Urteil vom Verwaltungsgericht Münster - 1 K 411/06
Tenor
Das Verfahren wird eingestellt, soweit es den Kläger zu 4. betrifft. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kläger zu 1., 2. und 3. tragen 7/8 der Kosten des Verfahrens, der Kläger zu 4. trägt 1/8 der Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
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T a t b e s t a n d :
2Der Kläger zu 1. ist Schüler der Klasse 6a des Albertus- Magnus- Gymnasiums in Beckum. Er wohnt in dem Kolleg Kardinal von Galen - Haus Assen, das von dem Kläger zu 4. geleitet wird. Die Kläger zu 2. und 3. haben den Kläger zu 4. im Juni 2004 dazu ermächtigt, sie in allen schulischen Belangen zu vertreten, die den Kläger zu 1. betreffen.
3Am 11. Januar 2006 wurde in der Klasse 6a im Rahmen des Biologieunterrichts der Sexualkundeunterricht aufgenommen. Als Lehrbuch wurde das im Schroedel- Verlag Hannover erschienene Buch "Netzwerk Biologie 1" verwandt, das von den Autoren Jaenicke und Jungbauer herausgegeben wird. Über die Aufnahme und den wesentlichen Inhalt des Unterrichts, der im 9. Schuljahr vertiefend fortgesetzt werden soll, unterrichtete der Fachlehrer die Eltern der Schüler mit einem Schreiben, das den Schülern am 12. Januar 2006 ausgehändigt wurde. Bereits mit Schreiben vom 9. Januar 2006 meldete der Kläger zu 4. den Kläger zu 1. von diesem Unterricht ab; der Kläger zu 1. nahm im Folgenden an den jeweiligen Unterrichtsstunden nicht teil. Die Unterrichtsreihe endete am 27. Januar 2006.
4Am 13. Januar 2006 beantragte der Kläger zu 4. bei dem Beklagten zu 1., den Kläger zu 1. vom Sexualkundeunterricht sofort freizustellen, da das für den Unterricht vorgesehene Lehrbuch kinderpornographische Inhalte aufweise und - ebenso wie die Unterrichtsmethode - nicht mit den Richtlinien der katholischen Kirche vom 8. Dezember 1995 in Einklang zu bringen sei. Mit Schreiben vom 16. Januar 2006 lehnte der Beklagte zu 1. den Antrag des Klägers zu 4. ab.
5Hiergegen erhob der Kläger zu 4. am gleichen Tag Widerspruch, den die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 25. Januar 2006, der dem Kläger zu 4. am 27. Januar 2006 zugestellt wurde, zurückwies. Zur Begründung ihres Bescheides führte die Bezirksregierung Münster aus, eine Befreiung des Klägers zu 1. vom Sexualkundeunterricht auf der Grundlage von § 43 Abs. 3 SchulG NRW komme nicht in Betracht, da der Sexualkundeunterricht gemäß § 33 SchulG NRW zum Erziehungsauftrag der Schule gehöre und die Teilnahme dem Kläger zu 1. daher zumutbar sei.
6Die Kläger haben daraufhin am 24. Februar 2006 Klage erhoben.
7Zur Begründung ihrer Klage machen die Kläger geltend, der Kläger zu 1. sei von dem Sexualkundeunterricht der Klasse 6a zu befreien gewesen, da der Unterricht ihn bei seiner Teilnahme in seinem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 GG und die Kläger zu 2. bis 4. in ihrem unmittelbaren bzw. abgeleiteten Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG verletzt hätte. Die Verletzung der vorgenannten Grundrechte stelle einen wichtigen Grund im Sinne von § 43 Abs. 3 SchulG NRW dar. Sie ergebe sich aus dem indoktrinierenden Charakter des Unterrichts. Die Aussagen des Päpstlichen Rates für die Familie in seinem Dokument "Menschliche Sexualität: Wahrheit und Bedeutung. Orientierungshilfe für die Erziehung in der Familie" vom 8. Dezember 1995 würden nicht thematisiert. Der Unterricht stelle vielmehr - im Gegensatz zu den in dem vorbezeichneten Dokument niedergelegten religiösen Wertvorstellungen - die Auslebung von Sexualität außerhalb der Ehe unter Verwendung von Verhütungsmitteln als selbstverständlich dar und behandle Homo-, Bi- und Heterosexualität als gleichwertig. Der Unterricht greife im übrigen vielfach verfrüht in die geschlechtliche Reifung ein. Die Richtlinien für die Sexualerziehung seien dergestalt zu ändern, dass sie nach Altersstufen getrennt gefasst würden, dass grundsätzlich innere Differenzierung in kleine Gruppen gleichen Geschlechts und gleicher Entwicklung erfolge, dass Keuschheit und Triebbeherrschung im Jugendalter vermittelt und eine Gleichbewertung aller Formen sexueller Betätigung ausgeschlossen werde. Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage bestehe trotz Beendigung der beanstandeten Unterrichtseinheit, weil der Biologieunterricht mit dem beanstandeten Lehrbuch im ersten Halbjahr der Klasse 7 fortgesetzt werde.
