Beschluss vom Verwaltungsgericht Osnabrück (3. Kammer) - 3 B 82/02

Gründe

1

Der Antragsteller wurde im Schuljahr 2001/2002 zunächst in der Klasse 5 c, später dann in der Klasse 5 d der Orientierungsstufe unterrichtet. Im Dezember 2001 meldete die Schule den Antragsteller, der wiederholt dem Unterricht unerlaubt ferngeblieben war, den Unterricht gestört und auf Ordnungsmaßnahmen keine Änderung seines Verhaltens gezeigt hatte, für die Überprüfung des sonderpädagogischen Förderbedarfs an. Auf der Grundlage eines Beratungsgutachtens der überprüfenden Schule für Lernhilfe vom 06.06.2002, eines Berichtes der Orientierungsstufe und der Empfehlung der Förderkommission ordnete die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 09.08.2002 an, dass der Antragsteller die B Schule (Schule für Erziehungshilfe) zu besuchen habe. Dagegen hat der Antragsgegner nach erfolglosem Vorverfahren (Widerspruchsbescheid vom 01.10.2002) fristgerecht Klage erhoben, zu deren Begründung er im wesentlichen vorträgt: er habe gegenüber dem Zeitpunkt, in dem die bereits einige Zeit zurückliegenden Begutachtung erfolgt sei, sein Verhalten geändert, so dass jedenfalls zum aktuellen Zeitpunkt ein sonderpädagogischer Förderbedarf nicht mehr gegeben sei.

2

Im Laufe der Verfahrens ordnete die Antragsgegnerin mit folgender Begründung die sofortige Vollziehung ihres Bescheides vom 09.08.2002 an. Es bestehe ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass der Antragsteller die Schule für Erziehungshilfe besuche. Er sei nämlich wie aus den Gutachten hervorgehe, eindeutig ein für die Orientierungsstufe nicht geeigneter Schüler. Sein weiterer Verbleib auf der Orientierungsstufe beeinträchtige angesichts seines auffälligen Verhaltens und seiner Leistungsverweigerung nachhaltig das Lernklima und die Lernvoraussetzungen für die anderen Schüler. Ferner habe er die in einem Fall bereits durch sein Vorbild Mitschüler negativ beeinflusst und zur Nachahmung verleitet.

3

Dagegen wendet sich der Antragsteller mit folgender Begründung: Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei schon formell rechtswidrig. Jedenfalls wenn sie, wie hier, nicht unmittelbar mit dem Verwaltungsakt verbunden werde, müsse der Betroffenen insoweit nämlich gesondert angehört werden. Darüber hinaus fehle es jedenfalls an einem die Anordnung der sofortigen Vollziehung rechtfertigenden öffentlichen Vollzugsinteresse. Schon der Umstand, dass die sofortige Vollziehung des bereits drei Monate alten Bescheides erst jetzt angeordnet worden sei, zeige, dass ein besonderes Vollzugsinteresse nicht vorliege. Daneben sei gegenüber dem Zeitpunkt, in dem die Gutachten erstellt worden seien, eine gewisse Besserungstendenz erkennbar. In der Sache bestreitet er das ihm in jüngster Zeit angelastete Verhalten.

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Der Antragsteller beantragt,

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die aufschiebende Wirkung der Klage (3 A 196/02) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 09.08.2002 wiederherzustellen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Sie verweist zur Begründung auf das in der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides Ausgeführte. Der Behauptung, im Verhalten des Antragstellers sei in den letzten Monaten eine gewisse Besserungstendenz erkennbar, tritt sie entgegen. Vielmehr sei es gerade in jüngerer Zeit vermehrt zu erheblichen Störungen des Schulbetriebes durch den Antragsteller gekommen. Wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 20.11.2002 verwiesen.

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Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

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Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - in der Form der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO - hat keinen Erfolg.

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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Verfügung vom 09.08.2002 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden.

