Urteil vom Verwaltungsgericht Stuttgart - 5 K 5146/04

Tenor

Der Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart - Bezirksstelle für Asyl - vom 19.11.2004 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

 
Der am 25.10.1980 in Deutschland geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Das Landratsamt ... erteilte ihm am 10.06.1997 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Die Mutter des Klägers reiste am 06.06.1973 nach Deutschland ein; sie ist seit 04.02.1991 im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung. Im Geburtenbuch es Standesamtes ... ist unter dem 30.10.1980 als berufliche Tätigkeit der Mutter des Klägers „Hilfsarbeiterin“ verzeichnet.
Das Landgericht ... verurteilte den Kläger mit Urteil vom 17.09.2004 (Az.: 2 KLs 16 Js 8755/04) wegen Vergewaltigung, vorsätzlicher Körperverletzung und versuchter Nötigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten; ferner ordnete das Landgericht die Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Das Urteil ist seit 25.09.2004 rechtskräftig. Zu den Lebensverhältnissen des Klägers ist im Urteil des Landgerichts ausgeführt, dass die Ehe seiner Eltern 1982 oder 1983 geschieden worden sei, worauf der Vater des Klägers in die Türkei abgeschoben worden sei und dort in der Folgezeit eine neue Familie gegründet habe. Die Mutter des Klägers habe etwa im Jahre 1996 eine zweite Ehe mit einem türkischen Staatsangehörigen geschlossen; diese Ehe sei 1999 geschieden worden. Der Kläger habe bis zu seiner Verhaftung Ende März 2004 im Haushalt seiner Mutter in ... gelebt. Im Hinblick auf dieses Urteil stellte das Amtsgericht ... mit Beschluss vom 12.11.2004 (Az.: 3 Cs 61 Js 7751/04) das von der Staatsanwaltschaft ... (Az.: 61 Js 7751/04) gegen den Kläger geführte Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig ein.
Aufgrund des Urteils des Landgerichts ... vom 17.09.2004 wies das Regierungspräsidium ... den Kläger mit Bescheid vom 19.11.2004 unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus und drohte ihm ohne Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise die Abschiebung in die Türkei an. Das Regierungspräsidium wies den Kläger in dem Bescheid darauf hin, dass seine Abschiebung im Zeitpunkt der Haftentlassung oder der Entlassung aus dem Maßregelvollzug erfolge. Die zuständige Staatsanwaltschaft ... sei von der Ausweisung unterrichtet worden, damit diese eine Entscheidung nach § 456 a StPO treffen könne. Diese Entscheidung werde dem Kläger bekannt gegeben werden, so dass er den frühest möglichen Zeitpunkt einer Abschiebung erfahren werde. In der Rechtsmittelbelehrung des Bescheides vom 19.11.2004 wurde auf die Möglichkeit einer beim Verwaltungsgericht Stuttgart zu erhebenden Klage hingewiesen. Der Bescheid wurde dem Kläger am 29.11.2004 zugestellt. Seit 25.11.2004 befindet sich der Kläger in stationär-forensischer Behandlung im Zentrum für Psychiatrie ....
Am 23.12.2004 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums ... vom 19.11.2004 Klage erhoben. Zur Begründung macht der Kläger geltend, die Frage der Gefahr der Wiederholung von Straftaten sei vom Beklagten nicht umfassend bewertet, das Ausweisungsermessen fehlerhaft ausgeübt, Abschiebungshindernisse nicht beachtet sowie die Abschiebungsandrohung fehlerhaft verfügt worden. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Begründung der Klage in den Schriftsätzen des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 23.12.2004, 16.02.2005 und 26.01.2006 verwiesen.
Am 17.02.2005 hat der Kläger einen Aussetzungsantrag im Hinblick auf die sofortige Vollziehbarkeit des angefochtenen Bescheids vom 19.11.2004 gestellt. Hierauf ist mit Beschluss des Berichterstatters vom 29.11.2005 (5 K 671/05) die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage des Klägers gegen den Bescheid des Regierungspräsidiums ... vom 19.11.2004 bezüglich der Ausweisung wiederhergestellt und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung angeordnet worden. Der Beschluss ist seit 28.12.2005 rechtskräftig. Zur Begründung ist in dem Beschluss ausgeführt, im Klageverfahren bedürfe es der näheren Prüfung, ob der angefochtene Bescheid mangels eines durchgeführten Widerspruchsverfahrens entsprechend den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben (Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG) nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (Europäischer Gerichtshof und Bundesverwaltungsgericht) sich als rechtswidrig erweist und daher aufzuheben ist.
