Beschluss vom Verwaltungsgericht Lüneburg (1. Kammer) - 1 B 96/17

Gründe

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Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist zulässig und begründet.

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Bei sachgerechter Auslegung des vom Antragsteller gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO -) begehrt er, die aufschiebende Wirkung seiner gegen die mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) verfügte Abschiebungsandrohung (Ziffer 3 des Bescheids) erhobene Klage anzuordnen (§ 36 Abs. 3 Satz 1 Asylgesetz – AsylG -).

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Der so verstandene Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist nach §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG statthaft, da das Bundesamt bei seiner Entscheidung annahm, dass es sich bei dem vom Antragsteller im Bundesgebiet gestellten Asylantrag um einen Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG handelte und Gründe für ein Wiederaufgreifen des Asyl(erst)verfahrens nicht vorlägen. Auf diese Grundlage erließ das Bundesamt eine Abschiebungsandrohung nach § 71a Abs. 4 in Verbindung mit §§ 34, 36 Abs. 1 AsylG mit einer Ausreisefrist von einer Woche. Auch sind die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen gegeben. So ist der Antrag am 4. Dezember 2017 bei Gericht eingegangen und damit fristgerecht gestellt (§ 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG).

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Dieser Antrag ist auch begründet.

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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen nur dann vor, wenn "erhebliche Gründe" dafür sprechen, dass die angefochtene Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 -, NVwZ 1996, 678, 680).

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Nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel daran, dass der Asylantrag unter Verweis auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abgelehnt wurde, mit der Folge, dass das Bundesamt nach §§ 71a Abs. 4, 34, 36 Abs. 1 AsylG eine Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche erließ. Seite 3/5

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Nach dem bisherigen Vorbringen und den von der Antragsgegnerin vorgelegten Unterlagen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller beim Bundesamt einen Zweitantrag im Sinne des § 71a Abs. 1 Satz 1 AsylG gestellt hat. Denn nach dieser Vorschrift liegt ein solcher Antrag nur dann vor, wenn der Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag) stellt. Ein „erfolgloser Abschluss“ des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Eine Einstellung ist nicht in diesem Sinne endgültig, wenn das (Erst-)Verfahren noch wiedereröffnet werden kann, wobei eine solche Wiedereröffnung oder Wiederaufnahme nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen ist, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – BVerwG 1 C 4.16 – juris Rn. 29; Urt. v. 21.11.2017 – BVerwG 1 C 39.16 –, juris Rn.44).

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Die diesbezügliche Aufklärung des Sachverhalts obliegt zunächst dem Bundesamt. Es muss zu der gesicherten Erkenntnis gelangen, dass das Asylerstverfahren im Drittstaat mit einer für den Asylbewerber bindenden Entscheidung endgültig abgeschlossen wurde. Dabei werden nicht nur Entscheidungen umfasst, die nach einer Sachprüfung ein Schutzgesuch als inhaltlich unbegründet zurückgewiesen hat (vgl. Berlit, Anm. zu BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 – juris Abschnitt C letzter Absatz). Die hierfür erforderlichen Informationen kann das Bundesamt auf Grundlage des Art. 34 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 2 Buchst. g der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist - ABl. L 180 S. 31 - (Dublin-III-Verordnung) vom anderen Mitgliedstaat erlangen. Hiernach hat jeder Mitgliedstaat jedem Mitgliedstaat, der dies beantragt, personenbezogene Daten über den Antragsteller zu übermitteln, die sachdienlich und relevant sind und nicht über das erforderliche Maß hinausgehen, die für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz notwendig sind; zu diesen Daten zählen u.a. das Datum jeder früheren Antragstellung auf internationalen Schutz, das Datum der jetzigen Antragstellung, der Stand des Verfahrens und „der Tenor der gegebenenfalls getroffenen Entscheidung“. Seite 4/5

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Nach Maßgabe dessen lässt sich auf der Grundlage der vom Bundesamt ermittelten Daten (derzeit) nicht feststellen, dass das vom Antragsteller in Finnland betriebene Asylerstverfahren dort endgültig abgeschlossen wurde. Das Bundesamt bat mit seiner Anfrage vom 18. Juli 2017 (Bl. 42 des Verwaltungsvorgangs) bei der zuständigen finnischen Stelle lediglich um Auskunft zu „Aufenthaltstitel“ und „Rechtsbehelf“, nicht jedoch zur Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz einschließlich Tenor der Entscheidung.

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Auch der Antwort der finnischen Stelle (Finnish Immigration Service) vom 19. Juli 2017 lässt sich der endgültige Abschluss des dort gestellten Antrags auf internationalen Schutz nicht entnehmen. Darin wird allein mitgeteilt, dass der Antragsteller am 8. Februar 2016 in Finnland einen Asylantrag gestellt habe und am 4. März 2016 über diesen Antrag entschieden worden sei. Weiter wird ausgeführt, dass der Antragsteller am 11. März 2016 als untergetaucht („absconded“) geführt werde. Ergänzend wird darin angegeben, dass dem Antragsteller unter dem 4. März 2016 eine negative Entscheidung erteilt worden sei. Dem Antragsteller sei die Entscheidung wegen Untertauchens nicht mitgeteilt worden. Hingegen wurde der Tenor der Entscheidung der finnischen Behörde vom 4. März 2016 über das Asylgesuch des Antragstellers in Finnland dem Bundesamt nicht übermittelt. Auf Nachfrage des Bundesamts erklärte der Antragsteller unter dem 11. August 2017 (Bl. 61 f. des Verwaltungsvorgangs), er habe seinen Antrag zurückgenommen oder das Verfahren nicht weiter betrieben.

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Hiernach lässt sich derzeit nicht feststellen, dass die negative Entscheidung der finnischen Behörde aufgrund einer inhaltlichen Prüfung oder eines Nichtbetreibens des Verfahrens seitens des Antragstellers ergangen ist. Ebenso wenig steht fest, ob das Asylerstverfahren in Finnland – im Zeitpunkt der Asylantragstellung in Deutschland - deshalb noch nicht endgültig abgeschlossen ist, weil die Entscheidung dem Betroffenen nicht bekannt gegeben wurde. So kommt in Betracht, dass auch nach finnischem Recht in Fällen des Nichtbetreibens des Verfahrens lediglich eine vorläufige Verfahrenseinstellung ergeht (vgl. die Regelung einer (vorläufigen) Verfahrenseinstellung und der Möglichkeit des Wiederaufgreifens nach deutschem Recht in § 33 Abs. 5 Satz 1, 2 AsylG in der Fassung des Gesetzes vom 11. März 2016, BGBl. I S. 390; vgl. auch Art. 28 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie), ABl. L 180 S. 60). Seite 5/5

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

 


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