8Mit Schriftsatz vom 12. April 2006 hat der Kläger zu 4. seine Klage zurückgenommen.
9Die Kläger zu 1., 2. und 3. beantragen nunmehr,
101. festzustellen, dass der Bescheid des Beklagten zu 1. vom 16. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Münster vom 25. Januar 2006 rechtswidrig gewesen ist,
112.
123. festzustellen, dass aus den Richtlinien für die Sexualerziehung in Nordhein Westfalen im zweiten Kapitel zu streichen ist: "weil ein Anspruch auf Befreiung von diesem Unterricht nicht besteht".
134.
145. hilfsweise zu den Klageanträgen zu 1. und 2. festzustellen, dass aus den "Richtlinien für die Sexualerziehung in Nordrhein Westfalen" rechtswidrige Anweisungen zu streichen sind :
156.
16"ohne Unterschiede im Wert" aus "Demnach sind Hetero-, Bi-, Homo- und Transsexualität Ausdrucksform von Sexualität, die, ohne Unterschiede im Wert, zur Persönlichkeit des betreffenden Menschen gehören",
17" an deren Fragen anknüpft oder sich an konkreten Erlebnissen und aktuellen Situationen orientiert. Die Wirksamkeit von Sexualerziehung ist auch davon abhängig, dass aktuelle Ereignisse und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler im Unterricht behutsam aufgearbeitet werden".
18Die Beklagten beantragen,
19die Klage abzuweisen.
20Der Beklagte zu 1. nimmt Bezug auf den angefochtenen Bescheid in der Ge-stalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Münster.
21Das beklagte Land nimmt Bezug auf den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Münster und macht ergänzend geltend, es bestünden bereits Zweifel an der Zulässigkeit der Klage, soweit die Kläger eine Änderung der Richtlinien des Landes Nordrhein- Westfalen für die Sexualerziehung beantragten, da sie insoweit eine Verletzung eigener Rechte nicht geltend machen könnten. Die Richtlinien des Landes führten nicht zu einem indoktrinierenden Unterricht der Schüler, da sie lediglich eine wertneutrale Wissensvermittlung über die verschiedenen Formen von Sexualität und der hierzu bestehenden Weltanschauungen vorsähen. Die Vermittlung von religiösen oder weltanschaulichen Wertvorstellungen zu dieser Thematik werde den erziehungsberechtigten Eltern überlassen. Der Bedeutung von Ehe und Familie werde - entsprechend ihrem verfassungsrechtlichen Schutz - in den Richtlinien Rechnung getragen. Eine verfrühte Sexualerziehung finde nicht statt, die von den Klägern geforderte Differenzierung hierbei sei nicht angezeigt.
22Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und des Vorbringens der Parteien im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, des von dem Beklagten zu 1. zur Verfügung gestellten Biologiebuchs und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (2 Bände) ergänzend Bezug genommen.
23E n t s ch e i d u n g s g r ü n d e :
24Die teilweise Einstellung des Verfahrens ist erfolgt, weil der Kläger zu 4. die Klage zurückgenommen hat, soweit sie von ihm erhoben wurde (§ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
25Die Klage der Kläger zu 1., 2. und 3. hat keinen Erfolg.
