Urteil vom Verwaltungsgericht Schwerin (6. Kammer) - 6 A 719/12
Tenor
Es wird festgestellt, dass die am 24. April 2012 angeordnete Inobhutnahme des Kindes F. A., geboren am ... Dezember 2007, durch das Jugendamt Rostock für die Zeit von der Anordnung bis zum Wirksamwerden des familiengerichtlichen Beschlusses des Amtsgerichts Rostock 10 F 124/11 vom 26. April 2012 rechtswidrig war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten jeweils die Hälfte.
Wegen der Kosten ist das Urteil vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
- 1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme eines damals vierjährigen Kindes, die von dem Amt für Jugend und Soziales (AJS) der Beklagten durchgeführt wurde.
- 2
Die Klägerin ist die Mutter des betroffenen Jungen und war mit dem Kindesvater gemeinsam sorgeberechtigt. Seit mindestens Januar 2009 stritten die Kindeseltern über das Umgangsrechts des Kindesvaters. Umgang erhielt dieser trotz gerichtlicher Regelung im Wesentlichen nicht.
- 3
Die „Rostocker Stadtmission“ des Diakonievereins Rostock war mit Erziehungsberatungsmaßnahmen betraut und sollte auch eine Umgangsbegleitung durchführen. Der mit dem Fall befasste Mitarbeiter M. des Diakonievereins kritisierte u. a., dass die Klägerin sich fortgesetzt weigere, eine für die Umgangsbegleitung vorausgesetzte „Mitwirkungsvereinbarung“ zu unterzeichnen. Auskünfte über das betroffene Kind, die mit Einverständnis der Klägerin von den Kindertagesstätten und von der Kinderärztin eingeholt worden waren, ergaben, dass das Kind offenbar psychischer Belastung wegen der streitigen Umgangsfrage ausgesetzt, im Übrigen aber altersgemäß entwickelt sei. Zu der Mutter, zu deren neuem Lebensgefährten - den es „Papa“ nenne - und zu den Großeltern mütterlicherseits habe das Kind ein gutes und liebevolles Verhältnis.
- 4
Im Dezember 2011 beantragte der Kindesvater bei dem Familiengericht, im Wege der einstweiligen Anordnung eine Umgangspflegschaft einzurichten. Nach einem der darauf folgenden Beratungstermine wurde erstmals die Gefahr eines Suizids der Klägerin formuliert. In einer Telefonnotiz der bei dem AJS zuständigen Sachbearbeiterin heißt es u. a.: Die Klägerin habe die Mitwirkungsvereinbarung noch immer nicht unterschrieben, sie sei „hochgradig psychisch belastet“, es sei „aufgrund der psychischen Belastung der KM nicht abzuschätzen“, wie sie unter dem „enormen Druck“ durch einen gegebenenfalls eingesetzten Umgangspfleger reagiere und: „als mögliche Konsequenz könnte ein Suizid bzw. erweiterter Suizid nicht auszuschließen sein, laut Hr. M.“
- 5
In einem Schreiben aus dem Februar 2012 an das AJS fasste Herr M. dieses Beratungsgespräch wie folgt zusammen: „Aus ihrer [der Klägerin] Sicht könne sie gegenüber sich selbst und ihrem Kind nicht verantworten, einen Umgang mit dem Vater jemals zuzulassen. Sie sei bereit, alle möglichen Konsequenzen zu tragen, auch wenn damit F. immer wieder neu belastet werde. Sie werde alles in ihrer Macht stehende unternehmen, um ihren Sohn vor dem Kindesvater zu schützen.“ Von einer Suizidgefahr ist nicht die Rede.
