Urteil vom Verwaltungsgericht Lüneburg (1. Kammer) - 1 A 128/03

Tatbestand

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Der am A. 1948 geborene Kläger erstrebt die Gewährung von Unfallruhegehalt.

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Er war als technischer Bundesbahnbetriebsinspektor bei der Deutschen Bundesbahn - Bundeseisenbahnvermögen - tätig und im Juni 1998 beim ICE-Unglück in B., bei dem er auch zwei Kollegen verloren hatte, als Service-Techniker eingesetzt. Nach eigenen Angaben erhielt er bei seiner Tätigkeit keine Hilfe im Sinne von „Krisenintervention“ durch Fachkräfte. Nachdem eine Anerkennung verschiedener, nachfolgender Beschwerden des Klägers als Dienstunfall von der Beklagten zunächst mit Bescheid vom 30. Juli 2001 abgelehnt worden war, der Kläger im September 2001 dagegen Widerspruch erhoben hatte, hob die Beklagte mit Bescheid vom 27. Februar 2003 diese Ablehnung gem. § 48 VwVfG auf und half damit dem Widerspruch des Klägers ab. Im Bescheid heißt es u.a.:

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„Infolge Ihres Einsatzes an der Unfallstelle in Eschede vom 3.06.1998 bis 7.06.1998 haben Sie …. folgenden Körperschaden erlitten:

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Posttraumatische Beschwerden .

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Dieses Unfallereignis erkennen wir - vorbehaltlich weiterer ärztlicher Feststellungen - nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Beamtenversorgungsgesetzt (in Ausübung des Dienstes oder infolge des Dienstes) als Dienstunfall an.

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Durch Bescheid vom 9. April 2002 war der Kläger zuvor jedoch schon wegen Dienstunfähigkeit zum 1. Mai 2002 vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden. Seine Versorgungsbezüge wurden mit Bescheid vom 25. März 2002 auf 73,89 % und einen Versorgungsabschlag von 7,2 % festgesetzt, so dass sich eine entsprechende Kürzung seiner Versorgungsbezüge auf 1.774,44 EUR (brutto) ergab. Ein Unfallruhegehalt wurde nicht gewährt.

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Hiergegen wandte sich der Kläger mit seinem Widerspruch vom 12. April 2002, der durch den Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2003 mit der Begründung zurückgewiesen wurde, die Dienstunfähigkeit des Klägers - eine phobisch depressive Persönlichkeitsstörung und ein nervöser Erschöpfungszustand - gehe nicht ursächlich auf einen Dienstunfall zurück. Zwar seien die Folgen des Einsatzes in C. vom 3.6.1998 bis zum 7.6.1998 als Dienstunfall iSv § 31 BeamtVG anerkannt worden, so dass unfallbedingte Behandlungskosten für die in den Jahren 2001 und 2002 durchgeführte Psychotherapie übernommen worden seien, jedoch sei davon auszugehen, dass die festgestellte Dienstunfähigkeit nicht mehr wesentlich auf diesen anerkannten Dienstunfall ursächlich zurückgehe. Das gehe aus dem Gutachten des Prof. Dr. D. v. 12.12.2002 hervor, dem sich der Bahnarzt Dr. E. im März 2003 angeschlossen habe. Danach hätten die Einsatzfolgen in C. nur mit 20 % zur Dienstunfähigkeit des Klägers beigetragen, während die familiären Belastungen des Klägers mit 80 % anzusetzen seien. Unfallruhegehalt setze aber voraus, dass der Beamte wegen einer wesentlich - überwiegend, d.h. zu mehr als 50 % - auf einen Dienstunfall zurückgehenden Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt worden sei. Daran fehle es. Somit sei hier bei der Festsetzung der Versorgungsbezüge auch § 14 Abs. 3 BeamtVG und demgemäß ein Versorgungsabschlag von 7,2 % zu berücksichtigen.

