Urteil vom Verwaltungsgericht Münster - 1 K 1169/98
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Verfügung des Beklagten vom 19. März 1998 rechtswidrig war.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
T a t b e s t a n d
2Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit des Verbots eines Camps - so genanntes Nordcamp; Camp X 1 bzw. Camp 14 -, für das der Kläger im Zusammenhang mit dem am 19., 20. März 1998 erfolgten Castor IV" - Transport von 6 Castoren in das Brennelementezwischenlager Ahaus (BZA) verantwortlich gewesen ist. Die betroffene Wiesenfläche G 1 (Eigentümer X. Ahaus-Graes) befindet sich in der Ortslage Heek. Sie liegt ca. 400 m östlich (Luftlinie) von der aus Norden Richtung Ahaus führenden Bahnverbindung Gronau - Epe - Ahaus, die für den Castor IV" - Transport seinerzeit als Beförderungsweg (sog. Nordroute) in Betracht kam. Am 19. März 1998 war sie a u ß e r h a l b einer vom Beklagten allgemein verfügten versammlungsfreien Zone gelegen. Unmittelbar im Norden an das Grundstück angrenzend verläuft ein (Wirtschafts-?)Weg Richtung Westen, der über einen Bahnübergang die Eisenbahnlinie überquert (Markenweg), nach weiteren etwa 500 m über die Krämer Brücke" führt, die die Ahauser Aa" überspannt, und sich anschließend in einer Kurve nach Süden bzw. Südwesten wendet. Nach ca. 500 m erreicht der Weg ein Grundstück in der Bauerschaft Thiebrink" des zu Ahaus gehörenden Ortsteils Graes. Auf dieser Fläche war das so genannte Camp X 2 von Atomkraftgegnern geplant. Sie liegt ca. 600 m Luftlinie von der Eisenbahnlinie entfernt. Neben der "Krämer Brücke" befinden sich in der Nähe des Grundstücks (etwa 250 m südwestlich und 350 m nordwestlich) 2 weitere Brücken, die über die Ahauser Aa" führen.
3In ihrem Urteil vom 30. November 2001 - 1 K 1139/98 - hat die Kammer zu den dem Castor IV"-Transport vorhergehenden Ereignissen ausgeführt:
4Im März 1997 kam es während des Castor III"- Transportes von Walheim nach Gorleben - neben friedlichen Demonstrationen - zu Behinderungen des Zuges und der Lastkraftwagen, mit denen die Castoren befördert wurden. Es erfolgten sog. Sitzblockaden. Einige Demonstranten ketteten sich an Bahngleise an. Stellen des Gleiskörpers und der Straßen wurden unterhöhlt oder aufgerissen. Polizeikräfte wurden mittels Zwillen und mit Signalmunition beschossen. Ein Einsatzfahrzeug der Polizei wurde mit einem sog. Molotow-Cocktail" in Brand gesetzt. Die Durchführung des Transports wurde unter Einsatz von erheblichen Polizeikräften sichergestellt.
5Zwischen dem 30. April und 4. Mai 1997 fand in der Nähe des BZA ein sog. Widerstandscamp" mit Mahnwache, Fackelzug und Maifest statt. An der Versammlung nahmen etwa 1.200 Personen teil. Im Zusammenhang mit dieser Veranstaltung erfolgten Sachbeschädigungen im Bereich des BZA und der Gleisanlage; einzelne Demonstranten versuchten, Schienen zu unterhöhlen. Am 24. Mai 1997 fand eine versammlungsrechtliche Aktion auf der Gleisanlage des BZA mit ca. 40 Teilnehmern statt, bei der Schotter und Schrauben aus der Gleisanlage entfernt sowie Hinweiszeichen der Bahn abgebrochen wurden und eine Schiene angesägt wurde. In der Zeit vom 1. bis 3. August 1997 führte die Vereinigung Widerstand gegen Atomanlagen - WigA Münster - in Ahaus ein sog. Widerstandscamp" durch. Das Aktionskonzept beinhaltete u. a. die Aussage, auszuprobieren, wie lustig und effektiv Widerstand mit vielen Leuten sein kann." Während des Sonntagsspaziergangs" am 21. September 1997 betraten diverse Versammlungsteilnehmer im Widerspruch zu der erfolgten versammlungsrechtlichen Anmeldung und entgegen dem ausdrücklich erklärten Verbot des Eigentümers die Gleise der Anschlussbahn zum BZA. Während der Schienenaktionstage" vom 17. bis 19. Oktober 1997 verließen ca. 300 - 400 Personen den angemeldeten Aufzug und besetzten an mehreren Stellen das Gleis der Anschlussbahn zum BZA. Es erfolgten Sachbeschädigungen. Signalkabel wurde abgerissen, ein Bahnsignal wurde aus seiner Betonverankerung herausgerissen. Der Bahnkörper wurde an drei Stellen unterhöhlt, an mehreren Stellen wurden Gleisschrauben, -muttern und -klammern gelöst sowie teilweise entfernt. Polizeikräfte wurden mit Steinen beworfen. Andere Sonntagsspaziergänge", die regelmäßig am dritten Sonntag jeden Monats stattfanden, verliefen ohne Sachbeschädigungen und Blockaden.
6Zur Vorbereitung von Aktionen für die Zeit des Castor IV" - Transports gegen atomrechtliche Maßnahmen fanden diverse Vernetzungs-", Delegierten-" und Camp-Vorbereitungstreffen" statt. An diesen Besprechungen nahmen Vertreter verschiedenster Organisationen aus dem gesamten Bundesgebiet teil. Es wurde unter anderem die Organisation von sog. Camps als Mahnwachen besprochen.