- 6
Zugleich übersandte wiederum Herr M. an das AJS die Meldung einer Kindeswohlgefährdung, die sich auf eine „Instrumentalisierung des Kindes in Elternkonflikten“ und „Vereitelung der Umgangskontakte“ stützte sowie auch die Suizidpotenzialthese wieder aufgriff. Es wurden Gefährdungsmomente aufgeführt, nicht jedoch, wer diese Momente auf Grund welcher Wahrnehmungen benannt habe. Auf diese Meldung wurde sogleich ein Verfahren oder Vorprüfungsverfahren für ein Verfahren nach § 8a SGB VIII bei dem AJS eingeleitet. Darin wurden die Umstände, die für eine Umgangsvereitelung durch die Klägerin sprächen, gesammelt, wobei auch die vorgenannte Formulierung zum Suizidpotenzial übernommen wurde.
- 7
Eine weitere familiengerichtliche Anhörung im Verfahren 10 F 262/11 wurde auf den 24. April 2012 anberaumt. Hierin wollte sich das AJS für eine Aussetzung des Umgangs aussprechen. Für den Fall, dass dieser dennoch durchgesetzt werden sollte, fasste es bereits einen bedingten Inobhutnahmeplan und bat die Polizei vorsorglich um Unterstützung. Mit der Klägerin sprach von dem AJS oder der Beratungsstelle bis dahin niemand mehr.
- 8
Ausweislich des Protokolls des Familiengerichts gab es in dieser Anhörung ausführliche Erörterungen darüber, wie das Umgangsrecht des Kindesvaters verwirklicht werden könne. Das Gericht wies auf das bestehende Recht des Kindesvaters auf Umgang hin, das AJS und weitere Beteiligte auf die starke Verweigerung dessen durch die Klägerin und auf damit einher gehende Beeinträchtigungen des Kindeswohls. Das AJS teilte mit, dass mit „der Bestellung der Umgangspflegschaft die Inobhutnahme des Kindes noch heute erfolgen“ werde. Nachdem eine Aussetzung der Umgangsregelung offenbar nicht in Betracht kam, teilte das AJS den Kindeseltern mit, dass es die Inobhutnahme des Kindes soeben veranlasst habe. Die Klägerin wendete sich dagegen. Das AJS teilte dem Familiengericht in der Anhörung mit, „dass ein Antrag nach § 1666 BGB gestellt werden wird“. Das Gericht stellte den Kindeseltern „den Beschluss zur Umgangspflegschaft in Aussicht“.
- 9
Die tatsächlich durchgeführte Inobhutnahme verlief insofern dramatisch, als das Kind zunächst von seinen Großeltern, dem Lebensgefährten der Klägerin und einem benachbarten Rechtsanwalt - dem nunmehrigen Prozessbevollmächtigen der Klägerin - zurückgehalten wurde und erst nach Einflussnahme durch die AJS-Mitarbeiter und zwei Polizeibeamte, jedoch ohne unmittelbaren Zwang, herausgegeben wurde. Das Kind wurde in ein Kinderheim verbracht.
- 10
Mit Beschluss vom 25. April 2012 – 10 F 262/11 – ordnete das Familiengericht einstweilen eine Umgangspflegschaft an. Zur Begründung führte es u. a. aus: „Die Begleitung der Umgangspflegschaft durch die Inobhutnahme des Kindes am 24.04.2012 ist immer noch geeigneter als ein vollständiger Entzug der elterlichen Sorge gegenüber der Kindesmutter und die Verbringung des Kindes zum mitsorgeberechtigten Kindesvater. Die durch die Inobhutnahme eintretenden Irritationen für das Kind und die Eltern sind eher vertretbar als eine weitere Aussetzung des Umgangs und damit Entfremdung des Kindes vom Kindesvater.“
- 11
Mit Beschluss vom 26. April 2012 – 10 F 124/11 – entzog das Familiengericht auf Antrag des AJS vom 25. April 2012 der Klägerin vorläufig gemäß § 1666 BGB das Aufenthaltsbestimmungsrecht.
- 12
Die Klägerin begehrte im Verfahren 6 B 216/12 bei dem Verwaltungsgericht Schwerin zunächst die einstweilige Herausgabe des Kindes. Diesen Antrag nahm sie nach der Entziehung des Aufenthaltsbestimmungsrechts zurück.