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Zur Begründung seiner am 17. Juni 2003 erhobenen Klage trägt der Kläger vor, zu Unrecht gehe die Beklagte davon aus, seine psychischen Beeinträchtigungen gingen vor allem auf den Tod seines Vaters im November 2000 zurück. Vielmehr sei das festgestellte Krankheitsbild „ganz überwiegend“ auf das Dienstunfallgeschehen in C. zurückzuführen. Ohne dieses Geschehen wäre er nicht dienstunfähig geworden, wäre er nicht in den Ruhestand versetzt worden. Dazu beziehe er sich zunächst auf das Gutachten des Facharztes für Psychotherapie und Psychiatrie F., G., vom 1. Juli 2003 mit Ergänzung vom 4. September 2003. Dieser Facharzt sei zu dem Ergebnis gekommen, für den Unterzeichner bestehe

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„kein Zweifel daran, dass es hinreichende und adäquate Kausalverhältnisse zwischen dem traumatischen Erlebnis (Unfall in Eschede, 1998) und der späteren depressiven Entwicklung gibt“.

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Weiterhin beziehe er sich auf das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. Dr. H. (Chefarzt der neurologischen Abteilung der Klinik I., J.) vom 28. Januar 2006, demzufolge sich die zumindest teilursächliche Mitwirkung des Geschehens hinsichtlich seiner Zurruhesetzung vom April 2002 nicht bestreiten lasse. Die im Gutachten angesprochene Beweisverdichtung gehe aus dem Betriebsärztlichen Gutachten vom 11. Juli 2001 hervor.

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Er sei wegen des Geschehens in B., wo er als Service-Techniker eingesetzt gewesen sei, noch bis heute in psychotherapeutischer Behandlung. Zwar sei er nicht unmittelbar mit dem Abtransport der verunglückten Reisegäste betraut gewesen, aber er habe Leitungen vor Ort zu sichern gehabt. Er habe dort miterleben müssen, wie blaue Säcke mit Körperteilen abtransportiert wurden und die Böschung aufgegraben wurde, weil Menschen „bis zu einem Meter tief in der Erde steckten“. Auch habe er Reste von Reisenden zu Gesicht bekommen, die für die Identifikation hätten geborgen werden müssen. Er beziehe sich für die Wesentlichkeit des Unglücksgeschehens und den maßgeblichen Anteil dieses Geschehens an seiner Dienstunfähigkeit auf das gen. Sachverständigengutachten des Dr. Dr. K.. Er gehe zudem mit dem Facharzt F. davon aus, dass die spätere familiäre Belastung nur als „passagere Verschlimmerung“ der bereits vorhandenen (unfallbedingten) Depression zu betrachten sei, die er mit „Verdrängungsroutine“ noch einige Zeit habe kompensieren können. Sein nur unterschwelliges Beschwerdebild sei erst mit zeitlicher Verzögerung hervorgetreten.

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Der Kläger beantragt,

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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 25. März 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Mai 2003 zu verurteilen, dem Kläger Unfallruhegehalt zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtenen Bescheide sowie auf das Gutachten des Prof. Dr. D. v. 12.12.2002, in dem der „Nachschaden“ (Traumatisierung im familiären Bereich ab November 2000 bis Februar 2001) als Hauptursache herausgestellt worden sei, sowie auf drei ergänzende gutachtlicher Stellungnahmen von Prof. Dr. D.. Es sei so, dass aus medizinischer Sicht eine Beweislücke zwischen dem Dienstunfall des Jahres 1998 und späterer Psychotherapie ab September 2001 (Patientenerstkontakt: 5.9.2001) bestehe, es für eine Zeit von mehr als zwei Jahren keine objektiven Beweise dafür gebe, dass das Geschehen von 1998 krankheitswertige Gesundheitsstörungen verursacht habe. Damit bestehe nur eine Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Zurruhesetzung und dem Geschehen in Eschede. Eine Wesentlichkeit dieses Geschehens vom Juni 1998 könne daher nicht anerkannt werden.

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Die Kammer hat aufgrund des Beschlusses vom 31. August 2005 Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erhoben. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf das nervenärztliche Gutachten des Dr. Dr. K., J., vom 28. Januar 2006 Bezug genommen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Inhalts der Gutachten wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet. Die Voraussetzungen für das vom Kläger beanspruchte Unfallruhegehalt gem. § 36 BeamtVG liegen vor.