Bereits mit Schreiben vom 09.12.2004 hat die Staatsanwaltschaft ... dem Regierungspräsidium ... mitgeteilt, eine Entscheidung nach § 456 a StPO werde bis Juli 2005 zurückgestellt. Mit weiterem Schreiben vom 27.06.2005 hat die Staatsanwaltschaft ... dem Regierungspräsidium ... mitgeteilt, eine Entscheidung nach § 456 a StPO werde voraussichtlich erst im April 2006 getroffen werden. Das Landgericht ... hat mit Beschluss vom 21.11.2005 (Az.: 8 StVK 217/05) die Fortdauer der Unterbringung des Klägers in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Regierungspräsidiums ... vom 19.11.2004 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist er im Wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids. Ergänzend hat das Regierungspräsidium ... mit Schreiben vom 17.01.2006 ausgeführt, zwar leide die Ausweisung des Klägers nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 -) derzeit an einem formellen Fehler, da keine unabhängige Stelle im Sinne von Art. 9 RL 64/221/EWG eingeschaltet worden sei und ein dringender Fall nach der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Klägers gegen seine Ausweisung in Nr. 1 des angefochtenen Bescheids nicht (mehr) vorliege. Allerdings gelte ab dem 30.04.2006 die Richtlinie 2004/38/EG; die Richtlinie 64/221/EWG trete dann außer Kraft. Nachdem die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich sei, wenn eine Ausweisung wie hier an Art. 14 ARB 1/80 zu messen sei, müsse die neue Richtlinie gewürdigt werden und der formelle Fehler könnte dann nicht mehr festgestellt werden. Die Verfahrensgarantie in Art. 31 RL 2004/38/EG sehe nämlich die Beteiligung einer unabhängigen Stelle nicht mehr vor. Insofern mache es wenig Sinn, der Klage allein wegen Verstoßes gegen Art. 9 RL 64/221/EWG stattzugeben. Denn der Beklagte könnte dann Rechtsmittel einlegen und wegen des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage wäre das Rechtsmittel erfolgversprechend. Die ab 30.04.2006 geltende Richtlinie 2004/38/EG verstoße auch nicht gegen ein Verschlechterungsverbot; die Europäische Union habe das Recht, ihre Richtlinien aufzuheben oder zu ändern.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter anstelle der Kammer einverstanden erklärt.
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Die einschlägigen ausländerrechtlichen Akten liegen vor. Die gerichtlichen Akten zum Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (5 K 671/05) sind beigezogen worden.

Entscheidungsgründe

 
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Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ist der Berichterstatter befugt, anstelle der Kammer zu entscheiden (§ 87 a Abs. 2 und 3 VwGO).
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Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
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Der angefochtene und über den 31.12.2004 hinaus wirksam gebliebene (§ 102 Abs. 1 S. 1 AufenthG) Bescheid verstößt gegen hier anwendbares gemeinschaftsrechtliches Verfahrensrecht. Vorliegend kommt die Richtlinie Nr. 64/221/EWG (im Folgenden: RL 64/221/EWG) vom 25.02.1964 des Rats der EWG zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. S. 850) zur Anwendung. Nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, DVBl. 2005, 119 = NVwZ 2005, 224 = InfAuslR 2005, 26) können in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C 493/01 -, DVBl. 2004, 876 = InfAuslR 2004, 268) zur Ausweisung von Unionsbürgern türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei (im Folgenden: ARB 1/80) besitzen, nur nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Der Kläger ist nach Art. 7 S. 1 ARB 1/80 assoziationsberechtigt. Hiernach haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Für den Fall eines ordnungsgemäßen Wohnsitzes seit mindestens 5 Jahren haben die genannten Familienangehörigen ferner freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Art. 7 S. 1 ARB 1/80 findet auch auf - wie hier - in Deutschland geborene Kinder eines türkischen Arbeitnehmers Anwendung (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - Rs. C-467/02 -, DVBl. 2005, 103 = InfAuslR 2005, 13). Der Kläger hat seine Rechte aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 auch nicht durch die Verurteilung mit Urteil des Landgerichts ... vom 17.09.2004 zu einer viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe und die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verloren (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2004, a.a.O.). Art. 7 ARB 1/80 ist die speziellere Vorschrift im Verhältnis zu Art. 6 ARB 1/80; dessen Regelungen können weder hinsichtlich des Erwerbs noch hinsichtlich des Verlusts der Rechtsstellung auf Art. 7 ARB 1/80 übertragen werden (vgl. EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - Rs. C-373/03 -, DVBl. 2005 1256 = InfAuslR 2005, 352; vgl. auch Dörig, DVBl. 2005, 1221). Hiernach war/ist der Kläger sowohl im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids als auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung assoziationsberechtigt.