- 13
Während der Inobhutnahme litt die Kindesmutter stark unter der Fremdunterbringung ihres Kindes. Sie verlangte es am 26. April 2012 erneut heraus. Im Folgenden nahm sie die ihr zur Verfügung stehenden Besuchzeiten in dem Kinderheim wahr. Der Prozessbevollmächtigte, die Großeltern und die Kindertagesstätte des Kindes setzten sich nachdrücklich für die Beendigung der Inobhutnahme ein.
- 14
Am 10. Mai 2012 wurde das Kind der Klägerin durch das AJS zurückgegeben, nachdem sich die Klägerin und das AJS auf einen Schutzplan für das Kind geeinigt hatten. Das Familiengericht stellte – unter Äußerung von Bedenken – einem entsprechenden Antrag des AJS folgend fest, dass die einstweilige Anordnung außer Kraft getreten sei.
- 15
Mit dem Eilantrag 6 B 216/12 hat die Klägerin auch im hiesigen Verfahren am 27. April 2012 Klage erhoben. Sie ist der Ansicht, eine Inobhutnahme dürfe gemäß § 1666 BGB nur nach richterlichem Beschluss erfolgen. Darüber hinaus könne ein Zusammenwirken von Gericht und Jugendamt nicht zur Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme führen. Die familiengerichtliche Entscheidung zum Aufenthaltsbestimmungsrecht sei unter Anwendung falscher Maßstäbe, insbesondere ohne Berücksichtigung der Grundrechte von Klägerin und Kind ergangen und daher grob unrichtig. Eine Wiederholung drohe angesichts des noch immer bestehenden Umgangsstreits.
- 16
Die Klägerin beantragt
- 17
festzustellen, dass die am 24. April 2012 angeordnete Inobhutnahme des Kindes F. A., geb. am ... Dezember 2007, durch das Jugendamt Rostock für die Zeit von der Anordnung bis zur Herausgabe des Kindes an die Mutter rechtswidrig war.
- 18
Der Beklagte beantragt
- 19
Klagabweisung
- 20
und trägt im Wesentlichen noch einmal den sich zuspitzenden Streit der Kindeseltern um das Umgangsrecht sowie die aus ihrer Sicht bestehenden Gefährdungsmomente vor. Letztere bestünden v. a. darin, dass die Klägerin in der entscheidenden familiengerichtlichen Anhörung „völlig die Kontrolle“ verloren und „unter deutlicher Anspannung“ reagiert habe; sie habe „stark auffällig ausschließlich eigene Befindlichkeiten“ signalisiert, weshalb „Affekthandlungen der Klägerin nicht auszuschließen“ gewesen seien. Das Familiengericht sei mit der Ankündigung, dass ein Antrag nach § 1666 BGB gestellt werden müsse, ausreichend einbezogen worden.
- 21
Auf die Gerichtsakten und die dem Gericht vorliegenden Verwaltungsvorgänge wird wegen der Einzelheiten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
- 22
Die Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg. Insoweit ist sie zulässig und begründet, im Übrigen ist sie bereits unzulässig.
I.
- 23
Die Klage ist zulässig, soweit die begehrte Feststellung sich auf den Zeitraum bis zur Bekanntgabe des familiengerichtlichen Beschlusses vom 26. April 2012 bezieht. Im Übrigen ist sie unzulässig, weil der Klägerin bezogen auf den weiteren Zeitraum der Inobhutnahme die Klagebefugnis fehlt.
- 24
1. Die Klage ist – jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung – als Fortsetzungsfeststellungsklage gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) statthaft. Nach dieser Vorschrift kann die Feststellung begehrt werden, dass ein Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen sei, wenn dieser sich vorher erledigt hat. Diese Voraussetzungen liegen vor.
- 25
In der Entscheidung des AJS in der familiengerichtlichen Anhörung vom 24. April 2012, die Inobhutnahme zu veranlassen, lag ein Verwaltungsakt gemäß § 31 Satz 1 des Zehnten Buchs des Sozialgerichtsgesetzes (SGB X), nämlich die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtete Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Diese auf § 42 SGB VIII gestützte Entscheidung ist von dem Vollzugsakt der tatsächlichen Inobhutnahme des betroffenen Kindes zu unterscheiden. Der betreffende Verwaltungsakt kann – wie im vorliegenden Fall geschehen – auch mündlich bekannt gegeben werden (§ 33 Abs. 2 Satz 1 SGB X).