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1. Entscheidend für einen Anspruch nach § 36 BeamtVG ist, ob eine kausale Verknüpfung zwischen der Dienstunfähigkeit des Klägers vom April 2002, die zu seiner frühzeitigen Pensionierung zum 1. Mai 2002 geführt hat, und einem Dienstunfall - dem ICE-Unfall in C. - gegeben ist. Das ist hier der Fall.

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2. Für die erforderliche Kausalität zwischen dem durch Bescheid vom 27. Februar 2003 anerkannten Dienstunfall und der vorangegangenen Frühpensionierung des Klägers vom April/Mai 2002 kommt es auf die im Dienstunfallrecht maßgebliche Zurechnungslehre an. Im Urteil der Kammer vom 20. Nov. 2000 - 1 A 97/98 - heißt es insoweit:

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„Denn in dem Falle, dass - wie hier - mehrere Ursachen zu einem Körperschaden geführt oder doch im Verbund miteinander zu ihm beigetragen haben, muss im Einzelfall unter Auswertung aller sachlichen Gegebenheiten juristisch abgewogen werden, welche der beteiligten Ursachen wohl die wesentliche ist (BVerwGE, 23, 2o1; BVerwG, ZBR 1970, 157 und ZBR 1980, 180). Hierbei folgt die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung der für das Sozialversicherungs- und Kriegsopferrecht entwickelten Zurechnungslehre (BVerwGE 35, 133; 80, 4; BVerwG, NJW 1982, 1893). Danach ist diejenige Ursache letztlich auch im rechtlichen Sinne beachtlich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Schaden bei natürlicher Betrachtung zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat. Ist der Schaden durch mehrere Ursachen - nach Bedeutung und Tragweite - in annähernd gleichem Maße herbeigeführt worden, so ist rechtlich jede von ihnen relevant. Überragende Bedeutung braucht dann keine der Teilursachen zu haben (BVerwG, DÖD 1967, 138).

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Wesentlicher Beitrag und damit wesentliche Ursache kann auf der Grundlage dieser Zurechnungslehre dann in Fällen „konkurrierender Kausalität“ auch eine äußere Einwirkung sein, die ein anlagebedingtes Leiden nur auslöst, beschleunigt oder verschlimmert - es sei denn, sie tritt (nach Wertung und Gegebenheiten des Einzelfalles) derart stark zurück, dass die anderen Bedingungen (Vorschäden) wertungsmäßig nur noch allein als maßgeblich anzusehen sind (BVerwGE 8o, 4; DÖD 64, 111; ZBR 67, 219 und ZBR 89, 57; BVerwG, Beschl. v. 25.11.1992 - 2 B 184.92 -; BVerwG, NVwZ 1996, 183; VGH Baden-Württemberg, ZBR 1965, 22 - Belastung bei Turnübungen als wesentliche Teilursache -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 13.12.1989 - 6 A 744/87 -; VG Göttingen, ZBR 1994, 191; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 9.6.1995 - 2 A 12831/94 -).

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Die nötige Kausalität ist bei einem Vorerkrankten hiernach dann gegeben, wenn er durch ein äußeres Ereignis (Unfallgeschehen) eine zusätzliche gesundheitliche Schädigung erleidet und dieses Ereignis „bei natürlicher Betrachtungsweise entweder überragend zum Erfolg (Körperschaden) hingewirkt hat oder zumindest annähernd die gleiche Bedeutung für den Eintritt des Schadens hatte wie die anderen Umstände insgesamt“ (BVerwG, Beschl. v. 7.5.1999 - 2 B 117/98 - ). Bloße Gelegenheitsursachen sind keine Ursachen mehr in diesem Sinne und daher außer Betracht zu lassen.