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Die europarechtlichen Verfahrensgarantien aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2005 - Rs. C-136/03 -, DVBl. 2005, 1437 = InfAuslR 2005, 289; BVerwG, Urte. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 - u.v. 06.10.2005 - 1 C 5.04 -). Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG lautet:
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„Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.“
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Dass diese Richtlinie mit Inkrafttreten der Richtlinie 2004/38/EG (ABl. L 158/77) am 30.04.2006 außer Kraft tritt (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) und nach Art. 31 RL 2004/38/EG die Beteiligung einer unabhängigen Stelle nicht mehr vorgesehen ist, führt nicht dazu, dass bereits jetzt - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - aufgrund einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/38/EG von der Nichtanwendbarkeit des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auszugehen ist. Dem steht der eindeutige Wortlaut des Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG entgegen. Unabhängig hiervon ist ohnehin im Ausländer- und Asylrecht vor Ablauf der Umsetzungsfrist (hier: 30.04.2006, vgl. Art. 40 Abs. 1 RL 2004/38/EG) bzw. - wenn zuvor erfolgt - Verkündung des Umsetzungsgesetzes regelmäßig keine vom Instanzrichter beachtliche Vorwirkung von EG-Richtlinien anzunehmen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -, AuAS 2005, 163 = InfAuslR 2005, 296 = VBlBW 2005, 303; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 13.07.2005 - 1 LA 68/05 -, AuAS 2005, 262; jew. zur sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG, ABl. L 304/12).
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Findet die nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle („Vier-Augen-Prinzip“) nicht statt, ist die Ausweisung wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein „dringender Fall“ vor. Ein solcher Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein besonderes öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.). Eine Nachprüfung der angefochtenen Ausweisungsverfügung ist hier vor Erhebung der Klage nicht erfolgt. Ein Vorverfahren nach nationalem Verwaltungsprozessrecht (§ 68 VwGO) fand wegen des Ausschlusses im baden-württembergischen Landesrecht (§ 6 a S. 1 AGVwGO: kein Vorverfahren, wenn das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt erlassen oder abgelehnt hat; ein Ausnahmefall nach Satz 2 - Notwendigkeit der Durchführung eines Vorverfahrens kraft Bundesrechts oder Bewertung einer Leistung einer berufsbezogenen Prüfung - scheidet vorliegend offensichtlich aus) nicht statt. Eine behördliche Nachprüfung der Ausweisung ist nach den Angaben der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung auch nicht während des Klageverfahrens erfolgt. Die Vertreterin hat insoweit in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, bei in gerichtlichen Verfahren anhängigen Ausweisungen von türkischen Staatsangehörigen, die dem ARB 1/80 unterfallen, erfolge keine Nachprüfung auf der Grundlage des seit 22.10.2005 geltenden § 10 Abs. 7 der Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO - (vgl. Verordnung v. 04.10.2005, GBl. S. 678). Hiernach sind die Regierungspräsidien in den Fällen der Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die dem ARB 1/80 unterfallen, zuständige Stellen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Zuständige Stelle für das vorliegend für die getroffene Ausweisung sachlich und örtlich zuständige Regierungspräsidium ... ist das Regierungspräsidium ... (§ 10 Abs. 7 S. 2 AAZuVO). Mangels einer nachgeholten Nachprüfung kann daher offen bleiben, ob sie überhaupt in wirksamer Weise hätte nachgeholt werden können (vgl. zum indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts wie hier u. a.: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 45 RdNrn. 185 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., Einf. RdNrn. 58 ff. u. § 45 RdNrn. 5 a ff.; Schoch, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 312 f.).