12

Zunächst einmal ist das besondere Vollzugsinteresse für die Anordnung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO in einer dem Gesetzeszweck des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hinreichend Rechnung tragenden Weise schriftlich begründet worden, in dem den Beteiligten und dem Gericht in schriftlicher Form offengelegt worden ist, aus welchen Gründen die Antragsgegnerin eine Anordnung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO und damit die zeitnahen Überweisung des Antragstellers an eine Schule für Lernhilfe für erforderlich hält.

13

Auch war der Antragsgegner nicht verpflichtet, die Antragsteller zur beabsichtigten Vollziehungsanordnung anzuhören. Nach herrschender Meinung (vgl. OVG Nds., Beschl. v. 31.01.2002, 1 MA 4216/01, NdsVBl. 2002, 162, OVG Rhl-Pfz, Beschl. v. 10.01.1997, 7 B 13464/96; Sächs. OVG, LKV 1993, 97; OVG Schl.-H., NVWZ-RR 1993,587, Kopp/Schenke, VwGO, 11. Auflage, § 80 Rn. 82; Eyermann, VwGO, 11. Auflage, § 80 Rn. 41 jeweils m.w.N.), der sich die Kammer anschließt, folgt ein solches Anhörungsgebot weder unmittelbar aus § 28 VwVfG noch aus seiner analogen Anwendung. Die unmittelbare Anwendung des § 28 Abs. 1 VwVfG scheitert bereits am klaren Wortlaut der Vorschrift, die an den Verwaltungsaktsbegriff anknüpft. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist indessen kein Verwaltungsakt, sondern unselbständiger Teil der durch den Verwaltungsakt getroffenen Regelung und beseitigt das durch die Erhebung des Widerspruchs bzw. der Klage eintretende Vollzugshindernis des Suspensiveffekts des § 80 Abs. 1 VwGO. Gegen eine analoge Anwendung der genannten Vorschrift spricht, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung hinsichtlich ihrer Eingriffsintensität nicht mit einem Verwaltungsakt vergleichbar ist, für ein gerichtliches Vorgehen gegen sie grundsätzlich keine Fristen bestehen und sie keiner Bestandskraft fähig ist. Ein Bedürfnis für die Vorverlegung eines Rechtsschutzes besteht daher nicht in derselben Weise wie bei Verwaltungsakten.

14

Aber auch wenn man mit der Gegenmeinung (Finkelnburg in: Finkelnburg/Jank, Einstweiliger Rechtschutz, Rdnr. 774 m.w.N.) eine Anhörung aus rechtsstaatlichen Gründen für erforderlich ansehen würde, kann die unterbliebene Anhörung jedenfalls mit heilender Wirkung auch während des hier anhängigen Eilverfahrens erfolgen (OVG NRW, Beschl.v.16.12.1997, NJW 1978,1764). Dies folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG. Entscheidend hierfür ist, dass der Antragsteller in dem gerichtlichen Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO alles vorbringen kann und das Gericht bei seiner (Ermessens-) Entscheidung alles Vorgebrachte zu berücksichtigen hat (vgl. BayVGH, Beschl.v.17.9.1987, BRS 47 Nr. 155).

15

Bei der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die angefochtene Verfügung in der Gesamtschau als voraussichtlich rechtmäßig, und es liegt auch ein hinreichend begründetes besonderes öffentliches Vollziehungsinteresse vor, das das Aufschubinteresse des Antragstellers in den Hintergrund treten lässt.

16

Die Feststellung der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller wegen einer Beeinträchtigung seines sozialen Verhaltens einer sonderpädagogischen Förderung bedarf (vgl. § 14 Abs. 2 Satz 1 NSchG) und deshalb gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 und 2 NSchG zum Besuch der für ihn geeigneten Sonderschule verpflichtet ist, ist bei summarischer Prüfung rechtlich nicht zu beanstanden.