- 26
Dieser Verwaltungsakt hat sich spätestens mit der Übergabe des Kindes an die Klägerin am 10. Mai 2012 erledigt. Damit endete gemäß § 42 Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII die Inobhutnahme. Eine Aufhebung der Anordnung der Inobhutnahme kam danach nicht mehr in Betracht. Ob Erledigung bereits mit Wirksamwerden der familiengerichtlichen Entscheidung vom 26. April 2012 eingetreten ist, bedarf keiner Entscheidung, weil die Klage ab diesem Zeitpunkt ohnehin unzulässig ist.
- 27
2. Auch die übrigen Sachentscheidungsvoraussetzungen lagen zunächst sämtlich vor.
- 28
Die Klägerin war klagebefugt gemäß § 42 Abs. 2 VwGO. Nach dieser Vorschrift, die nach allgemeiner Auffassung auch im Fall der Fortsetzungsfeststellungsklage Anwendung findet (Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl., § 42 Rn. 62, § 113 Rn. 125 m. w. Nachw.), setzt die Zulässigkeit der Klage voraus, dass der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Dies ist gegeben, wenn die Möglichkeit der von dem Kläger behaupteten Rechtsverletzung besteht. Mit der Anordnung der Inobhutnahme ging eine solche mögliche Rechtsverletzung einher, nämlich eine solche des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Klägerin aus § 1626 Abs. 1 und § 1631 Abs. 1 BGB. Denn mit der Inobhutnahme ist dieses Recht gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII durch die Befugnis des Jugendamtes überlagert, über den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen.
- 29
Die Klägerin kann auch mit Erfolg das gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO notwendige Feststellungsinteresse geltend machen. Ein solches Interesse liegt u. a. in einer durch die Feststellung begehrten Rehabilitierung nach tiefgreifendem Grundrechtseingriff. Mit dem tatsächlichen Verlust des Aufenthaltsbestimmungsrechts der Klägerin durch die Inobhutnahme war ein Eingriff in das Elterngrundrecht aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) erfolgt. Allein darin kann das berechtigte Rehabilitierungsinteresse gesehen werden (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 28. Dezember 2011 – 2 K 2503/11 – Rn. 54, juris).
- 30
3. Die Klage ist jedoch unzulässig, soweit sie sich auf den Zeitraum nach Bekanntgabe des familiengerichtlichen Beschlusses des Amtsgerichts Rostock vom 26. April 2012 – 10 F 124/11 – bezieht, weil die Klägerin ab diesem Zeitpunkt nicht mehr klagebefugt war.
- 31
Die angeordnete Inobhutnahme konnte nicht mehr in das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Klägerin eingreifen, nachdem ihr dieses Recht durch die Entscheidung des Familiengerichts entzogen und diese Entscheidung wirksam geworden war (§ 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen – FamFG).
- 32
Schon der Verlust des Aufenthaltsbestimmungsrechts führt zum Verlust der Klagebefugnis gegen die angeordnete Inobhutnahme. Die Inobhutnahme betraf keine darüber hinaus gehenden Rechte der Klägerin. Soweit das Jugendamt über die Bestimmung des Aufenthalts hinaus auch zur Sicherung des Wohls des Kindes und zu allen notwendigen Rechtshandlungen befugt ist (§ 42 Abs. 2 Satz 3 und 4 SGB VIII), betrifft dies nur solche Fragen, die notwendig mit der Unterbringung durch das Jugendamt verbunden sind. Einschränkungen der Ausübung der elterlichen Sorge sind mit dem rechtmäßigen gewöhnlichen oder tatsächlichen Aufenthalt des Kindes an einem anderen Ort stets verbunden (§ 1687 Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 BGB). Das Gleiche gilt für tatsächliche Einschränkungen des der Klägerin gemäß § 1684 Abs. 1 Halbs. 2 BGB zukommenden Umgangsrechts. Die Kammer verkennt nicht, dass die Klägerin auch nach dem Verlust des Aufenthaltsbestimmungsrechts stark unter der Trennung von ihrem Kind gelitten hat. Rechtlich betroffen war sie damit jedoch nicht mehr, sondern stand dem so gegenüber wie jeder Elternteil, bei dem sich das Kind rechtmäßig nicht aufhält.