21 
Von der geforderten Nachprüfung der verfügten Ausweisung konnte mangels eines „dringenden Falles“ nicht abgesehen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat im genannten Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) nicht ausdrücklich entschieden, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung maßgebend ist, ob ein „dringender Fall“ vorliegt. Auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschl. v. 19.01.2006 - 13 S 1207/05 -) lässt sich dies nicht entnehmen. Die Zeitform der Gegenwart im Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG („... trifft die Verwaltungsbehörde ...“) spricht dafür, dass der Zeitpunkt der (letzten) behördlichen Entscheidung maßgebend ist. Hiervon dürfte auch das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) ausgegangen sein. Es führt aus, Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde verletzt, „... wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Rahmen der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68 VwGO)“ (vgl. den ersten Satz in RdNr. 13 des amtlichen Urteilsabdrucks, die Ausführungen in dieser Randnummer enden im letzten Satz mit der Feststellung eines unheilbar rechtswidrigen Verfahrensfehlers; das Wort „unheilbar“ findet dagegen im amtlichen Leitsatz 2 des Urteils keinen Niederschlag: „... wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig ...“). Die weiteren Ausführungen an anderer Stelle im genannten Urteil (RdNr. 18) lassen aber auch die Deutung zu, für die Frage des Vorliegens eines „dringenden Falles“ dürften auch noch Umstände herangezogen werden, die nach Erlass der (letzten) Behördenentscheidung eingetreten sind. Denn das Bundesverwaltungsgericht führt im ersten Satz der RdNr. 18 aus, ein „dringender Fall“ sei nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt wird. Für eine Deutung in diesem Sinne sprechen auch die weiteren Ausführungen in RdNr. 19 (letzter Satz) des Urteils. Hiernach scheidet die Annahme eines „dringenden Falles“ dann aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibt und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordnet oder von der Anordnung nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch macht. Das Bundesverwaltungsgericht ermöglicht mit dieser Erwägung die Berücksichtigung des behördlichen Verhaltens nach Erlass der verfügten Ausweisung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung (sei sie zugleich mit der Ausweisung erfolgt oder erst später angeordnet worden) unter Einbeziehung gerichtlicher Erkenntnisse („gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung“, letzter Satz in RdNr. 19). Eine derartige zeitliche Reichweite zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs „dringender Fall“ und damit der Frage, ob ein weiteres „behördliches Augenpaar“ im Sinne des Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG die getroffene behördliche Ausgangsentscheidung zu kontrollieren hat, erscheint im Hinblick auf eine wünschenswerte klare Abgrenzung des Verwaltungsverfahrens und des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens bedenklich. Wird das „Vier-Augen-Prinzip“ im Sprachgebrauch des nationalen Verwaltungsprozessrechts als „behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68 VwGO“ (RdNr. 13 des Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.) verstanden, müsste an sich eine Klage ohne Durchführung eines solchen Vorverfahrens unzulässig sein, es sei denn, man hielte sie nach den Kriterien des § 75 VwGO als Untätigkeitsklage für zulässig, was dann aber den Ausgangsbescheid nicht wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig machen könnte. So betrachtet müsste die vom Bundesverwaltungsgericht gewonnene Erkenntnis vom unheilbaren Verfahrensfehler (im Urt. v. 06.10.2005, a.a.O., ist in RdNr. 16 von einem unheilbaren Mangel des Verwaltungsverfahrens die Rede) rechtssystematisch der (nationalen) Lehre von der Heilung von Verfahrens- und Formfehlern (§ 45 LVwVfG) zugewiesen werden. Diese lässt bei Fehlen bestimmter Verfahrenshandlungen (§ 45 Abs. 1 LVwVfG) eine Nachholung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu (§ 45 Abs. 2 LVwVfG).
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Im vorliegenden Fall kann letztlich offen bleiben, auf welchen Zeitpunkt hinsichtlich der Frage, ob ein „dringender Fall“ vorliegt, abzustellen ist. Ein solcher Fall liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn von dem Ausländer wegen seiner Inhaftierung keine (schwere) Gefahr ausgeht. Im Falle der Inhaftierung kommt ein „dringender Fall“ nur dann in Frage, wenn der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.). Dies war hier aber weder im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 19.11.2004 noch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Fall. Der Kläger wurde wegen der Taten, die seiner Verurteilung mit Urteil des Landgerichts ... vom 17.09.2004 zugrunde lagen, bereits am 28.03.2004 in Untersuchungshaft genommen. Und nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 17.09.2004 am 25.09.2004 befand sich der Kläger zunächst im Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt ..., dann wurde er am 19.11.2004 in das Justizvollzugskrankenhaus ... verlegt und anschließend ab 25.11.2004 im Zentrum für Psychiatrie ... untergebracht, wo er sich bis heute befindet. Die Staatsanwaltschaft ... hat bisher keine Entscheidung nach § 456 a Abs. 1 StPO getroffen (Absehen von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung, wozu auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gehört, vgl. § 61 StGB), sondern eine solche Entscheidung nach ihrem Schreiben vom 27.06.2005 an das Regierungspräsidium ... bis voraussichtlich April 2006 zurückgestellt. Daher liegt hier wegen eines Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG ein beachtlicher Verfahrensfehler vor, der zur objektiven Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids führt und den Kläger in subjektiven Rechten (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt.
