Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 157/20

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheides vom 27. Oktober 2020 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000, -- € festgesetzt.

Gründe

1

Das formulierte, auch auf Nachfrage des Gerichts nicht näher konkretisierte Begehren des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2020 ist inhaltlich dahingehend zu deuten, dass der Antragsteller in diesem vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheides erreichen möchte.

2

Nach §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO ist für das gerichtliche Verständnis eines Antrags das inhaltliche Klage- bzw. Antragsbegehren maßgeblich und nicht zwangsläufig allein der formulierte Antrag, auch wenn letzterer regelmäßig ein erhebliches Moment zur Bestimmung des Begehrens ist. Nach dem verfassungsrechtlichen Gebot der Effektivität des Rechtsschutzes als Auslegungshilfe ist im Zweifel zugunsten des Rechtsschutzsuchenden anzunehmen, dass er den in der Sache in Betracht kommenden Rechtsbehelf einlegen möchte, wobei Voraussetzung ist, dass dies dem erkennbaren Rechtsschutzziel entspricht und die entsprechende Auslegung vom Rechtsschutzsuchenden nicht bewusst ausgeschlossen wurde. Dem erkennbaren Rechtsschutzziel des Antragstellers entspricht es, vorliegend einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gegen die Abschiebungsandrohung anzunehmen.

3

Die in Ziffer 1 der angefochtenen Verfügung angesprochene Erteilung einer anderen Aufenthaltserlaubnis ist von dem Antragsteller bislang (ebenso wenig wie die Verlängerung der ursprünglich bis zum 9. Mai 2021 erteilten Aufenthaltserlaubnis) noch nicht ausdrücklich beantragt oder in dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes angesprochen worden; das Gericht geht davon aus, dass der Antragsteller deshalb gegenwärtig noch nicht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Ablehnung der Erteilung einer anderen Aufenthaltserlaubnis oder gar die Verlängerung der nachträglich befristeten Aufenthaltserlaubnis begehrt. Das Gericht geht auch davon aus, dass der Antragsteller (noch) nicht die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs hinsichtlich des in dem Bescheid in Ziffer 5 angeordneten, unter der Bedingung einer künftig durchgeführten Abschiebung stehenden Einreiseverbots und dessen Befristung begehrt. Eine Erstreckung des Aussetzungsantrags auf diesen Regelungsteil entspräche nicht dem gegenwärtig vorrangigen Rechtsschutzinteresse des Antragstellers, das darauf gerichtet ist, erst einmal überhaupt von einer Abschiebung verschont zu bleiben.

4

Das Gericht legt den Antrag auch nicht dahingehend aus, dass der Antragsteller eine Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis erstreben möchte. Denn der Antragsgegner hat hinsichtlich dieser Anordnung nicht die sofortige Vollziehung der nachträglichen Befristung der Aufenthaltserlaubnis angeordnet, sondern die Aufenthaltserlaubnis auf den Tag der Bestandskraft des angefochtenen Bescheides verkürzt, wobei diese Regelung mit Ablauf der Aufenthaltserlaubnis zum 9. Mai 2021 keine Wirksamkeit mehr entfalten könnte, wenn der Bescheid nicht bis dahin bestandskräftig geworden ist.

5

Diese Auslegung des Antragsbegehrens ist deshalb sachgerecht, weil § 84 AufenthG hinsichtlich der nachträglichen Befristung gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keinen gesetzlich geregelten Fall des Sofortvollzugs enthält, sodass der am Montag, den 30. November 2020, nach Zustellung des Bescheides am 29. Oktober 2020, noch rechtzeitig eingelegte und damit zulässige Widerspruch gegen die nachträgliche Befristung aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 VwGO entfaltet und eine Bestandskraft des Bescheides deshalb nicht eingetreten ist. Die Widerspruchsfrist ist gemäß § 57 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 220 ZPO, §§ 187 ff. BGB zu berechnen. Die Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO für die Einlegung des Widerspruchs hätte grundsätzlich bei einer Zustellung am 29. Oktober 2020 nach § 188 Abs. 2 BGB am 29. November 2020 geendet. Da das Ende der Frist jedoch auf einen Sonntag fiel, endete die Widerspruchsfrist nach § 222 Abs. 2 ZPO erst mit Ablauf des 30. November 2020.

