Beschluss vom Verwaltungsgericht Münster - 1 L 515/06
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
1
G r ü n d e
2Der - sinngemäß gestellte - Antrag der Antragsteller,
3die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 10. Juli 2006 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. Juni 2006 wiederherzustellen,
4ist zulässig, aber nicht begründet. Die gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragsteller aus. Die Entscheidung des Antragsgegners, ihr Sohn N. benötige sonderpädagogische Förderung in einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen, weil bei ihm eine Lernbehinderung vorliege, ist offensichtlich rechtmäßig.
5Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen - SchulG NRW - (in der seit dem 1. August 2005 geltenden Fassung vom 15. Februar 2005, GV. NRW. S. 102) in Verbindung mit § 19 Abs. 3 SchulG NRW und § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke - AO-SF - (in der ebenfalls seit dem 1. August 2005 geltenden Fassung vom 29. April 2005, GV. NRW. S. 538, ber. S. 625) entscheidet die Schulaufsichtsbehörde auf Antrag der Eltern oder der Schule über den sonderpädagogischen Förderbedarf, Förderschwerpunkt und den Förderort. Vor der Entscheidung sind ein sonderpädagogisches Gutachten sowie ein medizinisches Gutachten der unteren Gesundheitsbehörde einzuholen und die Eltern zu beteiligen (§ 19 Abs. 2 Satz 2 und 3 SchulG NRW, §§ 3 Abs. 1 Satz 2, 12 AO-SF). Mit der Erstellung des sonderpädagogischen Gutachtens beauftragt die Schulaufsichtsbehörde eine sonderpädagogische Lehrkraft, die in Zusammenarbeit mit einer Lehrkraft der allgemeinen Schule in dem gemeinsamen Gutachten Art und Umfang der notwendigen Förderung unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Schülers feststellt (§ 19 Abs. 3 SchulG NRW, § 12 Abs. 1 Satz 1 AO-SF).
6Nach § 4 Nr. 1 AO-SF kann ein sonderpädagogischer Förderbedarf u. a. durch eine Lernbehinderung begründet sein. Eine Lernbehinderung liegt nach § 5 Abs. 1 AO-SF vor, wenn die Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind und durch Rückstand der kognitiven Funktionen oder der sprachlichen Entwicklung oder des Sozialverhaltens verstärkt werden.
7Von einer solchen Lernbehinderung ist bei N. auszugehen. Nach den vorliegenden schulärztlichen und pädagogischen Gutachten und sonstigen Stellungnahmen sind bei ihm Beeinträchtigungen im Sinne der vorgenannten Vorschrift zu verzeichnen.
8Die Schulärztin stellte anlässlich einer Untersuchung am 14. November 2005 bei N. unter anderem Entwicklungsdefizite im Bereich der Grob- und Fein- sowie der Visuomotorik fest. Seine Merkfähigkeit sei deutlich nicht altersgerecht, die visuelle Wahrnehmung bereite ihm noch große Schwierigkeiten, das Nachsprechen von Pseudowörtern zeige sich grenzwertig. Seine Aufmerksamkeitsspanne erscheine noch recht kurz.
9Das Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs wurde - entsprechend den Vorgaben von § 12 Abs. 1 Satz 1 AO-SF - von Frau X. (als sonderpädagogische Lehrkraft) und von Herrn B. (als Lehrkraft der allgemeinen Schule) erstellt. Die in der Verordnung vorgesehene Beteiligung einer sonderpädagogischen Lehrkraft an der Erstellung des Gutachtens trägt dem Umstand Rechnung, dass die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs einer besonderen fachlichen Qualifikation bedarf, über die eine sonderpädagogische Lehrkraft verfügt. Da bereits bei Einleitung des Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs Hinweise darauf bestehen, in welchem Bereich der Förderbedarf möglicherweise liegt, bestehen keine Bedenken dagegen, dass die Schulaufsichtsbehörde eine sonderpädagogische Lehrkraft einer Förderschule mit entsprechendem Förderschwerpunkt mit der Erstellung des Gutachtens beauftragt. Die sonderpädagogische Lehrkraft ist bei der Erstellung des Gutachtens fachlich unabhängig (vgl. Nr. 12.14 der Verwaltungsvorschriften zu § 12 Abs. 1 AO-SF). Vor diesem Hintergrund bestehen gegen die Beauftragung von Frau X. als sonderpädagogische Lehrkraft keine Bedenken. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass Frau X. als Konrektorin der K. , der N. mit Verfügung des Antragsgegners vom 19. Juni 2006 zugewiesen wurde, nicht über die für die Erstellung des Gutachtens erforderliche Unparteilichkeit verfügte.
