung, S. 9 der Anhörung), hat er verzichtet, was in ganz erheblichem Maße für seine Glaubwürdigkeit spricht (Bender/Nack, Glaubwürdigkeitslehre, 2. Aufl. 1995 m.w.N., Skript der Praktikerforschungsgruppe / Institut für Rechtstatsachenforschung an der Universität Konstanz, v. 24.4.2001).
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Zudem hat er - ohne Übertreibung, Verstärkung und etwa Aufbauschung seiner Tätigkeit - davon berichtet, dass er „nur geholfen habe“, die Zeitschriften zu verteilen, was als deutliches Realkennzeichen für seine Glaubwürdigkeit insgesamt spricht. Auch seine Aussage, dass er „nur die Artikel“ der Zeitschriften gelesen habe, „die mich interessierten“ (S. 5 des Anhörungsprotokolls), spricht für die Glaubwürdigkeit des Klägers. Schließlich hat er ohne vordergründige Ergebnisorientierung oder dem Streben nach Chronologie oder aber Homogenität erst spät und nur zögernd darauf hingewiesen, dass er gefoltert worden sei (Anhörung v. 22.6. 2001, S. 6:“...warum haben Sie eben nichts davon erzählt, als Sie...“ / Skript aaO., S. 13/14).
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Seine Erlebnisse fügen sich im Übrigen zwanglos in die allgemeinen Berichte und journalistischen Nachrichten über die Zustände und Verhältnisse in Vietnam ein - einschließlich der bekannt gewordenen Folterungen in vietnamesischen Gefängnissen. Damit hat der Kläger bei wohlwollender Würdigung seiner Aussagen und Darlegungen einen kohärenten Vortrag unterbreitet, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit der Kläger festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Somit bedürfen die Angaben und Aussagen des Klägers, der in der mündlichen Verhandlung einen sehr überzeugenden Eindruck hinterließ, unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie keines weitergehenden Nachweises mehr (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. BVerwGE 55, 82).
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3.4 Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland (vgl. Bl. 58 ff GA), die angesichts der Verteilung von politischen Zeitschriften und der dafür erlittenen Folterungen einer schon im Herkunftsland angelegten „Ausrichtung“ (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie) bzw. dort gewachsenen Überzeugung entspricht, nicht um einen (nachträglich) erst aus eigenem Entschluss geschaffenen subjektiven Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine „Überzeugung“ (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. „Ausrichtung“ (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die ersichtlich bereits in Vietnam ihre Wurzeln hat („Ausdruck und Fortsetzung“ einer entsprd. „Ausrichtung“, Art. 5 Abs. 2). Zudem reagiert der vietnamesische Staat darauf anders - nämlich härter - als früher (Verwobensein objektiver und subjektiver Nachfluchtgründe).
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Somit kann keine Rede davon sein, dass der Kläger sein Vorbringen nur auf „Umstände“ iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG stütze, die erst nach Verlassen seines Herkunftslandes überhaupt entstanden und die sich als solche darstellen, die er allein „aus eigenem Entschluss“ sich selbst neu geschaffen hat (§ 28 Abs. 1 AsylVfG). Vgl. insoweit Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 4. Teil § 28 IV Rdn. 21:
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„Der Ausschluss nach Abs 1 greift dann ausnahmsweise nicht ein, wenn die Aktivitäten auf einer bereits früher geäußerten Einstellung beruhen u. z B wegen des jugendlichen Alters oder anderen objektiven Gründen nicht bereits früher unternommen wurden.“
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3.5 Die dem Kläger als einem „Andersdenkenden“ bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Meinungsfreiheit und vor allem jetzt auch seine „politische Überzeugung“ zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Er ist in Deutschland in mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (vgl. die im Verfahren vorgelegten Unterlagen), was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte.
- 53
Zu Recht ist der Kläger daher der Meinung, dass man ihm diese Aktivitäten - auf dem Hintergrund seines bereits bekannten Untertauchens in Vietnam - bei einer Rückführung nach Vietnam vorhalten, er im Falle der Rückkehr inhaftiert und dann im Gefängnis landen werde (S. 4 d. Protokolls v. 24.3. 2006). Er ist daher in einem hohen Maße gefährdet. Der Kläger wird im Hinblick auf sein Verhalten schon in Vietnam und auf seine exilpolitische Betätigung hier in Deutschland sowie im Übrigen auch wegen der Asylantragstellung somit als aktiver Regimegegner und Dissident betrachtet werden. Als solcher ist er iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedroht.
- 54
3.7 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt. Auch dieser Aspekt ist in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).
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3.8 Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. „An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert“ (Lagebericht v. 28.8.2005).
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Demgemäß hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag einer vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam als entscheidungserheblich bewertet und u.a. ausgeführt:
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„...Eine solche Prüfung ist geboten, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführerin in Vietnam ein Verfahren droht, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard im Sinne des Art. 25 GG verstößt und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben kann (vgl. ...). Völkerrechtliche Mindeststandards könnten auch verletzt sein, wenn im Strafverfahren eine Aussage als Beweis verwendet wird, die unter Folter erpresst wurde (vgl...). „
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3.9 Auf die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren kommt es - entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid - heute (Ende 2006) nicht mehr an: Der Sachverständige Dr. Will hält an seiner Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich „als Schlag ins Wasser erwiesen“ und die „vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe: „Beim Besuch der BMZ-Ministerin in Hanoi (Oktober 2000) wurde das Abkommen von 1995 nicht einmal noch der Erwähnung für wert befunden.“ Die „völkerrechtlichen Verpflichtungen“ sind damit, da sie in Vietnam missachtet werden, bedeutungslos. Vgl. dazu ai-Jahresbericht 2003 u. Lagebericht des AA v. 1.4.2003: „Aushöhlung“ des Dreierabkommens UNHCR-Vietnam-Kambodscha durch den vietnamesischen Staat, Vereinbarung eines „Memorandum of Understanding“ (MOU) v. 25.1.2005 (Lagebericht AA v. 28.8.05).
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Im Übrigen mag es sein, dass eine Bestrafung speziell nur „wegen ungenehmigter Ausreise“ in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt (Ziff. 5 des Schreibens des Vizeaußenministers der Soz. Rep. Vietnam v. 21.7.1995). Jedoch werden Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen bis hin zu Strafen wegen abweichender Gesinnung, wegen eines Glaubens, wegen kritischer Meinungsäußerungen, politischer Betätigung usw. weiterhin ergriffen, so dass es auf die bilateralen Abkommen der 90-er Jahre nicht ankommt (so VG Meiningen, Urt. v. 20.9.2005 - 2 K 20124/04.Me - S. 15 d. Urt.-Abdr.).
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Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände ist es daher prognostisch beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Vietnam „bedroht“ ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Er ist folglich als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen.
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4. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG analog). Die Abschiebungsandrohung ist insoweit rechtswidrig, als eine Abschiebung nach Vietnam angedroht worden ist (§ 59 Abs. 3 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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