6

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG würde zwar der Aufenthaltstitel bereits mit der Bekanntgabe der nachträglichen Befristung erlöschen, wenn die Befristung – wie es häufig geschieht – auf den Tag der Bekanntgabe des Bescheides abzielen würde. Denn nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG tritt diese Rechtsfolge mit der Wirksamkeit des belastenden Verwaltungsakts und somit unabhängig vom Suspensiveffekt ein, also auch dann, wenn der Widerspruch gegen die nachträgliche Befristung aufschiebende Wirkung auslöst oder diese durch das Verwaltungsgericht wiederhergestellt wird. Damit könnte auch ein Verlängerungsantrag nach der Bekanntgabe der Befristung keine Fiktionswirkung auslösen, weil – anders als von § 81 Abs. 4 AufenthG vorausgesetzt – im Zeitpunkt des Verlängerungsantrags kein Aufenthaltstitel mehr vorhanden wäre, der hätte verlängert werden können. Gleichwohl wäre die gemäß § 80 Abs. 1 VwGO eingetretene aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die nachträgliche Befristung nicht ohne Bedeutung. Zwar vermag der Suspensiveffekt nicht, die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 AufenthG auszulösen, doch ist während der Dauer des Suspensiveffekts der Antragsteller so zu behandeln, als sei der Aufenthaltstitel durch nachträgliche Befristung noch nicht erloschen. Der Suspensiveffekt hätte daher zur Folge, dass der Antragsteller nicht nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig wäre und abgeschoben werden könnte. Vielmehr wäre nach dieser Vorschrift die Ausreisepflicht nur vollziehbar, wenn die nachträgliche Befristung, durch die der Antragsteller ausreisepflichtig wird, ihrerseits vollziehbar wäre. Als Grundlage einer Abschiebung käme daher der Vollziehbarkeit der nachträglichen Befristung jedenfalls bis zum Ablauf der ursprünglichen Dauer der Aufenthaltserlaubnis entscheidende Bedeutung zu (vgl. dazu Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 16. März 2009 – 10 CS 08.2871 –, Rn. 11 - 12, juris).

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Vorliegend hat jedoch der Antragsgegner die erteilte Aufenthaltserlaubnis gerade nicht nachträglich auf den Tag der Bekanntgabe des Bescheides vom 27. Oktober 2020, sondern auf den Tag der Bestandskraft des Bescheides, verkürzt. Der erteilte Aufenthaltstitel ist deshalb noch gar nicht gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erloschen, sodass auch nach § 50 Abs. 1 AufenthG überhaupt noch keine Ausreisepflicht besteht, die gemäß § 58 Abs. 2 AufenthG vollziehbar sein könnte.

8

Bezüglich der Abschiebungsandrohung (Ziff. 3 der Verfügung vom 27. Oktober 2020) ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO statthaft, da der Widerspruch hiergegen nach § 248 Abs. 1 S. 2 LVwG als Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat.

9

Der Antrag erweist sich hinsichtlich der erlassenen Abschiebungsandrohung auch als begründet.

10

Die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ergeht regelmäßig auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse des Antragstellers einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs (wieder-)herzustellen, weil an einer sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist (vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 06.08.1991 – 4 M 109/91 –, juris Rn. 5).

11

Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt hier das private Interesse des Antragstellers an einem einstweiligen Aufschub der Vollziehung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsandrohung. Die Abschiebungsandrohung erweist sich nämlich als offensichtlich rechtswidrig.

12

Die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung nach §§ 50, 58, 59, AufenthG sind gegenwärtig nicht erfüllt. Der Antragsteller ist nämlich noch nicht kraft Gesetzes zur Ausreise verpflichtet (§ 50 Abs. 1 AufenthG), weil die nachträgliche Befristung der Aufenthaltserlaubnis wegen der Befristung auf den Tag der noch nicht erreichten Bestandskraft des Bescheides noch keine Wirksamkeit entfaltet und die erteilte Aufenthaltserlaubnis bis zum 9. Mai 2021 gilt. Die Ausreisepflicht ist jedoch eine wesentliche Voraussetzung für den Erlass und die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung (OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. November 2019 – 13 ME 331/19 –, juris). Aufgrund der erteilten und noch wirksamen Aufenthaltserlaubnis verfügt der Antragsteller derzeit über einen Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 AufenthG, der ihm einen rechtmäßigen Aufenthalt vermittelt.

13

Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung würde allerdings nicht voraussetzen, dass die Ausreisepflicht bereits vollziehbar wäre. Dafür, dass die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur für die Vollstreckungsmaßnahme der Abschiebung und nicht bereits für die Abschiebungsandrohung vorliegen muss, spricht der Vergleich des Wortlauts des § 59 Abs. 1 AufenthG mit demjenigen des die Abschiebung regelnden § 58 Abs. 1 AufenthG. Weil die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nur in § 58 Abs. 1 AufenthG gefordert wird, liegt es nahe, dass es ihrer für die Abschiebungsandrohung nicht bedarf. Gesetzessystematische Überlegungen führen zu demselben Ergebnis. § 58 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sieht nämlich eine Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht in den dort aufgeführten drei Fallkonstellationen alternativ erst vor, wenn eine Ausreisefrist abgelaufen ist. Davon ausgehend ergäbe es keinen Sinn, für den Erlass der Abschiebungsandrohung an der Forderung festzuhalten, die Ausreisepflicht müsse vollziehbar sein, wenn dann Rechtsfolge des Erlasses einer Androhung mit Fristsetzung unter Umständen zunächst der vorübergehende Wegfall der Vollziehbarkeit wäre (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Februar 2009 – 18 A 2620/08 –, Rn. 33, juris).

14

Es bleibt der zuständigen Ausländerbehörde, dies ist künftig nach dem Umzug des Antragstellers die Stadt Kassel, unbenommen, den Bescheid auch hinsichtlich der nachträgliche Befristung zu ändern.

15

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 2, 52 Abs. 2, 63 Abs. 2 GKG.


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