10Die Beauftragung eines außerschulischen Gutachters kam nach den maßgeblichen Bestimmungen der Verordnung über die sonderpädagogische Förderung entgegen der Ansicht der Antragsteller hingegen nicht in Betracht. Die Frage, ob ein Kind sonderpädagogischer Förderung bedarf und welcher Förderbedarf konkret besteht, richtet sich nämlich grundsätzlich nach seinen in der Schule gezeigten Leistungen und seinem sonstigen schulischen Verhalten und ist anhand der in dem sonderpädagogischen Gutachten dargestellten, von der sonderpädagogischen Lehrkraft in Zusammenarbeit mit einer Lehrkraft der allgemeinen Schule getroffenen Feststellungen zu beantworten.
11Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 17. Februar 2000 - 19 A 4573/99 - und vom 13. September 2005 - 19 E 731/05 -.
12Erfolgt die Begutachtung anlässlich der Einschulung des Kindes, ist sein Verhalten im Kindergarten der Begutachtung zugrunde zu legen.
13Diesen Anforderungen wird das Gutachten zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs gerecht. Die Gutachter haben N. in der Kindergartengruppe beobachtet und ein Gespräch mit der Integrativkraft des Kindergartens geführt. Ihnen lagen zwei ärztliche Bescheinigungen des Sozial Pädiatrischen Zentrums in D. (SPZ) vom 29. November 2005 und 10. März 2006 vor. Sie stellten den Lernstand N1. in den Bereichen Mathematik, Sprache, Motorik, visuelle und Körperwahrnehmung fest und führten den Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder (HAWIK- III) durch. Hierbei erzielte N. mit einem Gesamt- IQ von 65 ein deutlich unterdurchschnittliches Ergebnis, an dessen Richtigkeit keine Zweifel bestehen. Entgegen der Information der Antragsteller absolvierte N. den Test nicht in Anwesenheit beider Gutachter und der beiden Erzieherinnen des Kindergartens, vielmehr wurde der Test allein von Frau X. in Anwesenheit der Integrativkraft des Kindergartens als emotionale Stütze für N. durchgeführt. Die Gutachter kommen abschließend zu dem Ergebnis, bei N. bestünde in hohem Maße sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich Lernen, der einen gemeinsamen Unterricht als Fördermöglichkeit ausschließe.
14Gegen die Richtigkeit dieses Gutachtens bestehen keine Bedenken. Die Feststellungen der Gutachter stimmen vielmehr mit den sonstigen, dem Gericht vorliegenden Stellungnahmen und ärztlichen Bescheinigungen überein.
15So äußerte im November 2005 die Leiterin des T. . N2. - Kindergartens, in dem N. seit August 2004 integrativ gefördert wird, im Rahmen einer gemeinsamen Stellungnahme mit der Integrativkraft die Einschätzung, N1. Wortschatz und Aussprache seien nicht altersgemäß. Neben seinen Defiziten im feinmotorischen und lebenspraktischen Bereich habe er größte Probleme im Anweisungsverständnis, was im Zusammenspiel mit seiner gering ausgeprägten Merkfähigkeit dazu führe, dass er Neues nur sehr schwer erlerne.
16Aufgrund einer statomotorischen Entwicklungsverzögerung befindet sich N. seit März 2004 außerdem in ergotherapeutischer Behandlung. Die behandelnde Ergotherapeutin stellte in einem Zwischenbericht vom 29. Januar 2005, der durch einen weiteren Bericht vom 8. November 2005 bestätigt wurde, fest, N. habe im Bereich der gesamten sensorischen Integration sehr viele Fortschritte gemacht, die jedoch sehr langsam erfolgt seien; es zeigten sich in verschiedenen Bereichen noch deutliche Auffälligkeiten. Bei der Bewältigung von Aufgaben zeige er sich häufig überfordert.
17Zu dieser Auffassung gelangte auch die Logopädin, in deren Behandlung sich N. aufgrund einer starken Sprachentwicklungsstörung (vgl. die Diagnose der Logopädin O. C. vom 11. Oktober 2005) seit September 2005 befindet: N. besitze eine sehr langsame Auffassungsgabe und ein extrem langsames Arbeitstempo (vgl. den ärztlichen Bericht vom 24. November 2005). Soweit die Logopädin in ihrem Bericht vom 11. Juli 2006 die Einschulung von N. in die Sprachheilschule empfiehlt, trägt sie damit ersichtlich lediglich seiner Sprachentwicklungsstörung Rechnung. Der sonderpädagogische Förderbedarf im Bereich Lernen wird durch die - zusätzlich vorhandene - Sprachentwicklungsstörung nicht in Frage gestellt.