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Vorliegend geht es allerdings nicht um ein Unfallgeschehen, das einer bereits vorhandenen Vorerkrankung nachfolgt, sondern um ein solches, das - als „posttraumatische Beschwerden“ und als Dienstunfall anerkannt (Bescheid v. 27.2.2003) - über längere Zeit vom Kläger offenbar aufgrund spezieller Arbeitsbedingungen kompensiert werden konnte (vgl. dazu Bl. 8/9 des Gutachtens F. vom 1.7.2003, Bl. 34/35 GA), aus dem sich jedoch letztlich eine „auf Schienenfahrzeuge fokussierte Angstsymptomatik“ erhalten hat (Prof. Dr. L., Gutachten v. 12. Dezember 2002, S. 15 unten). Die Gesundheitsstörungen als solche sind als Grundursache auch vom Beklagten nicht in Abrede gestellt worden (vgl. S. 22 oben des Gutachtens Prof. Dr. R.: „ist es posttraumatisch (Ende 1998) zu Gesundheitsstörungen gekommen“, die Eisenbahnkatastrophe bei C. „hat sich ohne Therapie und Krisenintervention in der Akutphase chronifiziert“, S. 23 Abs. 2 / Bl. 83 GA).

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Entscheidend ist hier daher, ob das Unfallgeschehen des Jahres 1998 kompensiert und durch familiäre Probleme derart überlagert und verdrängt worden ist, dass es, obwohl zunächst unstreitig vorhanden, nicht mehr als juristisch relevant betrachtet werden kann. Das ist jedoch nicht so. Denn die Verwendbarkeit des Klägers ist durch eine spezielle Phobie, die bei seiner Frühpensionierung noch als „phobisch depressive Persönlichkeitsstörung“ bewertet worden war, derart eingeschränkt gewesen, dass er bei der Deutschen Bundesbahn im Bereich Service-Techniker nach Einschätzung des Beklagten nicht mehr einsetzbar war.

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3. Zur Beurteilung der Dienstunfähigkeit ist auf das durch Organisationsentscheidung zuletzt übertragene abstrakt-funktionelle Amt abzustellen (BVerwG, NVwZ 2005, 458/459). Hier war dem Kläger das Amt eines Bundesbahnbetriebsinspektors bei der Deutschen Bundesbahn - Bereich Service -Techniker - übertragen worden. Dieses Amt konnte der Kläger im April/Mai 2002 nicht mehr ausüben, da es nicht realisierbar war, Arbeiten im Gleisbereich nur in Begleitung eines weiteren Arbeitskollegen auszuführen.

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Schon nach der medizinischen Einschätzung der Bahnärztin Dr. M. vom 2.7.2001 (Bl. 155 GA) war der Kläger im Betriebsdienst und im Gleisbereich nur noch „zu zweit“ einsetzbar. Seine Tauglichkeit war nur mit dieser Bedingung gegeben, er war nur noch begrenzt dienst- und verwendungsfähig. Die Diplom-Psychologin N. vom DB-Gesundheitsservice (Gesundheitszentrum Nord) hielt im August 2001 ein verzögertes Eintreten einer posttraumatischen Belastungsstörung im Zusammenhang mit Einsätzen an der Unfallstelle beim Zugunglück 1998 in C. „für wahrscheinlich“ (Schreiben vom 17.8.2001, Bl. 151 GA). Ausschlaggebend für die Frühpensionierung war dann letztlich eine „phobisch depressive Persönlichkeitsstörung“ des Klägers. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Dr. O. vom 28. Jan. 2006 liegt es im Falle des Klägers „auf der Hand, dass dieser offensichtlich nicht mehr im Gleisbereich der Deutschen Bahn arbeiten kann, aus diesem Grunde wurde er ja auch frühzeitig in den Ruhestand versetzt.“ (S. 18/19 d. Gutachtens).