23 
§ 46 LVwVfG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Verletzung von Vorschriften über das Verfahren unbeachtlich ist, findet auf den hier vorliegenden Fehler des formellen Gemeinschaftsrechts keine Anwendung (das BVerwG hat diese Frage in den Urte. v. 13.09.2005 u. 06.10.2005, a.a.O., nicht aufgeworfen, desgleichen nicht der VGH Bad.-Württ. im Beschl. v. 19.01.2006, a.a.O.). Diese Vorschrift erfasst nicht sogenannte absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts (vgl. Wolff/Decker, VwGO/VwVfG - Studienkommentar -, 2005, § 46 VwVfG RdNr. 9). Ein absolutes Verfahrensrecht liegt vor, wenn die verfahrensrechtliche Bestimmung nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs, insbesondere einer umfassenden Information der Verwaltungsbehörde dient, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren will (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325, 331 f. = NJW 1982, 1546; Wolff/Decker, a.a.O., § 42 VwGO RdNr. 107). Absolute Verfahrensvorschriften wollen dem Berechtigten die Möglichkeit geben, die Aufhebung der Sachentscheidung allein wegen der Verletzung der Verfahrensvorschrift zu verlangen. Die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf vorrangigem Gemeinschaftsrecht beruhen, werden nach ganz herrschender Meinung wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt. Das Erfordernis einer effektiven einheitlichen Wirkung des Gemeinschaftsrechts (sog. „effet utile“, vgl. Bergmann, Recht und Politik der Europäischen Union, 2001, RdNrn. 184 u. 440 ff.; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in: Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76; Kenntner, VBlBW 2000, 297, 301; Kopp/Ramsauer, a.a.O., Einf. RdNr. 57) schließt eine Anwendung des § 46 LVwVfG aus (vgl. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S. 425; Kahl, VerwArch. 2004, 1, 22 ff.; Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 RdNr. 20; Sachs, a.a.O., § 45 RdNr. 187; Wolff/Decker, a.a.O., § 46 VwVfG RdNr. 10). Die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sind untrennbar mit dem (materiellen) Recht der Arbeitnehmer - Unionsbürger und türkische Staatsangehörige, denen Rechte nach dem ARB 1/80 zustehen - auf Freizügigkeit sowie Beschäftigung und ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verbunden (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2005, a.a.O., RdNr. 67 unter Hinweis auf Nr. 59 des Schlussantrags des Generalanwalts Maduro, InfAuslR 2005, 17) und daher wie absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts zu behandeln.
24 
Nach alledem ist nicht entscheidungserheblich, ob der festgestellte formelle gemeinschaftsrechtliche Verstoß ab 30.04.2006 unbeachtlich wird, wovon der Beklagte im Schriftsatz des Regierungspräsidiums ... vom 17.01.2006 ausgeht. Offen bleiben kann auch, ob mangels des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft ... (§ 64 Abs. 3 S. 1 AuslG/§ 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG) im Hinblick auf das mit Beschluss des Amtsgerichts ... vom 12.11.2004 lediglich vorläufig eingestellte Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz sich der angefochtene Bescheid gleichfalls als objektiv rechtswidrig und subjektiv rechtsverletzend erweist (bejahend VG Stuttgart, Urt. v. 24.09.1993 - 5 K 2284/91 -).
25 
Ist daher die Ausweisung rechtswidrig, kann auch die Abschiebungsandrohung (§§ 49 und 50 AuslG) keinen Bestand haben.
26 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
27 
Es besteht keine Veranlassung, die Berufung zuzulassen (§§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 VwGO).

Gründe

 
14 
Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten ist der Berichterstatter befugt, anstelle der Kammer zu entscheiden (§ 87 a Abs. 2 und 3 VwGO).