- 33
Soweit die Klägerin meint, dadurch keinen ausreichenden Rechtsschutz erhalten zu können (Art. 19 Abs. 4 GG), ist darauf hinzuweisen, dass das Gesetz gegen die familiengerichtliche Entscheidung die Beschwerde zum Oberlandesgericht gemäß § 57 Satz 2 Nr. 1, § 58 Abs. 1 FamFG, § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG), möglicherweise nach Antrag auf (weitere) mündliche Verhandlung gemäß § 54 Abs. 2 FamFG (so die in der Sache erfolgte Rechtsmittelbelehrung des familiengerichtlichen Beschlusses; a. A. für den hier gegebenen Fall der Erörterung in einem Parallelverfahren: OLG Zweibrücken, Beschl. v. 2. März 2011 – 6 WF 222/10 – Leits. und Rn. 2, juris) vorsieht und außerdem den Antrag gemäß § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 FamFG auf Aussetzung der Vollstreckung und die Einleitung des Hauptsacheverfahrens gemäß § 52 FamFG einschließlich Rechtsmittelverfahren.
II.
- 34
Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet. Die durch das Jugendamt am 24. April 2012 angeordnete Inobhutnahme war rechtswidrig (§ 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO).
- 35
Das Jugendamt ist gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII – der alleine in Betracht kommenden Variante – berechtigt und verpflichtet, ein Kind in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes dies erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Beide Voraussetzungen lagen nicht vor.
- 36
1. Eine familiengerichtliche Entscheidung war nicht uneinholbar. Die Kompetenz des Jugendamtes nach § 42 SGB VIII ist nach der gesetzlichen Konzeption in Abs. 3 der Vorschrift, die entweder unverzügliche familiengerichtliche Entscheidung (Satz 2 bis 4) oder unverzügliches Verfahren zur Gewährung von Hilfen (Satz 5, §§ 36 ff. SGB VIII) verlangt, eine enge „Notkompetenz“ (Trenczeck, in: Münder u. a., Frankf. Komm. SGB VIII, 7. Aufl., § 42 Rn. 35 m. w. Nachw.) bzw. „Befugnis … in Eil- und Notfällen“ (Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 42 Rn. 1). Wenn möglich, soll gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1 und § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII das in erster Linie zum Eingriff in die elterliche Sorge berufene Familiengericht tätig werden. Nur wenn dies ausgeschlossen ist und seine Entscheidung wegen der Dringlichkeit der Gefahr nicht abgewartet werden kann (§ 8a Abs. 2 Satz 2 SGB VIII), darf das Jugendamt entscheiden und tätig werden. Ein solcher Fall lag hier nicht vor.
- 37
a) Das Familiengericht war zur Zeit der (endgültigen) Entscheidung des AJS über die Inobhutnahme gerade mit dem Fall befasst und hätte ohne Weiteres die Voraussetzungen für eine Abwendung der durch das AJS angenommenen Gefahr ohne Inobhutnahme schaffen können. Einen entsprechenden Antrag hat das AJS jedoch nicht gestellt. Die Ankündigung, er werde gestellt werden, konnte den Versuch nicht ersetzen, das Familiengericht vor Ausübung der eigenen Kompetenz mit der Frage der Abwendung einer Kindeswohlgefährdung zu befassen.
- 38
b) Eine Entscheidung ist auch nicht deshalb uneinholbar gewesen, weil das Familiengericht auch von Amts wegen hätte tätig werden können und es dies in der Anhörung vom 24. April 2012 nicht getan hat. Denn dies heißt nicht, dass das Gericht sich auf Antrag oder auch nur auf ausdrückliche Anregung (§ 24 FamFG) nicht dazu hätte verhalten können und müssen, ob und inwiefern es Maßnahmen zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung für geboten erachtet und hierfür die Voraussetzungen schafft.