26Soweit die Kläger zu 1., 2. und 3. im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO in doppelt analoger Anwendung) die Feststellung begehren, die Ablehnung ihres Antrags auf Befreiung des Klägers zu 1. vom Sexualkundeunterricht sei rechtswidrig gewesen, ist ihre Klage zulässig. Die Kläger haben mit Blick auf die von ihnen behauptete Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 bzw. 6 Abs. 2 GG ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, da nach Beendigung der Unterrichtseinheit "Sexualkunde" im Rahmen des Biologieunterrichts der Klasse 6a des Albertus- Magnus- Gymnasiums nur auf diese Weise ein effektiver Schutz ihrer Grundrechte gewährleistet werden kann. Ohne eine Entscheidung über den Feststellungsantrag bliebe offen, ob das geduldete - eigenmächtige - Fernbleiben des Klägers zu 1. vom Biologieunterricht materiell legal oder illegal war.
27Vgl. zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse: BVerwG, Urteil vom 21. November 1980 - 7 C 18/79 -, BVerwGE 61, 164 = DVBl. 1981, 681 = Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 100.
28Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten zu 1. vom 16. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Münster vom 25. Januar 2006 war rechtmäßig und verletzte die Kläger zu 1., 2. und 3. nicht in ihren Rechten. Die Kläger zu 1., 2. und 3. hatten keinen Anspruch auf Freistellung des Klägers zu 1. von der vorbezeichneten Unterrichtseinheit.
29Die Voraussetzungen eines Befreiungsanspruchs nach den einzig in Betracht zu ziehenden Vorschriften des § 43 Abs. 3 SchulG NRW und des § 131 Abs. 2 SchulG NRW in Verbindung mit Nr. 11.1, 1. Absatz des Runderlasses des Kultusministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 26. März 1980 (GABl. NW. S. 183 = BASS 12-52 Nr. 31) waren nicht erfüllt.
30Nach § 43 Abs. 3 SchulG NRW kann der Schulleiter einen Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund bis zur Dauer eines Schuljahres von der Teilnahme an einzelnen Unterrichtsveranstaltungen befreien. Nach § 131 Abs. 2 SchulG NRW in Verbindung mit Nr. 11.1, 1. Absatz des vorbezeichneten Erlasses kommt eine Befreiung von einzelnen Unterrichtsveranstaltungen in Betracht, wenn eine bestimmte Unterrichtseinheit für den Schüler aus besonderen persönlichen Gründen unzumutbar ist.
31Die von den Klägern angeführten Gesichtspunkte stellen nicht solche zur Unzumutbarkeit der fraglichen Unterrichtseinheit führenden besonderen persönlichen Gründe dar, so dass ein wichtiger Grund für die Befreiung von der Unterrichtseinheit "Sexualkunde" nicht gegeben war. Das Elternrecht der Kläger zu 2. und 3. aus Art. 6 Abs. 2 GG und das Grundrecht des Klägers zu 1. auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG wären durch die Teilnahme des Klägers zu 1. zwar berührt, aber nicht verletzt worden.
32Dieser Bewertung legt die Kammer die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Beurteilung des Sexualkundeunterrichts zu Grunde.
33Vgl. ausführlich: BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, BVerfGE 47, 46 = NJW 1978, 807 = DVBl. 1978, 263 = DÖV 1978, 244; aus jüngster Zeit: Beschluss vom 31. Mai 2006 - 2 BvR 1693/04 -.
34Hiernach gilt Folgendes: Die Sexualerziehung, worunter im engeren Sinne die Wissensvermittlung über biologische Fakten aus dem sexuellen Bereich und im weiteren Sinne die Unterweisung in Fragen der Sexualethik zu verstehen ist, ist - zumindest auch - dem Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG zuzuordnen; gleichzeitig berührt sie den von Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Intimbereich des betroffenen Schülers.
35Insoweit besteht ein Spannungsverhältnis zu dem Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG, dem die Befugnis zur Planung und Organisation des Schulwesens zusteht. Hierzu gehört nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltliche Festlegung der Unterrichtsziele. Der Staat kann in der Schule grundsätzlich unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele verfolgen. Der allgemeine Auftrag der Schule zur Bildung und Erziehung der Kinder ist dem Elternrecht nicht nach-, sondern gleichgeordnet. Weder dem Elternrecht noch dem Erziehungsauftrag des Staates kommt ein absoluter Vorrang zu. Dabei ist der Lehr- und Erziehungsauftrag der Schule auch nicht darauf beschränkt, nur Wissensstoff zu vermitteln, sondern hat vielmehr auch zum Inhalt, das einzelne Kind zu einem selbstverantwortlichen Mitglied der Gesellschaft heranzubilden. Die Aufgaben der Schule liegen daher auch auf erzieherischem Gebiet. Dies betrifft auch die Sexualerziehung, da die Sexualität vielfache gesellschaftliche Bezüge aufweist und Kinder vor sexuellen Gefahren zu warnen und zu bewahren sind.
36Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, a.a.O., und vom 31. Mai 2006 - 2 BvR 1693/04 -.
37Der Staat ist jedoch verpflichtet, in der Schule die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder zu achten und für die Vielfalt der Anschauungen in Erziehungsfragen soweit offen zu sein, als es sich mit einem geordneten staatlichen Schulsystem verträgt. Das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität beinhaltet jedoch keinen Anspruch darauf, mit den in der Gesellschaft vertretenen Auffassungen und Wertvorstellungen nicht konfrontiert zu werden, sondern untersagt lediglich die Privilegierung einzelner Meinungen.
38Vgl. BVerfG, Urteil vom 6. Dezember 1972 - 1 BvR 230/70, 1 BvR 95/71 -, BVerfGE 34, 165 = NJW 1973, 133 = DÖV 1973, 50, und Beschluss vom 31. Mai 2006 - 2 BvR 1693/04 -.
39Soweit im Rahmen des schulischen Unterrichts bloße Fakten vermittelt werden, geschieht dies im Rahmen des staatlichen Bildungsauftrages; denn es geht hier um bloße Wissensvermittlung, also eine Aufgabe, die typischerweise der Schule zukommt und für die die Schule in der Regel auch besser geeignet ist als das Elternhaus. In diesem Bereich greift demzufolge das staatliche Bestimmungsrecht voll durch; eine Einflussnahme aufgrund des Elternrechts ist grundsätzlich auszuschließen. Jedoch muss auch hier Rücksicht auf das Persönlichkeitsrecht des Kindes genommen werden. Die Belehrungen sollen daher erst erfolgen, nachdem der Lehrer sich gründlich über die psychologische Situation und den Reifegrad der Kinder informiert hat. Bei der eigentlichen Sexualerziehung in der Schule muss ein Ausgleich zwischen dieser und dem Elternhaus stattfinden. Die Eltern haben aufgrund des Art. 6 Abs. 2 GG einen Anspruch darauf, rechtzeitig und umfassend über den Inhalt und den methodisch-didaktischen Weg der Sexualerziehung informiert zu werden, damit es ihnen ermöglicht wird, im Sinne ihrer eigenen Auffassungen und Überzeugungen über die Themen, die in der Schule behandelt werden sollen, auf ihre Kinder einzuwirken und so das ihnen nach dem Grundgesetz vorrangig zustehende individuelle Erziehungsrecht zur Geltung zu bringen.
40Ein Mitbestimmungsrecht der Eltern bei der Ausgestaltung der schulischen Sexualerziehung aufgrund des Art. 6 Abs. 2 GG ist jedoch zu verneinen. Das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG ist ein Individualrecht, das jedem Elternteil einzeln zusteht. Es kann nicht durch Mehrheitsbildung ausgeübt werden. In einer pluralistischen Gesellschaft ist es faktisch unmöglich, dass die Schule allen Elternwünschen Rechnung trägt und sie bei der Aufstellung der Erziehungsziele und des Lehrplans sowie bei der Gestaltung des Unterrichts berücksichtigt. Weder kann die Schule Unterrichtslösungen für jedes einzelne Kind oder beliebig kleine Gruppen von Kindern anbieten, noch brauchen die Eltern auf ihr individuelles Erziehungsrecht zugunsten einer von Elternmehrheiten vertretenen Auffassung zu verzichten. Ein mit allen Eltern einer Klasse auf die Persönlichkeit eines jeden Kindes in der Klasse abgestimmtes Zusammenwirken in der Sexualerziehung ist praktisch kaum vorstellbar, sobald der Bereich der schlichten Wissensvermittlung überschritten wird. Die Eltern können sich daher in diesem Bereich nicht uneingeschränkt auf ihr Recht aus Art. 6 Abs. 2 GG berufen. Sie werden in der Ausübung ihres Grundrechts insoweit durch die kollidierenden Grundrechte andersdenkender Personen begrenzt.