7Während eines Vernetzungstreffens" in Gronau am 01. Dezember 1996 stellten verschiedene Gruppen mögliche Aktionen vor. Dabei lehnten alle Gruppen Gewalt gegen Menschen als Selbstzweck ab. Gewalt gegen Sachen konnten sich die meisten Gruppen vorstellen. Benannt wurde demonstrativ-öffentliches Schienensägen, Sitzblockaden, Demos, Gleise unterhöhlen, am Gleis anketten". Es bestand der Konsens, dass keine Aktionsform wichtiger oder richtiger sei als die andere und ausgegrenzt werden solle. Niemand solle die Aktionen anderer behindern. Im Rahmen des Streckenkonzepts" solle die zu blockierende Strecke" aufgeteilt werden. Es bestand weitere Übereinstimmung, dass sich die eigentliche Blockade auf den Streckenabschnitt zwischen Bahnhof und BZA konzentrieren solle. Auf dem Delegiertentreffen" vom 18. Januar 1998 wurde nach einer Konzeptdiskussion das Ergebnis erzielt, dass man sich nach dezentralen Aktionen (Vermeidung einer Polizeikräftekonzentration) noch einmal zu einer zentralen Aktion in Ahaus" zusammenfinde. Dann werde noch einmal versucht, auf dem letzten Kilometer vor dem Atommülllager den Castor zu stoppen, wenn er denn bis hierhin kommt." Je nach Situation könnten alle Beteiligen auf den Gleisen agieren. Die Veranstalter der Aktion X-tausendmal-Quer" gingen davon aus, dass es auch bei einer Polizeiübermacht" möglich sei, auf die Gleise zu kommen". In dem Flugblatt der Bürgerinitiative Kein Atommüll in Ahaus" e. V. Informationen für die anstehenden Widerstandsaktionen im Frühjahr 1998" - Stand: 1. Februar 1998 - wurde angekündigt, dass es Demonstrationen und Behinderungsaktionen geben werde. Ca. 2.000 Menschen hätten öffentlich angekündigt, das BZA-Gleis besetzen zu wollen. Für den Fall eines erheblichen Polizeikräfteeinsatzes sei es eine mögliche Alternative, die Aktion an dem gesamten BZA-Gleis zu verteilen und zu versuchen, irgendwo dazwischen zu kommen". Eine andere beschriebene Alternative bezog sich auf das Gleis der Deutschen Bahn AG, wo allerdings mit Bundesgrenzschutzbeamten zu rechnen sei. Eine endgültige Entscheidung sei erst an Ort und Stelle unter Berücksichtigung des Polizeiverhaltens zu treffen. Das dem Beklagten zumindest seit dem 11. Februar 1998 bekannte Flugblatt enthielt Ausführungen zu der Einrichtung mehrerer Camps durch die Demonstrationsveranstalter."
8Dem zitierten Informationsblatt war eine Karte beigefügt, in der annäherungsweise die Lage des hier betroffenen Camps dargestellt war, das als Nordcamp (Wendland)" bezeichnet wurde. Allerdings war das Camp seinerzeit noch westlich der Bahnlinie und unmittelbar an diese angrenzend auf der Karte markiert.
9Im Urteil a. a. O. heißt es im Tatbestand sodann weiter: Mit dem offenen Brief vom 6. Februar 1998 führte die Bürgerinitiative Kein Atommüll in Ahaus" e. V. aus, in den von ihr gemeinsam mit anderen Organisationen langfristig vorbereiteten Camps sollten auswärtige Demonstrationsteilnehmer untergebracht werden. Es gebe eine klare Übereinkunft zwischen allen Gruppen, die die Camps organisierten, dass die Camps eine Zone der Rückzugs und der Ruhe seien aus diesen keinerlei politische Aktionen geführt werde, schon gar nicht militante. 2.000 Menschen hätten angekündigt, die Schienen gewaltfrei blockieren zu wollen. Eine Blockadeaktion sei keine Straftat, sondern allenfalls eine Ordnungswidrigkeit. Sachbeschädigungen an Schienen könnten, wiewohl sie Straftaten seien, nicht gleichgesetzt und gleichbehandelt werden mit gewalttätigen, die körperliche Unversehrtheit von Menschen gefährdenden Angriffen. Das Delegiertentreffen" vom 14. Februar 1998 beschloss zum Widerstandsfahrplan" am Sonntag gleichzeitig die X-tausendmal-Quer"-Aktion auf den Schienen und eine Aktion in Dülmen anzubieten. Zumindest in einem Camp solle über das Angebot auch offener Aktionen nachgedacht werden. Mit dem offenen Brief vom 19. Februar 1998 führte die Bürgerinitiative Kein Atommüll in Ahaus" e. V. erneut aus, dass speziell das sog. BI- Camp als Ruhezone, nämlich zur Übernachtung, Verpflegung und Kommunikation dienen solle.