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4. Im Zeitpunkt der Zurruhesetzung des Klägers war hinsichtlich der ICE-Katastrophe vom Juni 1998 ein Dienstunfall noch nicht anerkannt. Erst durch Bescheid v. 27. Februar 2003 wurden die „posttraumatischen Beschwerden“ des Klägers, die aus seinem Einsatz in C. stammten, nachträglich als Körperschaden angesehen, diese als ein „Unfallereignis“ bewertet und auch als Dienstunfall anerkannt. Aber damit war nach Ansicht der Beklagten eine Kausalität zwischen der bereits vorgenommenen Pensionierung und dem ICE-Unfall in C. nicht hergestellt. Die Frühpensionierung vom April/Mai 2002 basiere - so die Beklagte - auf einer „phobisch depressiven Persönlichkeitsstörung“, die nur zu 20 % mit dem Unfallgeschehen in C. zu tun habe, aber zu 80 % auf eine „familiäre Extrembelastung“ zurückgehe.

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Diese vornehmlich an %-Sätzen orientierte Einschätzung lässt sich nach den vorliegenden medizinischen Gutachten nicht halten und ist nach der Zurechnungslehre zu verwerfen.

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Gemäß den vorliegenden medizinischen Einschätzungen und Bewertungen, u.a. des Gutachters Prof. Dr. P. vom 12. Dezember 2002 (Bl. 72 ff GA) mit seinen ergänzenden Stellungnahmen (Bl. 54 ff), der Bahnärztin (Bl. 154/155 GA) wie auch der Bahnpsychologin (Bl. 151 GA), des Facharztes F. vom 1. Juli 2003 (Bl. 27 ff GA) sowie vor allem nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. Dr. O. (vgl. das Gutachten vom 28. Januar 2006, Bl. 123 ff. GA) hatte das Unfallgeschehen 1998 in C. für die Verwendbarkeit des Klägers im Betriebsdienst zumindest die gleiche Bedeutung wie seine familiären Belastungen des Jahres 2000: Die „phobisch depressive Persönlichkeitsstörung“ des Klägers, die im April/Mai 2002 mit einem unfallbedingten Anteil von 20 % zu seiner Frühpensionierung geführt hat, ging in einem annähernd gleichen, wenn nicht sogar wesentlichen Maße auf seine „spezifische Phobie nach traumatisierendem Diensteinsatz“ zurück (so die Diagnose von Dr. Dr. K., S. 17). Prof. Dr. P. erkennt in seinem Gutachten (S. 22 unten) ebenfalls einen „unfallbedingten Anteil“ bzw. einen „unfallkorrelierten Anteil“ der Versetzung in den Ruhestand an und meint,

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„die jetzt noch persistierenden psychosomatischen Beschwerden, …, müssen dem Unfallereignis von 1998 zugeschrieben werden, sie waren vorübergehend überlagert von einer unfallunabhängigen reaktiven Depression, die nach dem Verlust eines nahen Angehörigen in der Regel ein Jahr und mehr andauern kann, sie ist inzwischen abgeklungen, verblieben ist eine unfallkorrelierte Angstsymptomatik, verbunden mit neurovegetativen Dysregulationszeichen - unter der Psychotherapie hat sich die reaktive Depression unfallabhängiger Art zurückgebildet, gebessert hat sich gleichzeitig auch der unfallkorrelierte Anteil am Gesamtkrankheitsgeschehen.“ (S. 23 unten).

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Somit war es zunächst einmal der Diensteinsatz in B., der beim Kläger partielle Persönlichkeitsstörungen hervorgerufen, seine Einsetzbarkeit vor allem im Gleisbereich reduziert und - nach Einschätzung der Beklagten - zu seiner Dienstunfähigkeit geführt hatte. Es mag sein, dass die Persönlichkeitsstörung des Klägers im Frühjahr 2002, als seine Frühpensionierung erfolgte, auch zu einem großen Teil aus familiären Problemen herrührte. Das hindert aber nicht, dass eine relevante (Teil-)Komponente der Pensionierung immer noch aus dem Unfallgeschehen in C. gespeist wurde, ohne dass diese Komponente prozentual festzulegen ist. Denn überragende Bedeutung braucht sie nach der Zurechnungslehre gerade nicht zu haben. Der Gutachter Dr. Dr. O. führt in seinem Gutachten (S. 17 / Bl. 139 GA) aus,