- 39
Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die von dem AJS angenommene Gefahr für das Kindeswohl gerade durch die familiengerichtliche Entscheidung zum Umgangsrecht bedingt war. Auch wenn dieser – offen zu Tage getretene – Umstand eine Entscheidung des Familiengerichts auch im Hinblick auf weitere Maßnahmen zum Wohl des Kindes nahe gelegt hat, heißt dies nicht, dass der Versuch, eine Entscheidung herbeizuführen, entbehrlich war. Denn entweder hätte das Familiengericht seinen Beschluss zur Umgangspflegschaft selbst durch geeignete Sorgerechtseingriffe begleiten oder – unter Zurückweisung der Gefahrenprognose des AJS – davon absehen können. Jedenfalls hätte aber eine gerichtliche Entscheidung eingeholt werden können.
- 40
c) Auch der Hinweis des Familiengerichts auf die Inobhutnahme in seinem Beschluss vom 25. April 2012 kann diese Entscheidung nicht ersetzen. Denn zum einen ist eine damit wohl verbundene inhaltliche Zustimmung keine „Entscheidung“ und zum anderen kommt es auf eine Zustimmung in der Sache insoweit nicht an, weil es bei der gemäß § 8a Abs. 2 Satz 1, § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII einzuholenden Entscheidung des Familiengerichts ebenso wenig wie bei der gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII nachträglich einzuholenden Entscheidung um die Kontrolle einer jugendamtlichen Entscheidung oder Maßnahme geht, sondern um die eigenständige Regelung einer Gefahrensituation durch die Schaffung der personensorgerechtlichen Voraussetzungen für die Abwendung der Gefahr.
- 41
2. Es lag keine dringende Gefahr im Sinne von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII vor.
- 42
Eine dringende Gefahr im Sinne von § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII bedeutet eine Sachlage, die bei ungehindertem Ablauf des Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit das Wohl des Kindes gefährden wird, wobei der Schadenseintritt nicht unmittelbar bevorstehen muss und an die Gefahr des Eintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der Schaden ist (Trenczeck, a. a. O. Rn. 12 m. w. Nachw.). Dabei kann jedoch ein denkbar großer Schaden wie der hier befürchtete Tod von Mutter und Kind nicht dazu führen, dass die Anforderungen für die Beurteilung der Eintrittsgefahr so abgesenkt werden, dass sie praktisch entfallen. Die Annahme einer Gefährdung des Kindes setzt vielmehr voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten ist oder sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (s. nur BVerfG, Beschl. v. 19. November 2014 – 1 BvR 1178/14 –, Rn. 23 m. vielen w. Nachw. aus der jüngeren Rspr., juris). Jedenfalls müssen danach die Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung konkret und objektiv erkennbar sein. Gemessen daran lag hier eine dringende Gefahr nicht vor.
- 43
a) Das Leben des Kindes war nicht gefährdet. Eine hinreichende Tatsachengrundlage für die Annahme eines bevorstehenden (erweiterten) Suizids war nicht gegeben. Sie ergab sich insbesondere nicht aus einer psychologischen Begutachtung der Klägerin auf der Grundlage mit ihr geführter, anerkannten Standards entsprechender Gespräche.
- 44
Die Klägerin hatte im Übrigen Selbstmordabsichten oder gar Tötungsabsichten betreffend ihr Kind im Sinne eines sog. erweiterten Suizids nie auch nur angedeutet. Im Gegenteil weisen alle dokumentieren Verhaltensweisen der Klägerin auf ihr Bedürfnis nach größtmöglichem Schutz ihres Kindes hin. Dies konnte im Hinblick auf das Umgangsrecht des Kindesvaters möglicherweise als übermäßiges Bedürfnis verstanden werden. Hinreichende Anhaltspunkte für eine drohende körperliche Beeinträchtigung des Kindes gab es jedoch nicht.
