Urteil vom Verwaltungsgericht Lüneburg (4. Kammer) - 4 A 491/17

Tatbestand

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Die in der Bundesrepublik Deutschland nachgeborene Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrages als unzulässig und begehrt die Durchführung des Asylverfahrens im nationalen Verfahren.

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Die Klägerin ist syrische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischen Glaubens. Sie wurde am D. 2014 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Sie ist das Kind von E. und F., die für die Klägerin den Antrag auf Durchführung des Asylverfahrens stellten. Die Eltern der Klägerin hatten bereits in Bulgarien ein Asylverfahren durchgeführt und erhielten in diesem die Zuerkennung internationalen Schutzes. Durch Urteil des Verwaltungsgerichtes Lüneburg vom 15.03.2017 wurde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verpflichtet, für den Vater der Klägerin festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Bulgarien nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht.

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Mit Bescheid vom 06.09.2017 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag als unzulässig ab (Ziff. 1) und stellte fest, dass ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Bulgarien nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt (Ziff. 2). Zur Begründung der Ablehnung des Asylantrages wurde ausgeführt, dass nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und 2 AsylG der Asylantrag abzulehnen war, weil den Eltern der minderjährigen Klägerin bereits in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union internationalen Schutz gewährt worden sei und für Kinder, die in einem Mitgliedstaat geboren worden sind nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO die Frage der Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen untrennbar mit der Situation der Eltern verbunden sei.

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Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 17.09.2017 Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben

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Die Klägerin beantragt,

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Ziff. 1 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 06.09.2017 (Gesch.-Z.: 5868353 – 475) aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Asylverfahren der Klägerin im nationalen Verfahren durchzuführen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht war befugt nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden, weil die Beteiligten hierauf schriftlich verzichtet haben (Bl. 33, Generalverzicht der Beklagten Bl. 37).

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Sowohl die erhobene Anfechtungsklage als auch die allgemeine Leistungsklage auf Durchführung des Asylverfahrens im nationalen Verfahren sind zulässig.

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Angenommen, der den Asylantrag als unzulässig ablehnende Bescheid wird im Wege der Anfechtungsklage als materiell rechtswidrig aufgehoben, ist die Beklagte verpflichtet, das nationale Asylverfahren durchzuführen und das Asylbegehren nach § 31 Abs. 2 AsylG in der Sache zu prüfen. Die von der Klägerin erhobene allgemeine Leistungsklage geht nicht über diese gesetzliche Verpflichtung hinaus. Das Rechtsschutzbedürfnis ergibt sich aus der Tatsache, dass die Klagabweisung beantragende Beklagte daran festhält, nicht zur Durchführung des nationalen Asylverfahrens verpflichtet zu sein.

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Die Klagen sind auch begründet.

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Ziff. 1 des streitgegenständlichen Bescheides, mit dem der Asylantrag der Klägerin als unzulässig abgelehnt worden ist, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) findet nämlich die Ablehnung des Asylantrages der Klägerin als unzulässig im Gesetz keine Stütze.

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Die Ablehnung als unzulässig kann nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift wäre ein Asylantrag abzulehnen, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz gewährt hat. Die im Perfekt formulierte Vorschrift („bereits … gewährt hat“) erfasst dem eindeutigen Wortlaut nach nur solche Fälle, in denen die um Asyl nachsuchende Person bereits selbst schon über einen internationalen Schutzstatus verfügt (VG Berlin, Beschluss v. 09.03.2017, 23 L 116.17 A, veröffentlicht in JURIS). Dies trifft auf die in der Bundesrepublik Deutschland nachgeborene Klägerin gerade nicht zu.

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Die Ablehnung als unzulässig kann nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift wäre ein Asylantrag abzulehnen, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens auf Gewährung internationalen Schutz zuständig ist.

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Zwar haben die Eltern der Klägerin in Bulgarien, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, internationalen Schutz zuerkannt bekommen, jedoch ist Bulgarien vorliegend nicht nach Maßgabe der Dublin-III-VO für das Asylverfahren der in Deutschland nachgeborene Klägerin zuständig.

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In Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO heißt es:

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„Für die Zwecke dieser Verordnung ist die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss.“

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Die Vorschrift normiert eine Zuständigkeitsakzessorietät unter dem Gesichtspunkt der Familieneinheit: Grundsätzlich ist/bleibt derjenige Mitgliedstaat, der für die Durchführung des Asylverfahrens der Eltern zuständig war/ist auch für die Prüfung des internationalen Schutzes von miteinreisende oder nachgeborene Kinder zuständig (Bay VGH, Beschluss v. 17.08.2015, 11 B 15.50110, VG Stuttgart, Beschluss v. 28.12.2016, A 5 K 8144/16; a.a.A. VG Lüneburg, Urteil v. 24.05.2016, 5 A 194/14; alle veröffentlicht in JURIS).

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Dieser Grundsatz steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass dies „dem Wohl des Minderjährigen dient“ (Art. 20 Abs. 3 S. 1 letzter Halbs. Dublin III-VO). Das Argument der Zuständigkeitsakzessorietät greift ausnahmsweise dann nicht durch, wenn einer gemeinsamen Überstellung von Eltern und Kind ein auf den für den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaat bezogenes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegensteht (VG Würzburg, Urteil v. 17.03.2017, W 2 K 16.31417, veröffentlicht in JURIS).

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So liegt der Fall hier: Einerseits besteht für den Vater der Klägerin ein Abschiebungsverbot hinsichtlich Bulgarien nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Anderseits hat die Beklagte dies für die Klägerin selbst mit Ziff. 2 des (insoweit nicht angefochtenen) Bescheides vom 06.09.2017 festgestellt und hierzu in der Begründung ausgeführt:

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„Aufgrund der individuellen Umstände der Antragstellerin ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedoch davon auszugehen, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöht und deswegen ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.“

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Schließlich hat das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in seiner aktuellen Entscheidung vom 29.01.2018 (10 LB 82/17) ausgeführt, dass in Bulgarien anerkannten Flüchtlingen im Falle einer Rücküberstellung derzeit Obdachlosigkeit und extreme Armut droht, so dass Art. 3 EMRK verletzt würde. Der Einzelrichter schließt sich dieser Auffassung an.

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Die Ablehnung als unzulässig kann nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG gestützt werden. Für die Klägerin wäre Bulgarien kein sicherer Drittstaat, wie sich aus der Feststellung des Abschiebungsverbotes durch die Beklagte selbst ergibt. Im Übrigen ist eine Aufnahmebereitschaft Bulgariens nicht erkennbar.

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Auch weitere Ablehnungstatbestände wegen Unzulässigkeit sind nicht einschlägig: Die Ablehnung kann nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG gestützt werden, denn es handelt sich weder um einen Folge- noch um einen Zweitantrag (§§ 71, 71a AsylG) sondern um einen Erstantrag. Auch der Ablehnungsgrund des § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist offenkundig nicht gegeben.

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Weitere Rechtsgrundlagen für die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig kommen nicht in Betracht.

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Nach alledem ist die Beklagte zur Durchführung des nationalen Asylverfahrens verpflichtet. Somit ist auch die über die Anfechtungsklage hinausgehende Leistungsklage begründet.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711, 709 S. 2 ZPO.

 


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