10Während des Delegiertentreffens" vom 17. August 1997 bestand Einigkeit, dass es keine separaten Camps für einzelne Gruppen geben solle. Es werde auch kein eigenes X-Tausendmal Quer"-Camp der Bürgerinitiative Kein Atommüll in Ahaus" e. V. geben. Auf dem Delegiertentreffen" vom 20. Dezember 1997 wurde beschlossen, dass eine Schwerpunktbildung umgangen werden und es weder eine Aufteilung in autonome", graswurzler" oder gewaltfreie" Camps und Ähnliches geben solle. Es wurde empfohlen, Delegiertentreffen und Plena" zu bilden, aus denen und aus den vorbereitenden Gruppen sich die Camp-Leitung bilden solle. Auf dem Delegiertentreffen" vom 18. Januar 1998 besprachen die Teilnehmer, die Bürgerinitiative Kein Atommüll in Ahaus" e. V. wolle mit der Polizei weiter im Gespräch bleiben, aber keine Verhandlungen führen oder Absprachen treffen. In dem Flugblatt der Bürgerinitiative Kein Atommüll in Ahaus" e. V. Informationen für die anstehenden Widerstandsaktionen im Frühjahr 1998" - Stand 1. Februar 1998 - wurde u. a. als Campregel ausgeführt, es werde kein Vorrecht und keine hierarchischen Strukturen geben. Die Entscheidung über das Vorgehen am Transporttag selbst wolle die Bürgerinitiative Kein Atommüll in Ahaus" e. V. am Transporttag natürlich mit Euch allen gemeinsam" treffen (mit dem Flugblatt inhaltlich weitgehend identisch: www.friedenskooperative.de/ ff98/2-08.htm [Aufruf: 21. November 2001]). In der Ausgabe Nr. 88 von Februar 1998 der Schrift anti- atom-aktuell" wurde ausgeführt, dass es keine Aufteilung der Camps in autonom, friedlich" oder sonst was gebe. Alle Camps würden von allen möglichen Leuten genutzt. Auf dem Delegiertentreffen" vom 14. Februar 1998 wurde noch mal in aller Deutlichkeit gesagt, das es keine Kooperation mit der Polizei gibt und dass weder die Grünen noch die PI. ein Mandat haben, um 'im Namen des Widerstandes' mit der Polizei zu reden oder zu kungeln." In der Ausgabe Nr. 445 vom 5. März 1998 der Interim", einer wöchentlich in Berlin erscheinenden Schrift, wurde eine Erklärung des Koordinierungstreffens für die Vorbereitung der Camps in Ahaus" veröffentlicht, in der ausdrücklich betont wurde,
11'dass alle Camps für alle Teile des Widerstands offen sind. Es gibt keine Aufteilung in 'autonom', gewaltfrei', 'bürgerlich', 'militant' oder was auch immer. Natürlich ist es sinnvoll, wenn Leute, die eine gemeinsame Aktion planen, das gleiche Camp beziehen. Aber bitte behaltet im Kopf, dass es aus gutem Grund diesmal keine Spaltung des Widerstandes nach Aktionsformen oder Selbstverständnis geben soll: Alle am Ahaus-Widerstand interessierten Gruppen haben das auf dem Gesamt-Delegiertentreffen gemeinsam beschlossen, um die Konsequenz aus den Erfahrungen des letzten Transports zu ziehen.'"
12Der Kläger selbst ließ anlässlich der so genannten Nikolausaktion am 06. Dezember 1997 vor dem Zwischenlager Gorleben zwei Flugblätter verteilen. Dort heißt es unter der Überschrift Tag X in Ahaus":
13Auch für Ahaus wird es ein Streckenkonzept geben. Die Aktivitäten gegen den Transport werden von mehreren Camps entlang der Bahnstrecke ausgehen. Eines dieser Camps wird vom wendländischen Widerstand organisiert."
14Unter der Überschrift Tag X im Wendland" zu einem nach Gorleben erwarteten Transport wird ausgeführt:
15Fest steht: es wird wieder ein Streckenkonzept geben. Darin sollen die Erfahrungen vom 'letzten Mal' berücksichtigt und eingearbeitet werden. So werden sich einige Gruppen stärker auf die 'Schiene' konzentrieren."
16Unter dem 9. März 1998, berichtigt unter dem 12. März 1998, ordnete der Beklagte durch öffentlich bekannt gemachte Allgemeinverfügung ein räumlich und zeitlich begrenztes Verbot von öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und von Aufzügen im Umfeld des BZA an, von dem das Nordcamp nicht betroffen war. Zur Begründung verwies der Beklagte u. a. auf bevorstehende Sitzblockaden einschließlich des Ankettens von Personen an Gleisen und Sachbeschädigungen mit dem Ziel der Verhinderung des Transports sowie die Nutzung von Privatgelände gegen den Eigentümerwillen, Verstößen gegen die Verordnung über den Bau und Betrieb von Anschlussbahnen, den zu erwartenden Verstößen gegen §§ 303, 125, 240, 315 StGB und der Gefahr der Verletzung von Leib und Leben von Personen. Es sei (u. a.) damit zu rechnen, dass Camps, die im Umfeld des BZA errichtet werden sollten, auch von Teilnehmern bezogen würden, die gewalttätige Aktionen begehen wollten. Mit dem eng begrenzten Versammlungsverbot werde dem Inhaber der Castor-Transportgenehmigung eine Transportkorridor gelassen. Der Korridor entlang der Nordstrecke war außerhalb von Ahaus - orientiert an Landmarken - zwischen 350 und 700 m breit. Die von anderen Personen angemeldete Versammlung / Dauermahnwache im Camp X4" (Bauernschaft Ammeln, südlich des Weges Tegelstegge) fand statt.