17

Hinsichtlich der Entscheidung, ob der Schulpflichtige besonderer pädagogischer Förderung bedarf und welche Schule er zu besuchen hat, steht der Schulaufsichtsbehörde aufgrund des wertenden prognostischen Charakters der Entscheidung ein Beurteilungsspielraum zu, der verwaltungsgerichtlich grundsätzlich nur daraufhin zu überprüfen ist, ob die Behörde von unrichtigen Tatsachen ausgegangen ist, wesentliche Verfahrensvorschriften oder allgemein gültige Wertmaßstäbe verletzt hat oder von sachfremden Erwägungen ausgegangen ist.

18

Ausweislich der Verwaltungsvorgänge ist das Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs des Antragstellers durchgeführt worden. Die verschiedenen schulischen Stellungnahmen wie auch die Gutachten bejahen ausnahmslos das Vorliegen eines solchen Förderbedarfs, ohne dabei Rechtsfehler erkennen zu lassen. Insoweit wird auf die diesbezüglichen Ausführungen des Widerspruchsbescheids Bezug genommen. 

19

Soweit der Antragsteller geltend macht, die Verhältnisse hätten sich zwischenzeitlich insoweit geändert als ein Förderbedarf aufgrund seiner weiteren schulischen Entwicklung nicht mehr bestehe, liegen keine hinreichend substantiierten tatsächlichen Anhaltspunkte vor, die diese Auffassung stützten. Das aktuelle Zeugnis des Antragstellers vom 19.06.2002 weist ausschließlich in den Fächern Sport und Deutsch eine befriedigende bzw. ausreichende, in allen übrigen Fächern eine mangelhafte Leistung aus. Nach übereinstimmenden aktuellen Stellungnahmen bzw. Lernstandsberichte der unterrichtenden Lehrkräfte und schulfachlichen sowie schulpsychologischen Stellungnahmen aus neuerer Zeit ist der Antragsteller stark überfordert, kann dem Unterricht nicht folgen und kann den Anforderungen selbst in einer Kleinlerngruppe nicht gerecht werden. Der Antragsteller hat in der Vergangenheit wiederholt und erheblich gegen die Pflichten eines Schülers verstoßen, indem er- u.a.- den Unterricht gestört oder sich dem Unterricht entzogen hat. Sein Arbeitsverhalten hat zu einer erheblichen Verschlechterung seiner Leistungen geführt. Ordnungsmaßnahmen gegen den Antragsteller und wiederholte Aufforderungen der Schulleitung an die Eltern, bei dem Antragsteller auf eine Verhaltensänderung hinzuwirken, haben - auch während des Verwaltungsverfahrens - nicht zu dem angestrebten Erfolg geführt. Deshalb gibt es für Zweifel am sonderpädagogischen Förderbedarf des Antragstellers selbst dann keinen Anlass, wenn seine Behauptung, er habe sein Verhalten geändert, auf die aktuelle Situation zuträfe. Denn es deutet nichts darauf hin, dass die behauptete Verhaltensänderung Ausdruck einer - erfahrungsgemäß nicht spontan eintretenden - Charakterwandlung ist und mehr als eine temporäre Reaktion auf die angegriffene Verfügung darstellt.

20

Hinsichtlich des Sofortvollzuges der verfügten Überweisung fehlt es auch nicht an dem besonderen, über das öffentliche Interesse an der Überweisung selbst noch hinausgehenden Vollzugsinteresse. Würde der Antragsteller weiter im Schutze der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Überweisung die Regelschule besuchen, so könnte ihm die seinen Fähigkeiten angemessene Förderung nicht zukommen. Es bestünde die Gefahr, dass einerseits der Antragsteller ohne Schulabschluss bliebe und andererseits Mitschüler und Lehrer, aber auch die Allgemeinheit Nachteile erleiden würden, weil der Antragsteller den Unterricht stört, Mitschüler in ihrer schulischen Entwicklung behindert und Lehrkräfte in einem Maße beansprucht, das in einer Regelschule in Bezug auf einen einzelnen Schüler nicht angemessen und für den Unterricht insgesamt von Nachteil ist.

 


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