41Die Eltern können allerdings die gebotene Zurückhaltung und Toleranz bei der Durchführung der Sexualerziehung verlangen. Die Schule muss den Versuch einer Indoktrinierung der Schüler mit dem Ziel unterlassen, ein bestimmtes Sexualverhalten zu befürworten oder abzulehnen. Sie hat das natürliche Schamgefühl der Kinder zu achten und muss allgemein Rücksicht nehmen auf die religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern, soweit sie sich auf dem Gebiet der Sexualität auswirken.
42Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 21. Dezember 1977 - 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75 -, a.a.O., und vom 31. Mai 2006 - 2 BvR 1693/04 -.
43Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der auf der Grundlage von § 33 SchulG NRW, der Richtlinien für die Sexualerziehung des Ministeriums für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Runderlass vom 30. September 1999 - 721.32-50/1-447/99; im Folgenden: Richtlinien) und anhand des Schulbuches "Netzwerk Biologie 1" durchgeführte Sexualkundeunterricht der Klasse 6a nicht zu beanstanden.
44§ 33 SchulG NRW trifft zur schulischen Sexualerziehung die folgenden Regelungen:
45"(1) Die fächerübergreifende schulische Sexualerziehung ergänzt die Sexualerziehung durch die Eltern. Ihr Ziel ist es, Schülerinnen und Schüler alters- und entwicklungsgemäß mit den biologischen, ethischen, sozialen und kulturellen Fragen der Sexualität vertraut zu machen und ihnen zu helfen, ihr Leben bewusst und in freier Entscheidung sowie in Verantwortung sich und anderen gegenüber zu gestalten. Sie soll junge Menschen unterstützen, in Fragen der Sexualität eigene Wertvorstellungen zu entwickeln und sie zu einem selbstbestimmten und selbstbewussten Umgang mit der eigenen Sexualität zu befähigen. Darüber hinaus sollen Schülerinnen und Schüler für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Partnerin oder dem Partner sensibilisiert und auf ihre gleichberechtigte Rolle in Ehe, Familie und anderen Partnerschaften vorbereitet werden. Die Sexualerziehung dient der Förderung der Akzeptanz unter allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Identität und den damit verbundenen Beziehungen und Lebensweisen.
46(2) Die Eltern sind über Ziel, Inhalt, Methoden und Medien der Sexualerziehung rechtzeitig zu informieren."
47Die Kammer hat keine Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift, da sie fast wortgleich die Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umsetzt. Sie sieht einen alters- und entwicklungsgemäßen Unterricht vor, der kein bestimmtes Sexualverhalten als Leitbild vorgibt, sondern vielmehr die Entwicklung eigener Wertvorstellungen zum Ziel hat. Soweit sie ferner bestimmt, die schulische Sexualerziehung diene der Förderung der Akzeptanz unter allen Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Identität und den damit verbundenen Beziehungen und Lebensweisen, beinhaltet sie zwar eine wertende Gleichstellung. Nur anhand dieser Gleichstellung kann jedoch das Ziel, im Rahmen der schulischen Sexualerziehung keine bestimmte Form des Sexualverhaltens vorzugeben, realisiert werden. Sie vollzieht im übrigen die vom Bundesgesetzgeber unter anderem in Art. 3 Abs. 3 GG und im Lebenspartnerschaftsgesetz getroffenen Wertungen nach und ist auch mit Blick hierauf nicht zu beanstanden: Der Schule kann es in Ausübung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages nicht verwehrt sein, die von der Rechtsordnung vorgegebenen Wertungen zu vermitteln.