17Vor dem 18. März 1998 (seit dem Wochenende ?) begannen auf der hier betroffenen Fläche Arbeiten zur Errichtung eines Camps. Am 18. März 1998 meldete das Vorstandsmitglied B. des Klägers gegen 12:00 Uhr bei der Gemeinde Heek, Ordnungsamt, ein Ruhecamp" auf der Wiesenfläche an. Wörtlich heißt es in der Anmeldung:
18Aus Anlass des Castor-Transportes beabsichtigen wir, in Heek-Ahle ein Ruhecamp zu errichten. Am Tag X werden hier ca. 600 Personen beköstigt und unterhalten. Die Besucher werden in kleinen Zelten untergebracht, wobei die Kücheneinrichtung in einem zentralen Zelt (Bauwagen mit Vordach) errichtet würde. Vermieter des Grundstückes ist Herr X. aus Ahaus-Graes. Es handelt sich um das Grundstück G 1, in einer Größe von ca. 2 ha. Nach unseren Kenntnissen befindet sich dieses Grundstück nicht in der Sperrzone. Die Versorgung erfolgt durch vorschriftsmäßigen Stromanschluß sowie Wasserversorgung aus bereitgestellten Tanks. Die Entsorgung erfolgt durch bereitgestellte Toilettenanlagen. Ein entsprechender Mietvertrag wird vorgelegt. Um Genehmigung wird gebeten."
19Am 19. März 1998 erschienen Beamte des Beklagten vor Ort. Gegen 16:41 Uhr wurden die im Camp befindlichen Personen per Lautsprecherdurchsagen zur Räumung aufgefordert. Gegen 17:34 Uhr hatten die Bewohner des Camps den Ort verlassen.
20Ein zum Zeitpunkt der Räumung anhängig gemachtes Eilverfahren, in dem vorgetragen wurde, die Polizei löse zu Unrecht das Camp, das als Versammlung zu behandeln sei, auf, blieb ohne Erfolg (Beschluss der Kammer vom 19. März 1998, Az.: 1 L 364/98).
21Auf den Widerspruch des Klägers gegen die - wie er vorträgt - Verfügung vom 19. März 1998 des Beklagten teilte die Bezirksregierung Münster mit Schreiben vom 21. Juli 1998 mit, ein Verwaltungsakt in Form eines Versammlungsverbotes sei nicht festzustellen. Eine Versammlung sei nicht angemeldet gewesen. Der Antrag auf Errichtung eines Versorgungscamps bei der Gemeinde Heek beinhalte ebenfalls keine Anmeldung als Versammlung. Mit Blick darauf komme eine versammlungsrechtliche Prüfung durch die Widerspruchsbehörde nicht in Betracht.
22Am 19. und 20. März 1998 wurden 6 Castoren aus den Atomkraftwerken Neckarwestheim und Grundremmingen mit einem Sonderzug von Walheim über die so genannte Südroute (Eisenbahnstrecke Coesfeld - Legden - Ahaus) in das BZA nach Ahaus verbracht. An den Protestaktionen sollen sich - je nach Informationsquelle - 5.000 bzw. 8.000 Personen beteiligt haben. Neben friedlichem Protest kam es auch zu gewalttätigen Widerstandshandlungen, die allerdings nicht das zuvor befürchtete Eskalationsniveau erreichten. Im Raum Ahaus sollen bis zu 6.600 Polizeibeamte im Einsatz gewesen sein. Zur Sicherung des Transports errichtete die Polizei entlang des letzten Kilometers Schiene vor dem BZA einen doppelten Zaun mit Nato-Draht. Der Transport wurde unter erheblichen Sicherungsmaßnahmen und diversen Behinderungen durchgeführt. Am 21. März 1998 fand in Münster mit etwa 3.000 Personen eine Abschlussdemonstration statt.
23Der Kläger hat am 24. April 1998 Klage erhoben.
24Er trägt vor: Bereits am 17. März 1998 habe ein Polizeibeamter namens L. das Nordcamp aufgesucht und mitgeteilt, auf Grund einer neuen Verbotsverfügung seien alle Camps während des Castor-Transports verboten, die nicht mindestens 1000 m von den Gleisen entfernt seien. Am 19. März 1998 sei für 16:00 Uhr in der Innenstadt von Ahaus eine Demonstration angekündigt gewesen. Etwa zeitgleich habe die Polizei das Camp des Klägers abgeriegelt. Der Einsatzleiter habe über Lautsprecher bekannt gegeben, dass er einen Platzverweis erteilen würde und die Campteilnehmer sich innerhalb von acht Minuten vom Grundstück entfernen sollten. Wenn das Camp auch keine Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes gewesen sein möge, treffe gleichwohl die von dem Beklagten angestellte Gefahrenprognose, es habe wegen seiner Nähe zur so genannten Nordroute, die als Transportgleis für den Castor-Transport ebenso wie die tatsächlich am 20. März 1998 genutzte Südroute in Betracht gekommen sei, geräumt werden müssen, nicht zu. Der - wie der Beklagte meine - Ausspruch eines Platzverweises gemäß § 34 Polizeigesetz NRW (PolG) sei danach nicht in Frage gekommen. Die vom Beklagten zu Grunde gelegte Dokumentation und Einschätzung gemäß des Störerlagebildes Widerstandscamps" sei unzureichend gewesen, zumal er den Teilnehmern des Nordcamps das unwesentlich weiter von der Bahnlinie entfernte Camp X 2 als Ausweichraum angeboten habe.
25Der Kläger beantragt,
26festzustellen, dass die Verfügung des Beklagten vom 19. März 1998 bezüglich des Nordcamps rechtswidrig war.
27Der Beklagte beantragt,
28die Klage abzuweisen.