18Auch das Sozial Pädiatrische Zentrum in D. , das N. auf Veranlassung der Antragsteller untersuchte, diagnostizierte mit Schreiben vom 29. November 2005 bei N. eine Entwicklungsstörung, eine sensomotorische Koordinationsstörung und eine unterdurchschnittliche (nonverbale) kognitive Leistungsfähigkeit. Der im SPZ durchgeführte SON-R-2.5-7 (Snijders- Oomen on-verbaler Intelligenztest) ergab bei dem zu diesem Zeitpunkt 5,4 Jahre alten N. ein Entwicklungsalter von 3,9 Jahren. Es sei deshalb ein Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs im Bereich Lernbeeinträchtigung einzuleiten.
19Es ist nicht ersichtlich, dass das SPZ in seinem weiteren Bericht vom 10. März 2006 an dieser Empfehlung nicht festhalten, sondern vielmehr den Besuch einer Sprachheilschule anstelle einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen empfehlen wollte. Zwar korrigierte das SPZ in seinem zweiten Bericht teilweise seine bisherige Diagnose, indem es - nach Durchführung des Intelligenztestes "Kaufman Assessment Battery for Children - K-ABC" von einer knapp durchschnittlichen kognitiven Leistungsfähigkeit im Grenzbereich zur unterdurchschnittlichen Leistungsfähigkeit ausging und ferner eine Sprachentwicklungsstörung feststellte. Der Besuch der Sprachheilschule könne Vorteile zur Bewältigung der schulischen Anforderungen bringen. Mit dieser Aussage sollte jedoch keine entsprechende Empfehlung ausgesprochen werden. Dies lässt sich aus dem Zusammenhang mit dem Bericht vom 29. November 2005 entnehmen, in dem die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs befürwortet und damit zugleich eingeräumt wurde, dass dem SPZ zur Beurteilung dieser Frage die fachliche Qualifikation fehlt.
20Es besteht auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Bescheides. Hat die zuständige Schulaufsichtsbehörde einen konkreten sonderpädagogischen Förderbedarf festgestellt und eine dem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf entsprechende Förderschule als Förderort bestimmt, so muss sie regelmäßig von dem für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erforderlichen besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung dieser Entscheidungen ausgehen und gegenläufige private Interessen der Eltern und des Schülers am Besuch der allgemeinen Schule zurückstellen. Denn bei einem aus der Sicht der Schulaufsichtsbehörde bestehenden sonderpädagogischen Förderbedarf, der einen Besuch der allgemeinen Schule ausschließt, begründet der auch nur vorübergehende Besuch der allgemeinen Schule regelmäßig die beachtliche Gefahr nicht hinnehmbarer Beeinträchtigungen der weiteren Schulausbildung und der allgemeinen Persönlichkeitsentwicklung des Schülers. In diesem Fall gebietet der verfassungsrechtliche Anspruch des Schülers auf angemessene Erziehung und Bildung (Art. 2 Abs. 1, 12 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 LV NRW) den sofortigen Besuch einer Förderschule. Auch ein zeitlich begrenzter Besuch einer den Anlagen und Fähigkeiten des Schülers nicht entsprechenden Schule kann insbesondere dessen Lernmotivation, sein Selbstwertgefühl und sein Sozialverhalten in der Schule tiefgreifend und langandauernd beeinträchtigen. Die Verhinderung dieser Folgewirkungen liegt nicht nur im öffentlichen Interesse, sondern zugleich im privaten Interesse des betroffenen Schülers. Denn die angemessene Erziehung und Bildung dieses Schülers ist nicht nur Gegenstand des - dem elterlichen Pflege- und Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) gleichgeordneten - staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 LV NRW), sondern zugleich Inhalt des verfassungsrechtlichen Anspruchs des Schülers auf angemessene Erziehung und Bildung. Das in einem gegenläufigen Sinn artikulierte private Interesse der Eltern und des Schülers am Besuch der allgemeinen Schule muss die zuständige Schulaufsichtsbehörde auch deshalb regelmäßig zurückstellen, weil die Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet sind, für eine den Anlagen und Fähigkeiten ihres Kindes entsprechende Schulausbildung Sorge zu tragen. Bei einem aus der Sicht der Schulaufsichtsbehörde bestehenden konkreten sonderpädagogischen Förderbedarf hat deshalb der grundsätzlich von der Schulaufsichtsbehörde auch bei der Entscheidung über eine Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO zu berücksichtigende Wunsch des Schülers und seiner Eltern am Besuch der allgemeinen Schule regelmäßig kein durchgreifendes Gewicht. Die Schulaufsichtsbehörde hat daher im Falle eines von ihr festgestellten konkreten sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung, die sofortige Vollziehung ihrer Entscheidung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO anzuordnen, um nachteilige Folgen für das Kind bei einem Besuch der allgemeinen Schule zu verhindern. Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. August 2004 - 19 B 1516/04 -, juris.
21Die Kostentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 1 VwGO, § 100 Abs. 1 ZPO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG.
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