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„Unter Zugrundelegung der Diagnose einer spezifischen Phobie nach traumatisierendem Diensteinsatz läßt sich die zumindest teilursächliche Mitwirkung dieses Geschehens im Hinblick auf die Zurruhestandsversetzung vom April 2002 nicht mit schlüssigen Argumenten zurückweisen, zumindest wenn man die anamnestischen Angaben des Klägers berücksichtigt, welcher im Rahmen der Untersuchung insgesamt plausible und keinesfalls dramatisierende Aussagen machte.“

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Da keine Rede davon sein, dass das (Dienstunfall-)Ereignis in C. ein „alltägliches Ereignis“, sondern ein den Kläger unstreitig und ohne Frage traumatisierender Einsatz war, ist unter Bewertung aller Einzelheiten mit den Gutachtern davon auszugehen, dass eine die Verwendbarkeit des Klägers im Bereich Service-Techniker hinreichend garantierende psychische Verarbeitung und Kompensation letztlich gerade nicht stattgefunden hat, vielmehr beim Kläger eine „spezifische Phobie“ - resultierend aus dem Unfall („unfallkorrelierte Angstsymptomatik“, Gutachten Prof. Dr. L., S. 23 unten) - zurückgeblieben ist. Diese war bei natürlicher Betrachtung ein wesentlicher Beitrag zur Frühpensionierung des Klägers, also dafür ursächlich. Die juristische Relevanz dieser Phobie wird nicht durch einen % -Satz bestimmt. Auf ihn kommt es bei der Feststellung der Kausalität nicht an. Auch auf eine „Beweislücke“, worauf die Beklagte abstellt, kommt es bei den maßgeblichen medizinisch-psychischen Fragen nicht an.

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Vgl. zu einer ähnlichen Konstellation OVG Lüneburg, Beschl. v. 1.7.2003 - 5 LA 58/02 - :

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„Zwar bestanden vorher vereinzelt kurzfristige Anpassungsstörungen und psychosomatische Symptome, diese waren aber diagnostisch allenfalls als krisenhafte Anpassungsreaktionen zu werten und hoben die Bewältigungsmöglichkeiten und die Einsatzbereitschaft im beruflichen Umfeld nicht auf. Auch wären sie seinerzeit leicht einer therapeutischen Bearbeitung zugänglich gewesen. Auch handelte es sich aus ärztlicher Sicht teilweise um typische leichtere Belastungsreaktionen, wie sie angesichts der dienstlichen Situation verständlich und adäquat waren. Die Brisanz des Unfallereignisses in seiner psychischen Traumatisierung durch den Vorgesetzten wuchs dadurch, dass diese dienstlichen Altersbelastungen (z.B. die Begegnung mit getöteten Kindern) in der beruflichen Beziehung zu dem Vorgesetzten nicht unterstützend aufgefangen wurden, sondern jedenfalls subjektiv verschärft waren. Dies mag die Verletzbarkeit des Probanden durch das Unfallereignis und seine psychische Bedrohlichkeit unspezifisch erhöht haben, verbunden mit einer Verschlechterung seiner Bewältigungsmöglichkeiten und Abgrenzung gegenüber dem Unfallereignis. Aus ärztlicher Sicht ist diese erhöhte Verletzlichkeit aber nicht auf eine krankhafte Empfindlichkeit des Probanden vor dem Unfallereignis zurückzuführen, sondern auf eine erhöhte Belastung und deutlich reduzierte Unterstützung. Es soll hiermit verdeutlicht werden, dass das vom körperlichen her äußerlich relativ banale Unfallereignis psychisch und sozial eine starke nicht zu bewältigende Traumatisierung darstellte, die als Ursache für die Belastungsreaktionen und den chronisch psychisch gestörten Zustand adäquat ist.“

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Die familiären Belastungen des Klägers aus dem Jahre 2000 mögen im Rahmen seiner Frühpensionierung auch eine Rolle gespielt haben, aber sie verdrängen nicht den aus der ICE-Katastrophe stammenden Traumatisierungs- und Phobieanteil. Dieser ist vom Kläger unbewältigt geblieben und war (ebenso) Grund für seine Pensionierung.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.

 


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