29Er trägt vor: Das Nordcamp habe dem Versammlungsrecht nicht unterlegen. Den Anforderungen an einen Platzverweis nach § 34 Polizeigesetz NRW (PolG) sei genügt gewesen. Dieser habe auf der Grundlage einer entsprechenden Gefahrenprognose erfolgen können. Der Standort des Camps habe sich, nachdem inzwischen geklärt sei, dass er nicht unmittelbar westlich der Bahnlinie gelegen habe, in relativer Nähe zur Tranportroute (Nordroute) für den letztlich am 20. März 1998 durchgeführten Castor- Transport befunden. Eine schädigende Einwirkung aus dem Camp heraus gegen die Gleisstrecke sei in diesem Einzelfall auf Grund des Ortes, des zeitlichen Zusammenhanges, der dort befindlichen Personen und der im Vorfeld bekannten Verhaltensmuster, unter anderem Unbrauchbarmachen der Transportstrecke, wahrscheinlich gewesen. In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte ergänzt:
30Auf Grund der damals gemachten Erfahrungen von durchaus gewalttätigen Protestaktionen in Legden am 19. März 1998 - u. a. wurden Schienen besetzt und Schrauben entfernt - kam die Polizei zum Ergebnis, dass Camps in einer Entfernung von unter 1000 m eine Gefährdung für die Transportroute bedeuten würden. 1000 m waren allerdings keine festgelegte Größe. Im Wesentlichen ging es darum, dass kein direkter Zugang von den Camps aus zu den Schienen bestehen sollte. Hinzu kam, dass die Nordroute erheblich schwieriger zu schützen war als die Südroute. Es war unmöglich, überall Polizeipräsenz zu zeigen. Angesichts dieser Sachlage wurde entschieden, das Nordcamp zu räumen und auf das Camp X 2 westlich der Nordroute zu verweisen. Insoweit bestanden dort topographische Besonderheiten. Östlich des Camps X 2 verläuft die Ahauser Aa, die über Brücken überquert werden muss. Diese Übergänge waren aus polizeitaktischer Sicht erheblich besser zu überwachen als der direkte Zugang über Wiesen und Straße vom Camp X 1 zur Bahnlinie."
31Ferner hat der Beklagte weiter ausgeführt:
32Ich möchte noch einmal hervorheben, dass die Räumung des Camps am 19. März 1998 eine Reaktion auf Ereignisse am selben Tage an der Südroute war. Im Verlaufe des Tages kam es zu Gleisbesetzungen und Beschädigungen der Südstrecke. Folge waren am Abend des 19. März zahlreiche Ingewahrsamnahmen im Legdener Raum. Die genannten Aktivitäten waren damals Anlass für den Entschluss, auch ein Camp zu räumen, das außerhalb der versammlungsfreien Zone und 400 m von der Nordstrecke entfernt war."
33Der Kläger hat repliziert:
34Aus Sicht des Klägers haben die genannten Aktivitäten am 19. März 1998 keinerlei Bezug zu dem Nordcamp. Im Übrigen fand an diesem Tage in Ahaus gegen 16.00 Uhr ein Protestzug statt, der friedlich verlaufen ist. Daher befanden sich bei Räumung auch nur ca. 20 Personen im Nordcamp."
35Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der vom Beklagten eingereichten Verwaltungsvorgänge (10 Hefte) sowie das beigezogene Urteil der Kammer vom 30. November 2001 im Verfahren 1 K 1139/98 nebst Verfahrensakte Bezug genommen, das zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden ist.
36E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
37I. Die zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage hat in der Sache Erfolg. Die durch den Zeitablauf erledigte Verfügung des Beklagten vom 19. März 1998, mit der er dem Kläger untersagte, das Camp auf der Wiesenfläche in Heek -Ahle durchzuführen, war rechtswidrig.
38Es kann offen bleiben, ob die angegriffene Verfügung nach der Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung, er halte seine (rechtliche) Behauptung, es sei ein Versammlungsverbot ergangen, nicht weiter aufrecht, allein nach polizeirechtlichen Grundsätzen zu beurteilen ist oder - auch - versammlungsrechtliche Gesichtspunkte Beachtung deswegen finden müssen, weil das aufgelöste Nordcamp jedenfalls der Vorbereitung von beabsichtigten Versammlungen dienen sollte.
39Zu diesem Gesichtspunkt vgl. Kniesel, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit", NJW 2000, 2857 (2862).
40Sofern - worauf der Beklagte abstellt - die angegriffene Verfügung einen (polizeirechtlichen) Platzverweis nach § 34 PolG beinhaltete, musste eine entsprechende Gefahrenlage (zur Abwehr einer Gefahr") vorliegen. Nichts anderes gilt im Ergebnis, wenn nach § 15 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Versammlungsgesetz (VersammlG) eine - wovon hier auszugehen wäre - unangemeldete Versammlung verboten bzw. aufgelöst worden ist. Auch insoweit muss eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bestehen,
41vgl. dazu Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 12. Aufl., § 15 VersammlG, Rdnr. 55 - 56 m. N.,
42wovon die Kammer seinerzeit in ihrem Beschluss vom 19. März 1998 im parallelen Eilverfahren 1 L 364/98 bei der damals nur möglichen summarischen Prüfung und angesichts der lediglich bekannten Tatsachenlage ausgegangen ist.