48Auch die Richtlinien stehen mit den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Einklang. Den Richtlinien zufolge soll die schulische Sexualerziehung den Schülern helfen, ihr Leben bewusst und in freier Entscheidung sowie in Verantwortung sich und den anderen gegenüber zu gestalten. Sie soll die Schüler dabei unterstützen, in Fragen der Sexualität eine eigene Wertvorstellung zu entwickeln, sie zu einem selbstbestimmten und selbstbewussten Umgang mit der eigenen Sexualität befähigen und für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Partnerin oder dem Partner sensibilisieren (vgl. Nr. 1, Abs. 4). Die Richtlinien führen des weiteren aus: Die Sexualerziehung gebe auf wissenschaftlicher Grundlage Informationen, Reflexionshilfen, Impulse zur Verarbeitung von Erfahrungen und schärfe das persönliche moralische Bewusstsein der Schüler durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Wertvorstellungen (Nr. 1, Abs. 5, Satz 2). Bei der Sexualerziehung seien die Lehrer zur besonderen Toleranz und Rücksicht gegenüber den unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und verschiedenen Wertvorstellungen der Eltern zu Fragen menschlicher Sexualität verpflichtet (vgl. Nr. 2, Abs. 2, Satz 1). Bei der Gestaltung des Unterrichts sei es besonders wichtig, dass die Schüler mitentscheiden könnten und dass die Bedürfnisse einzelner Kinder oder Gruppen ihrem Alter entsprechend beachtet würden. Dabei sei es selbstverständlich, dass die ganze Bandbreite der pädagogischen und methodischen Möglichkeiten ausgeschöpft werde, um einen möglichst individuellen Zugang zu den Schülern zu finden (Nr. 3, Abs. 2). Großen Unterschieden in der individuellen Entwicklung des Wissens über Sexualität und des sexuellen Erfahrungsspektrums innerhalb einer Lerngruppe und in der Fähigkeit zur Aufnahme und Verarbeitung der Lerninhalte sowie kulturellen und religiöse Aspekten sei gegebenenfalls mit einer Differenzierung des Unterrichts zu begegnen, der auch in geschlechtshomogenen Gruppen erfolgen könne (vgl. Nr. 3, Abs. 3 und 4). Die Intimsphäre von Kindern und Jugendlichen, ihre unterschiedliche Entwicklung, ihre Scham und Unsicherheit seien zu achten. Das Ziel der sexuellen Mündigkeit schließe es überdies aus, den Schülern im Unterricht bestimmte Auffassungen oder Konzepte gelungenen sexuellen Lebens aufzudrängen (vgl. Nr. 4, Abs. 4 Sätze 2 und 3). Um die gesamte gesellschaftliche Situation in den Blick zu nehmen, seien nicht nur Ehe und Familie, sondern auch andere Formen des Zusammenlebens wie z. B. Alleinerziehende, unverheiratete Eltern und gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu thematisieren (vgl. Nr. 5.3 Absätze 2 und 3). Des weiteren seien die medizinisch-biologischen Fakten der Empfängnisverhütung zu vermitteln und ihre Vor- und Nachteile zu besprechen, um so die emotionalen Hemmschwellen der Schüler abzubauen (vgl. Nr. 5.6, Abs. 3). Eine religiös begründete Zurückhaltung gegenüber einzelnen Formen der Empfängnisverhütung sei zu respektieren (Nr. 5.6, Abs. 5).
49Die vorstehenden Auszüge aus den Richtlinien ergeben in ihrer Gesamtschau einen an den Vorgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgerichteten Rahmen, der eine hinreichende Offenheit für die elterlichen Erziehungsvorstellungen wahrt. Sexuelle Enthaltsamkeit wird zwar - entsprechend dem Indoktrinationsverbot - nicht nahegelegt, aber - entgegen der Ansicht der Kläger - durch die bloße Präsentation und Akzeptanz anderer Verhaltensweisen - auch nicht etwa abgewertet. Den Klägern zu 2. und 3. steht mithin die Möglichkeit offen, dem Kläger zu 1. ihre Vorstellungen zu religiös begründeter Enthaltsamkeit zu vermitteln.
50Ein indoktrinierender Charakter des Unterrichts ergibt sich ferner nicht aus der in den Richtlinien festgelegten wertenden Gleichstellung von Hetero-, Bi-, Homo- und Transsexualität (vgl. Nr. 5.4, Absätze 1 und 2). Diese Bewertung vollzieht lediglich die von der Rechtsordnung getroffenen Bewertungen nach.