15 
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
16 
Der angefochtene und über den 31.12.2004 hinaus wirksam gebliebene (§ 102 Abs. 1 S. 1 AufenthG) Bescheid verstößt gegen hier anwendbares gemeinschaftsrechtliches Verfahrensrecht. Vorliegend kommt die Richtlinie Nr. 64/221/EWG (im Folgenden: RL 64/221/EWG) vom 25.02.1964 des Rats der EWG zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. S. 850) zur Anwendung. Nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -, DVBl. 2005, 119 = NVwZ 2005, 224 = InfAuslR 2005, 26) können in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 29.04.2004 - Rs. C-482/01 und C 493/01 -, DVBl. 2004, 876 = InfAuslR 2004, 268) zur Ausweisung von Unionsbürgern türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei (im Folgenden: ARB 1/80) besitzen, nur nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Der Kläger ist nach Art. 7 S. 1 ARB 1/80 assoziationsberechtigt. Hiernach haben die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben. Für den Fall eines ordnungsgemäßen Wohnsitzes seit mindestens 5 Jahren haben die genannten Familienangehörigen ferner freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Art. 7 S. 1 ARB 1/80 findet auch auf - wie hier - in Deutschland geborene Kinder eines türkischen Arbeitnehmers Anwendung (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2004 - Rs. C-467/02 -, DVBl. 2005, 103 = InfAuslR 2005, 13). Der Kläger hat seine Rechte aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 auch nicht durch die Verurteilung mit Urteil des Landgerichts ... vom 17.09.2004 zu einer viereinhalbjährigen Freiheitsstrafe und die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verloren (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2004, a.a.O.). Art. 7 ARB 1/80 ist die speziellere Vorschrift im Verhältnis zu Art. 6 ARB 1/80; dessen Regelungen können weder hinsichtlich des Erwerbs noch hinsichtlich des Verlusts der Rechtsstellung auf Art. 7 ARB 1/80 übertragen werden (vgl. EuGH, Urt. v. 07.07.2005 - Rs. C-373/03 -, DVBl. 2005 1256 = InfAuslR 2005, 352; vgl. auch Dörig, DVBl. 2005, 1221). Hiernach war/ist der Kläger sowohl im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheids als auch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung assoziationsberechtigt.
17 
Die europarechtlichen Verfahrensgarantien aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2005 - Rs. C-136/03 -, DVBl. 2005, 1437 = InfAuslR 2005, 289; BVerwG, Urte. v. 13.09.2005 - 1 C 7.04 - u.v. 06.10.2005 - 1 C 5.04 -). Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG lautet:
18 
„Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem Hoheitsgebiet zuständig ist.“
19 
Dass diese Richtlinie mit Inkrafttreten der Richtlinie 2004/38/EG (ABl. L 158/77) am 30.04.2006 außer Kraft tritt (vgl. Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG) und nach Art. 31 RL 2004/38/EG die Beteiligung einer unabhängigen Stelle nicht mehr vorgesehen ist, führt nicht dazu, dass bereits jetzt - im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - aufgrund einer Vorwirkung der Richtlinie 2004/38/EG von der Nichtanwendbarkeit des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG auszugehen ist. Dem steht der eindeutige Wortlaut des Art. 38 Abs. 2 RL 2004/38/EG entgegen. Unabhängig hiervon ist ohnehin im Ausländer- und Asylrecht vor Ablauf der Umsetzungsfrist (hier: 30.04.2006, vgl. Art. 40 Abs. 1 RL 2004/38/EG) bzw. - wenn zuvor erfolgt - Verkündung des Umsetzungsgesetzes regelmäßig keine vom Instanzrichter beachtliche Vorwirkung von EG-Richtlinien anzunehmen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -, AuAS 2005, 163 = InfAuslR 2005, 296 = VBlBW 2005, 303; OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 13.07.2005 - 1 LA 68/05 -, AuAS 2005, 262; jew. zur sog. Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG, ABl. L 304/12).
20 
Findet die nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung durch eine zweite unabhängige Stelle („Vier-Augen-Prinzip“) nicht statt, ist die Ausweisung wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein „dringender Fall“ vor. Ein solcher Fall im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein besonderes öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begegnen (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.). Eine Nachprüfung der angefochtenen Ausweisungsverfügung ist hier vor Erhebung der Klage nicht erfolgt. Ein Vorverfahren nach nationalem Verwaltungsprozessrecht (§ 68 VwGO) fand wegen des Ausschlusses im baden-württembergischen Landesrecht (§ 6 a S. 1 AGVwGO: kein Vorverfahren, wenn das Regierungspräsidium den Verwaltungsakt erlassen oder abgelehnt hat; ein Ausnahmefall nach Satz 2 - Notwendigkeit der Durchführung eines Vorverfahrens kraft Bundesrechts oder Bewertung einer Leistung einer berufsbezogenen Prüfung - scheidet vorliegend offensichtlich aus) nicht statt. Eine behördliche Nachprüfung der Ausweisung ist nach den Angaben der Vertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung auch nicht während des Klageverfahrens erfolgt. Die Vertreterin hat insoweit in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, bei in gerichtlichen Verfahren anhängigen Ausweisungen von türkischen Staatsangehörigen, die dem ARB 1/80 unterfallen, erfolge keine Nachprüfung auf der Grundlage des seit 22.10.2005 geltenden § 10 Abs. 7 der Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO - (vgl. Verordnung v. 04.10.2005, GBl. S. 678). Hiernach sind die Regierungspräsidien in den Fällen der Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die dem ARB 1/80 unterfallen, zuständige Stellen im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Zuständige Stelle für das vorliegend für die getroffene Ausweisung sachlich und örtlich zuständige Regierungspräsidium ... ist das Regierungspräsidium ... (§ 10 Abs. 7 S. 2 AAZuVO). Mangels einer nachgeholten Nachprüfung kann daher offen bleiben, ob sie überhaupt in wirksamer Weise hätte nachgeholt werden können (vgl. zum indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts wie hier u. a.: Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl., § 45 RdNrn. 185 ff.; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl., Einf. RdNrn. 58 ff. u. § 45 RdNrn. 5 a ff.; Schoch, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 312 f.).
