Beschluss vom Verwaltungsgericht Münster - 2 L 1277/16.A
Tenor
Der Antragsgegnerin als Rechtsträgerin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) wird aufgegeben, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde des Kreises D. unverzüglich mitzuteilen, dass vorläufig eine Abschiebung des Antragstellers aufgrund der Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid vom 19. Februar 2016 nicht erfolgen darf.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e
2Der Antrag,
3der Antragsgegnerin als Rechtsträgerin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) aufzugeben, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde des Kreises D. unverzüglich mitzuteilen, dass vorläufig eine Abschiebung des Antragstellers aufgrund der Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid vom 19. Februar 2016 nicht erfolgen darf,
4ist zulässig. Er ist als Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft, weil ein (Eil-)Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO – wie das Gericht bereits entschieden hat (Beschl. v. 18. Mürz 2016 - 2 L 344/16.A) – aufgrund der Nicht-Einhaltung der Klagefrist in der Hauptsache keinen Erfolg mehr haben kann. Der Antragsteller kann daher die in der Sache geltend gemachten Einwendungen gegen die auf § 34a Abs. 1 AsylG gestützte Abschiebungsanordnung nur noch geltend machen, indem er beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellt und im Hauptsachverfahren gegebenenfalls im Wege der Verpflichtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO eine Sachentscheidung erzwingt. Der dem systematisch entsprechende statthafte Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist dann ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Sicherung des geltend gemachten Anspruchs auf Wiederaufgreifen des Verfahrens, mit dem eine vorläufige Verhinderung der angeordneten Abschiebung erreicht werden soll, indem der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsträgerin des Bundesamtes aufgegeben wird, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht aufgrund der früheren Mitteilung und der Abschiebungsanordnung aus dem Bescheid vom abgeschoben werden darf.
5Vgl. nur BayVGH, Beschl. v. 14. Oktober 2015 – 10 CE 15.2165 u.a. -, juris; VG Stade Beschl. v. 13. Juli 2016 – 1 B 1376/16 – juris.
6Für diesen Antrag besteht auch ein Rechtschutzbedürfnis, obwohl der Antragsteller nicht zuvor einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt hat. Eine vorherige Antragstellung ist entbehrlich, wenn – wie hier im Hinblick auf die für den morgigen Tag angekündigte Abschiebung – eine besondere Dringlichkeit besteht.
7Vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 29. EGL Oktober 2015, § 123 Rn. 121b.
8Der Antrag ist auch begründet.
9Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sind das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) und die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen. Dabei stehen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund allerdings nicht isoliert nebeneinander. Es besteht vielmehr zwischen beiden eine Wechselbeziehung der Art, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Darüber hinaus können sich aus Art. 19 Abs. 4 GG besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Die Gerichte müssen in solchen Fällen bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, also dem Bestehen eines Anordnungsanspruchs, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Das gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen.
10Vgl. etwa zu Eilanträgen betreffend die Gewährung existenzsichernder Leistungen BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05.
11Im Hinblick auf die zeitliche Nähe der dem Antragsteller drohenden Abschiebung lässt sich das Bestehen eines (Anordnungs-)Anspruchs des Antragstellers auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Sachentscheidung über seinen Asylantrag durch die Antragsgegnerin nicht abschließend feststellen. Auf Grundlage der deshalb (vgl. oben) anzustellenden Folgenabwägung war die beantragte einstweilige Anordnung zu erlassen. Hierbei berücksichtigt das Gericht, dass auf Seiten der Antragsgegnerin letztlich allein eine formale Rechtspositionen – nämlich die Frage, ob die Antragsgegnerin oder Ungarn für eine Sachentscheidung über den Asylantrag des Antragstellers zuständig ist – betroffen ist. Bei ihrer tatsächlichen Durchführung beträfe – und verletzte (vgl. unten) – die Abschiebung hingegen grundlegende grundrechtliche Belange des Antragstellers, namentlich solche, die durch Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh geschützt werden. Denn nach ständiger Rechtsprechung der Kammer ist auf Grundlage der Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn davon auszugehen, dass das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn systemische Mängel i.S.v. Art. 3 Abs. 2 2 UA Dublin III-VO aufweisen, aufgrund derer dem Kläger im Falle der Rückführung nach Ungarn die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
12Vgl. VG Münster, Urteil vom 19. November 2015 - 2 K 2131/15.A - , juris.
13Der ungarische Staat ist weder willens noch in der Lage, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern verdeutlicht der am 15. September 2015 ausgerufene Krisenfall, der die ungarischen Behörden nach der im August 2015 beschlossenen Gesetzesänderung zu einem beschleunigten, faktisch rein formalen Asylverfahren ermächtigt.
14Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlinge-suchen-sich-neuen-weg-nach-europa-13803713.html; FAZ vom 31. August 2015, S. 4: Ungarn will Asylverfahren in Transitzonen abwickeln.
15Das neue ungarische Gesetz sieht auch eine Kriminalisierung des illegalen Grenzübertritts vor. Bezeichnend sind in diesem Zusammenhang die Äußerungen des ungarischen Außenministers Peter Szijarto vom 11. November 2015. Mit dem Bemerken „Das Dublin-System ist tot“ bekräftigte dieser die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber den Flüchtlingen sowie die nicht bestehende Bereitschaft Ungarns zur Rücknahme von Flüchtlingen nach den in der Europäischen Union geltenden Regeln.
16http://www.welt.de/politik/ausland/article14874802/Ungarn-lehnt-es-ab- Flüchtlinge zurück zu nehmen.
17Die ungarischen Behörden reagieren mittlerweile auch nicht mehr auf Übernahmeersuchen anderer Mitgliedsländer der EU. Ungarn gewährleistet demnach nicht eine den Anforderungen des EU-Rechts bzw. der EMRK genügende (Mindest-) Versorgung der Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden, insbesondere hinsichtlich der vom EGMR unter Bezugnahme auf die Aufnahmerichtlinie im Lichte von Art. 3 EMRK eingeforderte Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse). Bei einer Gesamtschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zu Lasten der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen sind gegenwärtig systemische Mängel des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen anzunehmen, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh bergen.
18Vgl. hierzu im Einzelnen VG Münster, Urteil vom 19. November 2015 - 2 K 2131/15.A - , juris und www.nrwe.de sowie VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 – A 11 S 974/16 –, juris Rn 27 ff. m.w.N.
19Zwar war die Kammer aus prozessualen Gründen gehindert, diesen Umständen und den durch sie im Falle einer Abschiebung berührten grundrechtlichen Belangen des Antragstellers in den bisher anhängig gewesenen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO Geltung zu verschaffen, weil der Antragsteller die Frist zur Erhebung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 19. Februar 2016 versäumt hat und dieser daher in Bestandskraft erwachsen ist. Das enthebt jedoch weder die Antragsgegnerin noch die Ausländerbehörde des Kreises D. davon, diese Umstände bei der Entscheidung zu berücksichtigen, ob eine Abschiebung tatsächlich durchzuführen ist und verpflichtet sie, ggf. auf die Durchführung einer Abschiebung zu verzichten.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
21Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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