43Zur Gefahrenprognose (im Rahmen des § 15 Abs. 1 VersammlG) hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem ausgeführt: Die behördliche Eingriffsbefugnis wird . . . dadurch begrenzt, dass Verbote und Auflösungen nur bei einer 'unmittelbaren Gefährdung' der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung statthaft sind. . . . Erforderlich ist . . . eine Gefahrenprognose. Diese enthält zwar stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil; dessen Grundlagen können und müssen aber ausgewiesen werden. Dem gemäß bestimmt das Gesetz, dass es auf 'erkennbaren Umständen' beruhen muss, also auf Tatsachen, Sachverhalten und sonstigen Einzelheiten; bloßer Verdacht oder Vermutungen können nicht ausreichen. Unter Berücksichtigung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit darf die Behörde insbesondere bei Erlass eines vorbeugenden Verbotes keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen, . . . (vgl. z. B. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 - 1 BvR 233 und 341/81 - [Brockdorf Beschluss], BVerfGE 69, 315, 353 f.). Eine versammlungsrechtliche Maßnahme wirft danach dann keine besonderen Probleme auf, wenn die Prognose mit hoher Wahrscheinlichkeit ergibt, dass der Kläger und sein Anhang Gewalttätigkeiten beabsichtigten oder ein solches Verhalten anderer zumindest gebilligt hätten. Eine solche Demonstration würde als unfriedlich von der Gewährleistung des Art. 8 GG überhaupt nicht erfasst. Würde demgegenüber unfriedliches Verhalten Einzelner für die gesamte Veranstaltung und nicht nur für die Täter zum Fortfall des Grundrechtschutzes führen, könnte jedoch praktisch jede (Groß-)Demonstration dieser Art verboten werden, weil sich nahezu immer Erkenntnisse" über unfriedlich Absichten eines Teils der Teilnehmer beibringen lassen (vgl. erneut BVerfG, a.a.O., S. 360 f.).
44Die dargestellten Grundsätze gelten in der Annahme, dass der Beklagte seinerzeit einen Platzverweis gegenüber dem Kläger durchgesetzt hat, auch für die Gefahrenprognose nach § 34 PolG. Der Beklagte hat sich nämlich nicht auf sonstige ordnungs- oder polizeirechtliche Gefahren, die durch die Errichtung des Camps in Heek-Ahle hervorgerufen worden wären, berufen. Vielmehr hat er sich maßgeblich zur Begründung seiner Verfügung vom 19. März 1998 auf das von ihm unter versammlungsrechtlichen Gesichtspunkten ausgearbeitete Störerlagebild 'Widerstandscamps'" (vgl. dort die Einführung unter Ziff. 1.1, Bl. 3 der Beiakte Heft 5) mit dem Stand vom 13. März 1998 gestützt. Unter Zugrundelegung dieser Gefahrenprognose, die selbst in unmittelbaren Zusammenhang mit der von dem Beklagten erlassenen Allgemeinverfügung vom 9. März 1998 und der dort aufgestellten Gefahrenprognose steht, hat der Beklagte auch zuletzt in der mündlichen Verhandlung keine ausreichenden erkennbaren Umstände" bzw. erkennbare Gefahren benannt, die das Verbot des Camps in Heek-Ahle im Sinne einer versammlungsrechtlichen Verfügung oder im Sinne eines Platzverweises rechtfertigten.
451. Die Gefahrenprognose in der Allgemeinverfügung vom 9. März 1998 legt eine Gefährdung der Transportstrecken auf dem Schienenwege durch Camps innerhalb des durch sie erfassten Gebietes und Transportkorridors zu Grunde. Daher begründen die dort benannten erkennbaren Umstände" keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine hinreichende Gefahrprognose für das Gebiet a u ß e r h a l b des Bereichs, den der Beklagte selbst auf der Grundlage eben dieser Gefahrenprognose mit der Allgemeinverfügung begrenzt hat. Der Beklagte hat in Kenntnis der Umstände, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründeten, die Grenzen der versammlungsfreien Zone in einer Entfernung von über einem Kilometer südlich des Nordcamps festgesetzt. Die Entscheidung über die Begrenzung der versammlungsfreien Zone um das BZA und die Transportstrecken hatte er in Kenntnis des Umstandes getroffen, dass das Nordcamp annäherungsweise an der Stelle organisiert werden würde, für die es der Kläger letztlich auch bei der Gemeinde Heek angemeldet hatte (vgl. Störerlagebild 'Widerstandscamps'" und dort die Karten Bl. 40 R und 41 R der Beiakte Heft 5). Die Gefahrprognose der Allgemeinverfügung wie auch das Störerlagebild 'Widerstandscamps'" gehen von der Wahrscheinlichkeit von Sachbeschädigungen an den Gleisanlagen und Blockaden des Bahntransports aus. Dass sich friedliche und unfriedliche Teilnehmer, die aus vielen Teilen der Bundesrepublik Deutschland anreisen wollten, (auch) im Nordcamp sammeln wollten und würden, begründet auf der Grundlage der Rechtsprechung des BVerfG jedoch noch keinen konkreten Anhaltspunkt, dass sich Teilnehmer im Nordcamp bzw. in dessen unmittelbarer Nähe gewalttätig verhalten wollten (vgl. dazu BVerfG, a.a.O., S. 367).
462. Dass der Kläger selbst als Veranstalter unmittelbar zu Gewalttätigkeiten gegen die Transportstrecke und den Transport nach Ahaus aufgerufen hätte, ist dem "Störerlagebild" vom 13. März 1998 nicht zu entnehmen. Zwar weist - wie im Tatbestand dargestellt - das vom Kläger verfasste und am 6. Dezember 1997 in Gorleben verteilte Flugblatt zum anstehenden Castortransport nach Ahaus auch aus, dass . . . Aktivitäten . . . von mehreren Camps entlang der Bahnstrecke ausgehen" sollen. Erkennbare Umstände für eine unfriedliche Haltung des Klägers auf der Basis der oben im Einzelnen zitierten Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der in der in der Allgemeinverfügung dargelegten Gefahrenprognose ergeben sich daraus aber nicht. Das in das Störerlagebild vom 13. März 1998 aufgenommene Flugblatt Trainstopping" (Bl. 33 Beiakte Heft 5), das konkrete Aktionen gegen die Transportroute des Castor IV" nach Ahaus beschreibt und dazu aufruft, soll, wie der Fußnote 20 des Störerlagebildes" zu entnehmen ist, zwar seit 1997 in der Szene verbreitet sein. Der Texturheber ist jedoch unbekannt. Unter diesem Gesichtspunkt können dem Kläger selbst, der zwar in dem erstgenannten Flugblatt für einen erwarteten Transport nach Gorleben die Ausarbeitung eines Streckenkonzeptes für Lüchow-Dannenberg" offenbar befördern wollte, dies aber nicht für Ahaus angekündigt hatte, die in dem Flugblatt Trainstopping" erörterten Gleisblockaden, - aktionen und -unterbrechungen nicht zugeschrieben werden. Dem widerspricht in diesem Zusammenhang sogar eher der Umstand, dass nach dem Inhalt der Anmeldung bei der Gemeinde Heek das Nordcamp lediglich als Übernachtungs- und Versorgungscamp organisiert sein sollte. Daraus kann ebenso der Schluss gezogen werden, dass etwaige Demonstrationshandlungen - auch gewalttätiger Art bzw. mit Stoßrichtung auf den Gleisweg - anderen Camps zugeschrieben werden sollten.