21 
Von der geforderten Nachprüfung der verfügten Ausweisung konnte mangels eines „dringenden Falles“ nicht abgesehen werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat im genannten Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) nicht ausdrücklich entschieden, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung maßgebend ist, ob ein „dringender Fall“ vorliegt. Auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Beschl. v. 19.01.2006 - 13 S 1207/05 -) lässt sich dies nicht entnehmen. Die Zeitform der Gegenwart im Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG („... trifft die Verwaltungsbehörde ...“) spricht dafür, dass der Zeitpunkt der (letzten) behördlichen Entscheidung maßgebend ist. Hiervon dürfte auch das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 13.09.2005 (a.a.O.) ausgegangen sein. Es führt aus, Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG werde verletzt, „... wenn weder ein Widerspruchsverfahren stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Rahmen der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68 VwGO)“ (vgl. den ersten Satz in RdNr. 13 des amtlichen Urteilsabdrucks, die Ausführungen in dieser Randnummer enden im letzten Satz mit der Feststellung eines unheilbar rechtswidrigen Verfahrensfehlers; das Wort „unheilbar“ findet dagegen im amtlichen Leitsatz 2 des Urteils keinen Niederschlag: „... wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig ...“). Die weiteren Ausführungen an anderer Stelle im genannten Urteil (RdNr. 18) lassen aber auch die Deutung zu, für die Frage des Vorliegens eines „dringenden Falles“ dürften auch noch Umstände herangezogen werden, die nach Erlass der (letzten) Behördenentscheidung eingetreten sind. Denn das Bundesverwaltungsgericht führt im ersten Satz der RdNr. 18 aus, ein „dringender Fall“ sei nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländerbehörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat und diese Anordnung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt wird. Für eine Deutung in diesem Sinne sprechen auch die weiteren Ausführungen in RdNr. 19 (letzter Satz) des Urteils. Hiernach scheidet die Annahme eines „dringenden Falles“ dann aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibt und selbst die sofortige Vollziehung nicht anordnet oder von der Anordnung nicht unverzüglich - gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch macht. Das Bundesverwaltungsgericht ermöglicht mit dieser Erwägung die Berücksichtigung des behördlichen Verhaltens nach Erlass der verfügten Ausweisung unter Anordnung der sofortigen Vollziehung (sei sie zugleich mit der Ausweisung erfolgt oder erst später angeordnet worden) unter Einbeziehung gerichtlicher Erkenntnisse („gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung“, letzter Satz in RdNr. 19). Eine derartige zeitliche Reichweite zur Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs „dringender Fall“ und damit der Frage, ob ein weiteres „behördliches Augenpaar“ im Sinne des Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG die getroffene behördliche Ausgangsentscheidung zu kontrollieren hat, erscheint im Hinblick auf eine wünschenswerte klare Abgrenzung des Verwaltungsverfahrens und des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens bedenklich. Wird das „Vier-Augen-Prinzip“ im Sprachgebrauch des nationalen Verwaltungsprozessrechts als „behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68 VwGO“ (RdNr. 13 des Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.) verstanden, müsste an sich eine Klage ohne Durchführung eines solchen Vorverfahrens unzulässig sein, es sei denn, man hielte sie nach den Kriterien des § 75 VwGO als Untätigkeitsklage für zulässig, was dann aber den Ausgangsbescheid nicht wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig machen könnte. So betrachtet müsste die vom Bundesverwaltungsgericht gewonnene Erkenntnis vom unheilbaren Verfahrensfehler (im Urt. v. 06.10.2005, a.a.O., ist in RdNr. 16 von einem unheilbaren Mangel des Verwaltungsverfahrens die Rede) rechtssystematisch der (nationalen) Lehre von der Heilung von Verfahrens- und Formfehlern (§ 45 LVwVfG) zugewiesen werden. Diese lässt bei Fehlen bestimmter Verfahrenshandlungen (§ 45 Abs. 1 LVwVfG) eine Nachholung bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu (§ 45 Abs. 2 LVwVfG).