51Schließlich verletzen die Richtlinien die Intimsphäre des Klägers zu 1. nicht mit Blick darauf, dass sie einen Sexualkundeunterricht "in Anknüpfung an konkrete(n) Erlebnissen" der Schüler vorsehen. Nach dem Vortrag des Beklagten zu 1. in der mündlichen Verhandlung werden die Schüler des Albertus- Magnus- Gymnasiums im Rahmen des Sexualkundeunterrichts nicht dazu aufgefordert, über eigene sexuelle Erlebnisse zu berichten. Dem sind die Kläger nicht entgegen getreten. Abgesehen davon normiert die von den Klägern beanstandete Passage der Richtlinien die Schilderung derartiger Erlebnisse nicht als Voraussetzung für den Sexualkundeunterricht, sondern sieht lediglich vor, dass derartige Erlebnisse im Rahmen des Unterrichts aufgegriffen werden können.
52Auch das im Unterricht verwandte Schulbuch "Netzwerk Biologie 1" führt nicht zur Unzumutbarkeit einer Teilnahme am Sexualkundeunterricht. Die Darstellung auf den Seiten 54 ff. zur Fortpflanzung und Entwicklung beim Menschen vermittelt im Wesentlichen in Text und Bild biologische Fakten. Die Fotografien zur Veranschaulichung der Veränderungen des Körpers während des Erwachsenwerdens - jeweils drei Fotografien eines nackten Jungen im Alter von 11, 13 und 16 Jahren und eines nackten Mädchens im Alter von 9, 12 und 14 Jahren -, sind an Darstellungen anatomischer Lehrbücher orientierte Abbilder, fern jeder sexualisierenden oder gar pornografischen Zurschaustellung. Diese Passagen des Buches wie auch die Erläuterungen zu Empfängnis und Schwangerschaft und zur Funktionsweise und Sicherheit von verschiedenen Verhütungsmitteln sowie die zwei als "Streifzug durch die Ethik" benannten Exkurse, von denen sich einer mit dem Thema "Freundschaft, Liebe und Partnerschaft" befasst, werden vom staatlichen Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG gedeckt. Soweit die Kläger in diesem Zusammenhang sinngemäß geltend machen, die Aufnahme von Geschlechtsverkehr bereits vor der Ehe werde durch die Vorstellung von Verhütungsmitteln und Schilderung entsprechender Partnerschaften als selbstverständlich dargestellt, kann das Gericht eine Indoktrinierung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht erkennen. Entgegen der Behauptung der Kläger impliziert das bloße Faktenwissen über den Einsatz von Verhütungsmitteln nicht etwa zugleich die Aufforderung, von diesen Möglichkeiten auch Gebrauch zu machen. Die in dem Buch enthaltenen Exkurse dienen ersichtlich lediglich als Diskussionsgrundlage und beinhalten nicht die verbindliche Vorgabe bestimmter Verhaltensweisen.
53Dass der in der Klasse 6a durchgeführte Sexualkundeunterricht speziell der persönlichen Entwicklung des Klägers zu 1. nicht entsprochen hätte, haben die Kläger nicht vorgetragen. Ihre Auffassung, während des Gebrauchs des Schulbuches befänden sich viele Jungen noch in der Phase vor der Pubertät, so dass ihnen die entsprechende Thematik - unnötig - aufgedrängt werde, verfängt nicht. Abgesehen davon, dass die Pubertät bei jedem einzelnen Schüler zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt, der von dem jeweiligen Fachlehrer überdies schwer zu bestimmen sein dürfte, einsetzt, ist das grundlegende Wissen über biologische Fakten aus dem sexuellen Bereich auch schon zu einem früheren Zeitpunkt für die Schüler von Wichtigkeit, denn hierdurch kann beispielsweise sexuellem Missbrauch begegnet werden.
54Soweit die Kläger zu 1., 2. und 3. neben dem Fortsetzungsfeststellungsantrag (Klageantrag zu 1.) bzw. hilfsweise (Klageantrag zu 3.) die Feststellung begehren, dass bestimmte Passagen aus den Richtlinien zu streichen sind, ist ihre Klage unzulässig. Die Richtlinien werden erst durch den jeweiligen Sexualkundeunterricht bzw. die Entscheidung über einen Antrag auf Befreiung vom Unterricht aktualisiert. Erst dieser Vollzug löst die für die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Verletzung eigener subjektiv- öffentlicher Rechte aus. Den Richtlinien selbst kommt diese unmittelbare Außenwirkung nicht zu.
55Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO entsprechend. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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