47Die Erkenntnisse des Beklagten in seinem Störerlagerbild zu Camps in Gorleben während des Castor III"-Transportes geben für eine grundsätzlich unfriedliche Haltung des Klägers ebenfalls nichts her. Die Feststellungen des Beklagten zu einzelnen Camps, aus denen es im März 1997 zu unfriedlichen Aktionen gekommen war, weisen an keiner Stelle den Kläger als Organisator oder sonst Verantwortlichen dieser Camps aus.
483. Die vom Beklagten jedenfalls in der mündlichen Verhandlung als maßgeblicher Umstand für seine Verfügung angeführte Nähe des Nordcamps zur Bahntrasse Gronau-Epe-Ahaus (so genannte Nordroute für den Castortransport) kann die von ihm geltend gemachte Gefahrenprognose ebenfalls nicht rechtfertigen.
49Das Nordcamp war in einer Entfernung von bis zu 400 m zu dieser Bahntrasse errichtet worden. In der Allgemeinverfügung vom 9. März 1998 ging der Beklagte selbst für den Kernbereich möglicher zentraler Aktionen" jedoch davon aus, dass versammlungsrechtliche Veranstaltungen auch in einer solchen Entfernung zur Bahntrasse möglich sein müssten. Dies zeigt bereits die Grenzziehung der versammlungsfreien Zone in ihrem nördlichen Bereich auf, in dem sie die Nordroute erfasst und dabei zum Teil zur Bahntrasse ebenfalls einen Abstand von unter 400 m lässt. Danach hat der Beklagte allein in einer fußläufigen Entfernung und Erreichbarkeit der Bahntrasse von 400 m von einem Camp aus keinen eine unmittelbare Gefahr begründenden Umstand gesehen. Vergleichbares hat im Übrigen auch für die Existenz des Camps X 4 gegolten, dass der Beklagte zugelassen hatte. Die Gefährdungseinschätzung des Beklagten aus seinem ursprünglichen Vortrag kann hingegen nicht berücksichtigt werden. Sie beruht auf einer fehlerhaft zu Grunde gelegten Ortslage des Nordcamps, das sich dann direkt westlich der Nordroute befunden hätte. Damit wäre das Camp lediglich 10 m vom Eisenbahngleis entfernt gewesen und hätte möglicherweise die Gefährdungseinschätzung des Beklagten als zutreffend begründen können. Von einer solchen Lage ist der Beklagte in Übereinstimmung mit dem Kläger ausweislich seiner Ausführungen in der mündlichen Verhandlung und des vorgelegten Kartenmaterials nicht mehr ausgegangen und hat zutreffend die oben beschriebene Ortslage zu Grunde gelegt.
50Dass topographische Besonderheiten, etwa die Möglichkeit einer relativ unbemerkten Annäherung an die Route des Castorentransportes, auf Grund der Lage des Nordcamps für den Erlass der angegriffenen Verfügung in Betracht zu ziehen gewesen wären, ist nicht erkenntlich. Die vom Beklagten eingereichte Karte (Beiakte 7) weist vielmehr aus, dass der vom Nordcamp in die westliche Richtung zur Bahntrasse führende Weg weitgehend über freies Feld verlauft. Auch im Übrigen sind topographische Gegebenheiten, die unbemerkt rechtswidrige Angriffe auf die Bahntrasse ermöglicht oder erleichtert hätten, vonm Beklagten weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der in der Allgemeinverfügung vom 9. März 1998 (S. 11 zu 6.) angesprochene mögliche Schutz potentieller Täter durch Umstehende konnte durch das 400 m von der Bahntrasse entfernte Camp ebenfalls nicht bewirkt werden.