- 45
Aus der Aussage der Klägerin, sie werde „alles in ihrer Macht stehende“ unternehmen, damit das Kind nicht zu seinem Vater müsse, konnte nichts anderes gefolgert werden. Denn nachdem sie jahrelang gerichtlich und im Kinder- und Jugendhilfeverfahren gegen das Umgangsrecht des Kindesvaters gearbeitet hatte, wies nichts darauf hin, dass sie nunmehr neben dieser rechtlich-tatsächlichen Verhinderung des Kontakts auch körperlich auf das Kind einwirken wolle und es gar verletzen oder töten könnte. Dies gilt insbesondere auch deshalb, weil die Klägerin den Kontakt zu dem Kindesvater stets wegen dessen angeblicher Gefährlichkeit abgelehnt hat. Für diese Gefährlichkeit hat sie auch konkrete Anhaltspunkte genannt. Dass sie außerdem dem Kindesvater den Kontakt zu dem Kind dermaßen missgönnt hätte, dass sie ihn auch auf Kosten des Lebens des Kindes zu verhindern gesucht hätte, lag eher fern.
- 46
Nichts anderes gilt vor dem Hintergrund der Annahme eines möglichen „Impulsdurchbruchs“ der Klägerin oder von deren „Affektinstabilität“. Denn auch wenn durch die bevorstehende Umgangspflegschaft eine ganz erhebliche zusätzliche Belastung für die Klägerin zu erwarten war, so sprach nach allem nichts dafür, dass entgegen dem Vorstehenden sich ihre Stellung zu dem Kind grundsätzlich ändern würde. Dass die Realisierung der aufgeworfenen Befürchtung „nicht auszuschließen“ sei, kann demgegenüber nicht genügen.
- 47
Der hier – seit Längerem – als mögliche Gefahr benannte Suizid konnte zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber auch nicht positiv als bevorstehend angenommen werden. Soweit die Vertreterin des AJS in der familiengerichtlichen Anhörung vom 24. April 2012 aus dem Verhalten der Klägerin zu der Einschätzung gelangt sein sollte, dass sich die Befürchtung eines Impulsdurchbruchs nunmehr in dieser Weise realisiere, so beruhte schon die Grundannahme nicht auf einer tragfähigen Grundlage.
- 48
b) Das Kind war auch nicht im Sinne einer dringenden Gefahr durch eine Zerrissenheit zwischen den Interessen der Klägerin und des Kindesvaters gefährdet. Zwar lagen psychische Beeinträchtigungen auf der Hand. Auch war der Umgang mit dem Kindesvater nachhaltig gehindert, obwohl dieser normativ zum Kindeswohl gehört (§ 1684 Abs. 1 Halbs. 1 BGB). Diese Gefährdungsaspekte lagen jedoch bereits seit Jahren vor. Ihrer Begegnung diente gerade der (im Zeitpunkt der Gefahrenprognose bevorstehende) Beschluss zur Umgangspflegschaft. Selbst bei dessen ausbleibender Umsetzung – was in der Tat möglich erscheinen musste – war eine nach dem eingangs genannten Maßstab erhebliche Schädigung des Kindes nicht mit ziemlicher Sicherheit zu befürchten. Denn gegebenenfalls anzuordnende Ordnungsmittel gemäß § 88 Abs. 1 FamFG hätten das Potenzial gehabt, die Stellung des Kindesvaters zu bessern.
III.
- 49
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach waren die Kosten hälftig zu teilen, weil dies dem Anteil des Obsiegens der Klägerin entspricht. Auf die Dauer des Zeitraums, auf den das Obsiegen entfällt, kam es dabei weniger an als auf die Unterscheidung der beiden Phasen vor und nach der familiengerichtlichen Entscheidung überhaupt. Hiervon führte die Beurteilung der einen zum Erfolg der Klage, die der anderen nicht. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO und § 708 Nr. 11 und § 711 der Zivilprozessordnung in Verbindung mit § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
This content does not contain any references.