Beschluss vom Verwaltungsgericht Osnabrück (6. Kammer) - 6 B 83/10
Gründe
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Der Antrag ist zulässig und begründet.
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Gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung einer Klage anordnen. Diese Entscheidung erfolgt aufgrund einer Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung einerseits und dem Interesse des Rechtsschutzsuchenden an der vorläufigen Aussetzung des angefochtenen Verwaltungsakts andererseits. Dabei sind im Rahmen dieser Interessenabwägung insbesondere auch die bereits überschaubaren Erfolgsaussichten der Klage zu berücksichtigen. Bei offensichtlicher Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts überwiegt regelmäßig das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung, während bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts regelmäßig dem Aussetzungsinteresse des Rechtsschutzsuchenden Vorrang einzuräumen ist. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers, weil die angefochtene Wohnungsverweisung voraussichtlich als rechtswidrig zu beurteilen sein wird.
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Nach der Spezialermächtigung des § 17 Abs. 1 Satz 1 Nds. SOG können Ordnungsbehörde oder Polizei zur Abwehr einer Gefahr jede Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr das Betreten eines Ortes verbieten (sog. Platzverweisung). Betrifft eine solche Maßnahme eine Wohnung, so ist sie gegen den Willen der berechtigten Person nur zur Abwehr einer gegenwärtigen erheblichen Gefahr zulässig (sog. Wohnungsverweisung, vgl. § 17 Abs. 2 Satz 1 Nds. SOG). Die Polizei darf eine Wohnungsverweisung für die Dauer von höchstens 14 Tagen aussprechen, wenn dies erforderlich ist, um eine von der berechtigten Person ausgehende gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von in derselben Wohnung wohnenden Personen abzuwehren (§ 17 Abs. 2 Satz 2 Nds. SOG).
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Mit einer Wohnungsverweisung wird in das Grundrecht der „berechtigten“ Person auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG eingegriffen. Dieses Grundrecht steht in engem Zusammenhang mit dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und zielt auf einen Schutz der Wohnung und der Privatsphäre; der Schutzbereich umfasst die Privatheit der Wohnung als einen elementaren Lebensraum und damit die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet. In der Absicherung der Privatsphäre in räumlicher Hinsicht liegt der enge Zusammenhang des Art. 13 Abs. 1 GG mit der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG begründet. In Ansehung dieses grundrechtlich geschützten hohen Rechtsgutes wie auch des rechtsstaatlich begründeten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit hat der Landesgesetzgeber auf der Grundlage der Schrankenregelung des Art. 13 Abs. 7 GG polizeiliche Eingriffe nach § 17 Abs. 2 Nds. SOG auf den Schutz ebenfalls „berechtigter“ Personen beschränkt, die sich hinsichtlich der fraglichen Wohnung ebenfalls auf das Grundrecht des Art. 13 Abs. 1 GG berufen können, und zudem gesteigerte Anforderungen an das Vorliegen der Gefahr sowohl hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit der Gefahr und des drohenden Schadens als auch hinsichtlich der als Schutzgut in Betracht kommenden Rechtsgüter normiert. Von der Polizei ist zur Beachtung dieser Grundrechtsrelevanz bei einer Wohnungsverweisung in besonderer Weise die Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gefordert, weshalb insbesondere von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen ist, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt (§ 4 Abs. 1 Nds. SOG). So ist die Wohnungsverweisung insbesondere keine Sanktion für geschehenes Unrecht, sondern dient allein der Abwehr einer aufgrund der festzustellenden Gesamtumstände begründeten Gefahr, dass es in allernächster Zeit zu einer erneuten Verletzung der besonderen Schutzgüter kommt. Auch darf die Maßnahme nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht (§ 4 Abs. 2 Nds. SOG), wie auch eine Maßnahme nur solange zulässig ist, bis ihr Zweck erreicht ist (§ 4 Abs. 3 Nds. SOG). Dementsprechend hat der Gesetzgeber in Abwägung der betroffenen grundrechtlichen Belange eine ausdrücklich als Höchstdauer normierte Frist von 14 Tagen als äußerste Grenze für die Bemessung einer Wohnungsverweisung normiert. In diesem Rahmen hat die Polizei eine zur Gefahrvermeidung gebotene Wohnungsverweisung auf das in zeitlicher Hinsicht erforderliche Maß zu beschränken. Eine vom Einzelfall unabhängige, generelle Ausschöpfung der Höchstdauer ist damit nicht zu vereinbaren. Dies lässt sich auch nicht mit Blick auf das Verfahren nach dem Gewaltschutzgesetz begründen. Ein allgemeiner Erfahrungssatz, dass in einem solchen Verfahren eine gerichtliche Entscheidung regelmäßig nicht vor Ablauf dieser Höchstfrist zu erwarten ist, erscheint nicht begründbar. Dies lässt sich auch nicht durch Postulation einer Überlegungfrist des mutmaßlichen Gewaltopfers begründen, ob es seine Interessen durch einen dahingehenden Antrag verfolgen will. Dieser Obliegenheit wird vielmehr unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern, zu entsprechen sein. Hiervon muss die Polizei bereits bei der Bemessung ihrer Maßnahme ausgehen. Hierfür spricht auch die Verpflichtung der Polizei nach § 17 Abs. 2 Satz 4 Nds. SOG, die gefährdete Person unverzüglich über die Dauer der Maßnahme zu unterrichten. Dem mutmaßlichen Gewaltopfer soll damit erkennbar die Gelegenheit gegeben werden, die erforderlichen Dispositionen zur Wahrung der eigenen Belange zu treffen. Zu einem weiterreichenden Schutz seiner Rechtsgüter ermächtigt § 17 Abs. 2 Nds. SOG die auch im Allgemeinen nur für den ersten Zugriff zuständige Polizei (§ 1 Abs. 2 Nds. SOG) nicht. Zudem obliegt auch der von § 17 Abs. 2 Nds. SOG verfolgte Schutz gewichtiger Individualrechtsgüter der Polizei grundsätzlich nur soweit, wie gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu erlangen ist (§ 1 Abs. 3 Nds. SOG), weil jedermann verpflichtet ist, sich um seine Rechtsgüter selbst zu kümmern und zu diesem Zweck üblicherweise die Zivilgerichte in Anspruch zu nehmen.