514. Die vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung gegebene Begründung, die letztlich für den Erlass der angegriffenen Verfügung vom 19. März 1998 ausschlaggebend gewesen sein soll, enthält ebenfalls keine ausreichende Gefahrenprognose. Der Beklagte hat im Ergebnis dargelegt, nach Erlass seiner Allgemeinverfügung vom 9. März 1998 sei eine Gefährdungseskalation eingetreten, die auch die Schließung von Camps erfordert habe, die außerhalb der versammlungsfreien Zone und weniger als 1000 m von der Bahnstrecke entfernt lagen. Für diese behauptete Gefährdungseskalation - am 19. März 1998 und vor Räumung des Nordcamps - hat die Kammer jedoch keine Anhaltspunkte. Der Beklagte hat angegeben, die Räumung des Nordcamps sei eine Reaktion auf Ereignisse am selben Tage an der Südroute gewesen. Im Verlaufe des Tages sei es zu Gleisbesetzungen und Beschädigungen der Südstrecke gekommen. Folge seien am Abend des 19. März 1998 zahlreiche Ingewahrsamnahmen im Legdener Raum gewesen. Diese Darstellung trifft nach den Erkenntnissen der Kammer nicht zu: Unter dem 12. August 1998 hat das Ministerium für Inneres und Justiz NRW dem Landtagsabgeordneten Roland Appel in einem Brief Auskunft zum Einsatz der Polizei anlässlich des Castor IV"-Transportes gegeben. Dieser Brief ist Bestandteil der beigezogenen Verfahrensakte 1 K 1139/98 (Bl. 59, 60 der Gerichtsakte). Nach dem Inhalt des Briefes sind - auf Grund von Gleisblockaden und ähnlicher Vergehen- in Legden erst am 20. März 1998 Personen von der Polizei in Gewahrsam genommen worden. Der Gefangenensammelstelle Coesfeld (Bl. 10 des Briefes bzw. Bl. 50 der Gerichtsakte) wurden am 19. März 1998 hingegen 9 Personen nach Verstößen gegen das Versammlungsgesetz zur Durchsetzung eines Platzverweises zugeführt, da zu befürchten gewesen sei, dass sie ein verbotenes und geräumtes Camp nördlich der B 474 in der Ortslage Wehr" wieder besetzen würden. Dabei handelte es sich - wie sowohl dem Gericht als auch den Parteien bekannt ist - um das in dem Verfahren 1 K 1139/98 von der erkennenden Kammer behandelte Südcamp", das nach dem Urteil vom 30. November 2001 trotz der vom Beklagten behaupteten relativen Nähe zur Südstrecke und der behaupteten Möglichkeit, unbemerkt an diese Castortransport zu gelangen, für rechtmäßig erachtet worden ist. Insoweit hat die Kammer festgestellt, dass das ausgesprochene Versammlungsverbot vom 18. März 1998 rechtswidrig war.
52Angesichts dessen entbehrt die behauptete Aktualisierung der Gefahrenprognose für das Nordcamp zu dem Zeitpunkt, als es geräumt wurde, der vom Beklagten mitgeteilten Grundlage. Das Camp wurde am 19. März 1998 zwischen 16:41 und 17:34 Uhr geräumt. Ausweislich des den Beteiligten bekannten Urteils in dem Verfahren 1 K 2117/98 vom 18. Juli 2003, das ebenfalls das Südcamp unter weiteren polizeirechtlichen Gesichtspunkten betraf, wurde dieses Camp ungefähr zur gleichen Zeit, nämlich zwischen 16:07 und 17:07 Uhr am 19. März 1998 geräumt. Dies bedeutet, dass die Personen, die das gesperrte Südcamp erneut aufsuchen wollten und denen ein Platzverweis ausweislich des Briefes des Innenministeriums an den Landtagsabgeordneten Appel erteilt wurde, erst n a c h Räumung des Nordcamps Anlass für ein polizeiliches Einschreiten durch ihre Ingewahrsamnahme gegeben haben Danach können die vom Beklagten behaupteten Aktivitäten bzw. Ereignisse an der Südroute zum Zeitpunkt bzw. vor der Räumung des Nordcamps weder Anlass für den Entschluss zur Räumung des Camps noch Grundlage für eine entsprechend gestützte Gefahrenprognose gewesen sein.
53Bei dieser Sachlage kann dem vom Beklagten weiter benannten Argument, mit der angebotenen Verlegung des Nordcamps auf den Standort des Camps X 2 östlich der Eisenbahntrasse habe eine geringere Gefährdung für die Transportroute bestanden, ebenfalls nicht gefolgt werden. Das Camp X 2 war in der Luftlinie unwesentlich weiter von der Nordstrecke, nämlich 600 statt 400 m entfernt. Die vom Beklagten herangezogene topographische Besonderheit, dass östlich des Camps X 2 und damit in Richtung der Bahntrasse noch die Ahauser Aa verläuft, gibt für die Gefahrenprognose ebenfalls nichts her. Ausweislich des Kartenmaterials (Beiakte Heft 7) konnte die Ahauser Aa in der Nähe des Camps X 2 über mindestens 3 Brücken überquert werden. Für das Nordcamp hätte hingegen lediglich eine Straße zur Erreichung des Bahndamms zur Verfügung gestanden. Im Übrigen hätten die Demonstranten zur Bahnstrecke über freies Feld und damit für die Polizei leicht sichtbar zur Transportroute laufen müssen.
54Danach ist ferner nicht erkennbar, dass die Verlegung des Nordcamps auf den Standort des Camps X 2 eine maßgebliche Verbesserung der Überwachung der Nordroute durch die Polizei ermöglicht hätte. Vielmehr hätte dann nur eine erheblich weiter von den Bahngleisen entfernte Verlegung des Camps - eben in dem angegebenen Abstand von rund 1000 m -, die eine entsprechend deutlich weiter zurückzulegende fußläufige Strecke für die Campteilnehmer bedeutet hätte, das angenommene Gefährdungspotential mindern können. Die danach allenfalls noch in Betracht zu ziehende "Erleichterung" der Streckenüberwachung war angesichts des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in § 2 Abs. 1 PolG hingegen kein in die Gefährdungsprognose einzustellender Gesichtspunkt.
555. Weitere, vor Erlass der angegriffenen Verfügung bekannt gewordene Tatsachen, aus denen sich eine besondere Gefährdung des Transportes durch das Nordcamp ergeben hätten, hat der Beklagte weder im Verfahren noch in der mündlichen Verhandlung dargelegt.
56II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über deren vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
57III. Gründe für eine Zulassung der Berufung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4 VwGO durch das Verwaltungsgericht sind nicht ersichtlich.
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