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Für die Bestimmung der zu ergreifenden Maßnahme fordert das auch für die polizeiliche Sachverhaltserforschung geltende Amtsermittlungsgebot (vgl. § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG i.V.m. § 24 BVwVfG) eine erschöpfende Aufklärung der Gefahrenlage, regelmäßig des tatsächlichen Geschehens und der Verantwortungsanteile beteiligter Personen, die ihr nach Lage der Dinge objektiv möglich ist. Insoweit weisen jedoch auch Polizeibehörden zutreffend darauf hin, dass es bei häuslichen Konflikten für die hinzu gerufenen Polizeibeamten häufig sehr schwierig ist, den Sachverhalt in der Kürze der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit vollständig zu klären bzw. objektive Erkenntnisse zu erlangen, weil die betreffenden Personen regelmäßig abweichende Sachverhaltsdarstellungen, typischerweise mit wechselseitigen Schuldzuweisungen geben. Es bedarf daher regelmäßig einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls, die sich nach situationsangemessener Ausschöpfung des Amtsermittlungsgebots feststellen lassen oder gemäß ihrer Wahrscheinlichkeit in die Abwägung einzustellen sind. Dabei hat die Polizei insbesondere die Betroffenheit der grundrechtlichen Rechtspositionen der hinsichtlich der Wohnung „berechtigten“ Personen in den Blick zu nehmen. Einen über die Verantwortlichkeit des Handlungsstörers nach § 6 Abs. 1 Nds. SOG hinausgehenden allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass auch bei fehlender oder eingeschränkter Aufklärbarkeit des Sachverhalts stets der „Täter“ und nicht ein „Opfer“ auf die Wohnung verzichten muss, gibt es im Übrigen nicht; das lässt sich auch § 17 Abs. 2 Nds. SOG nicht entnehmen. Dies widerspräche auch der Begrenzung des Schutzes von Individualrechtsgütern nach § 1 Abs. 3 Nds. SOG und der Obliegenheit des Rechtsgutinhabers zu eigenverantwortlicher Sorge bis hin zur Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes.
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Im Fall des Antragstellers spricht bereits manches dafür, die von der Polizei im Rahmen ihres Einsatzes objektiv ermittelbare Sachlage dahin zu würdigen, dass eine - möglicherweise Obdachlosigkeit begründende - Wohnungsverweisung des Antragstellers durch die Polizei angesichts der anderweitigen Gefahrabwendungsmöglichkeiten nicht erforderlich gewesen ist, die der Lebensgefährtin offen standen. Dies kann letztlich dahinstehen, da jedenfalls die Ausschöpfung der zeitlichen Höchstdauer von 14 Tagen nicht erforderlich gewesen sein dürfte.
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Nach den Ermittlungen des Gerichts unter Einbeziehung der Erkenntnisse des Erörterungstermins ist davon auszugehen, dass zum Zeitpunkt des polizeilichen Einsatzes der bevorstehende Umzug der Lebensgefährtin in deren bereits angemietete und in Renovierung befindliche eigene Wohnung für den folgenden Samstag bzw. den darauffolgenden Montag unmittelbar bevorstand. Dies hatten die Polizeibeamten ausweislich der Verwaltungsvorgänge auch im Wesentlichen bereits in Erfahrung gebracht. Sowohl die Adresse der neuen Wohnung wie auch die Umzugsabsicht hatte die Lebensgefährtin angegeben. Dass der bereits feststehende Umzugstermin von den Polizeibeamten nicht durch gezielte Nachfrage in Erfahrung hätte gebracht werden können, ist nicht erkennbar. Nach Lage der Dinge sind entsprechende Bemühungen unterblieben, weil man diesem Umstand keine Beachtung beigemessen hat. Vielmehr hat die Polizei gerade mit Blick auf den Umzug die zeitliche Bemessung der Wohnungsverweisung mit deren Höchstdauer vorgenommen, ohne insoweit konkrete Feststellungen zu treffen. Auch sind keine Feststellungen dazu getroffen worden, ob der Lebensgefährtin, die unmittelbar zuvor bereits mehrere Nächte außerhalb der ehemals gemeinsamen Wohnung, nämlich in ihrer neuen Wohnung bzw. in der Wohnung ihrer Mutter zugebracht hatte, zur Wahrung ihrer Individualrechtsgüter übergangsweise auch vor dem geplanten Umzugstermin angesichts der verbleibenden wenigen Tage ein sofortiger Wechsel in ihre neue Wohnung zuzumuten war. Dass für die Lebensgefährtin bzw. deren Kleinkind von der neuen Wohnung eine Gefahr für Leben oder Gesundheit ausgegangen wäre, ist nicht erkennbar. Vielmehr ist aufgrund des unmittelbar bevorstehenden Umzugstermins von der zumindest weitgehenden Bezugsfertigkeit der Wohnung auszugehen. Etwaige Unannehmlichkeiten - wie eine eventuell nur unvollständige Möblierung - halten einen an Leben und körperlicher Unversehrtheit ernstlich bedrohten Menschen nicht davon ab, in Krisensituationen eigenen geschützten Wohnraum aufzusuchen. Dies dürfte von der Lebensgefährtin in besonderer Weise zu erwarten gewesen sein, da sie ihr eigenes Mietverhältnis bereits zum vorhergehenden Monatsende gekündigt hatte und ausschließlich auf der Grundlage einer mündlichen Absprache mit dem Antragsteller die Räumlichkeiten der zuvor gemeinsamen Mietwohnung über das Mietende hinaus weiter nutzte. Zwar hindert dies nicht die Annahme, die Lebensgefährtin habe auch in dieser Mietwohnung noch einen Lebensschwerpunkt und damit eine Wohnung im Sinn des Art. 13 Abs. 1 GG bzw. des § 17 Abs. 2 Satz 2 Nds. SOG gehabt, doch war deren Wohnungsnutzung entscheidend vom Einvernehmen des Antragstellers abhängig, der ihr nach rechtlicher Betrachtung diese Nutzung wenn vielleicht auch nicht zur Unzeit, im Übrigen aber wohl uneingeschränkt zu entziehen vermochte.
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Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Umzugstermins ist jedenfalls davon auszugehen, dass eine Wohnungsverweisung für die Höchstdauer von 14 Tagen zur Gefahrenabwehr nicht erforderlich war. Allenfalls wäre eine zeitlich auf den voraussichtlichen Umzug begrenzte Maßnahme in Betracht gekommen, bei deren Ausgestaltung auch berechtigte Interessen des Antragstellers als verbleibender Wohnungsinhaber hinsichtlich der Wegnahme von Einrichtungsgegenständen oder anderer in der Wohnung vorhandener Sachen hätten Berücksichtigung finden können. Dabei kann im vorliegenden Verfahren letztlich dahingestellt bleiben, ob die maßgebenden Umstände für die Polizeibeamten bereits erkennbar waren. Jedenfalls ließ sich diese Maßnahme nicht länger aufrecht erhalten, nachdem sich die Erkenntnislage bis zum Erörterungstermin infolge gerichtlicher Nachfragen jedenfalls nunmehr so darstellte. Entgegen der im Erörterungstermin vertretenen Auffassung der Antragsgegnerin lässt die Ermächtigungsgrundlage des § 17 Abs. 2 Nds. SOG es nicht zu, zunächst die Höchstdauer einer Wohnungsverweisung gewissermaßen „auf Vorrat“ auszuschöpfen, um damit etwaigen, nicht näher benennbaren Unwägbarkeiten hinsichtlich eines Gelingens des Umzugs Rechnung zu tragen, und den Eingriff erst nach Abschluss des Umzugs aufzuheben. Es ist auch nicht erkennbar, dass die Antragsgegnerin insoweit von sich aus irgendwelche Vorkehrungen zur Überwachung des Wegfalls der Voraussetzungen ihrer Dauerverfügung getroffen hätte. Deshalb ist die Kammer davon überzeugt, dass weder die Lebensgefährtin noch die Antragsgegnerin von sich aus eine frühere Beendigung der Wohnungsverweisung betrieben hätten, wenn der Antragsteller nicht um gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht hätte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 2 GKG. Für eine Herabsetzung des Auffangwerts bestand keine Veranlassung, da aufgrund der Kurzzeitigkeit der Wohnungsverweisung vor einer Entscheidung der Kammer im Klageverfahren die Erledigung der Hauptsache durch Fristablauf eintreten wird und deshalb effektiver Rechtsschutz allein im Eilverfahren zu erreichen ist (st. Rspr. d. Nds. OVG).
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