22 
Im vorliegenden Fall kann letztlich offen bleiben, auf welchen Zeitpunkt hinsichtlich der Frage, ob ein „dringender Fall“ vorliegt, abzustellen ist. Ein solcher Fall liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn von dem Ausländer wegen seiner Inhaftierung keine (schwere) Gefahr ausgeht. Im Falle der Inhaftierung kommt ein „dringender Fall“ nur dann in Frage, wenn der Ausländer aus der Haft heraus abgeschoben werden soll (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.09.2005, a.a.O.). Dies war hier aber weder im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 19.11.2004 noch im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung der Fall. Der Kläger wurde wegen der Taten, die seiner Verurteilung mit Urteil des Landgerichts ... vom 17.09.2004 zugrunde lagen, bereits am 28.03.2004 in Untersuchungshaft genommen. Und nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils vom 17.09.2004 am 25.09.2004 befand sich der Kläger zunächst im Strafvollzug in der Justizvollzugsanstalt ..., dann wurde er am 19.11.2004 in das Justizvollzugskrankenhaus ... verlegt und anschließend ab 25.11.2004 im Zentrum für Psychiatrie ... untergebracht, wo er sich bis heute befindet. Die Staatsanwaltschaft ... hat bisher keine Entscheidung nach § 456 a Abs. 1 StPO getroffen (Absehen von der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Besserung und Sicherung, wozu auch die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gehört, vgl. § 61 StGB), sondern eine solche Entscheidung nach ihrem Schreiben vom 27.06.2005 an das Regierungspräsidium ... bis voraussichtlich April 2006 zurückgestellt. Daher liegt hier wegen eines Verstoßes gegen Art. 9 Abs. 1 S. 1 RL 64/221/EWG ein beachtlicher Verfahrensfehler vor, der zur objektiven Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids führt und den Kläger in subjektiven Rechten (Art. 2 Abs. 1 GG) verletzt.
23 
§ 46 LVwVfG, wonach unter bestimmten Voraussetzungen die Verletzung von Vorschriften über das Verfahren unbeachtlich ist, findet auf den hier vorliegenden Fehler des formellen Gemeinschaftsrechts keine Anwendung (das BVerwG hat diese Frage in den Urte. v. 13.09.2005 u. 06.10.2005, a.a.O., nicht aufgeworfen, desgleichen nicht der VGH Bad.-Württ. im Beschl. v. 19.01.2006, a.a.O.). Diese Vorschrift erfasst nicht sogenannte absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts (vgl. Wolff/Decker, VwGO/VwVfG - Studienkommentar -, 2005, § 46 VwVfG RdNr. 9). Ein absolutes Verfahrensrecht liegt vor, wenn die verfahrensrechtliche Bestimmung nicht nur der Ordnung des Verfahrensablaufs, insbesondere einer umfassenden Information der Verwaltungsbehörde dient, sondern dem Betroffenen eine eigene, unabhängig vom materiellen Recht durchsetzbare Rechtsposition gewähren will (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.01.1982 - 4 C 26.78 -, BVerwGE 64, 325, 331 f. = NJW 1982, 1546; Wolff/Decker, a.a.O., § 42 VwGO RdNr. 107). Absolute Verfahrensvorschriften wollen dem Berechtigten die Möglichkeit geben, die Aufhebung der Sachentscheidung allein wegen der Verletzung der Verfahrensvorschrift zu verlangen. Die Verfahrensvorschriften des Gemeinschaftsrechts und solche nationale Vorschriften, die auf vorrangigem Gemeinschaftsrecht beruhen, werden nach ganz herrschender Meinung wie absolute Verfahrensvorschriften behandelt. Das Erfordernis einer effektiven einheitlichen Wirkung des Gemeinschaftsrechts (sog. „effet utile“, vgl. Bergmann, Recht und Politik der Europäischen Union, 2001, RdNrn. 184 u. 440 ff.; Kenntner, Rechtsschutz in Europa, in: Bergmann/Kenntner, Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 2002, S. 76; Kenntner, VBlBW 2000, 297, 301; Kopp/Ramsauer, a.a.O., Einf. RdNr. 57) schließt eine Anwendung des § 46 LVwVfG aus (vgl. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S. 425; Kahl, VerwArch. 2004, 1, 22 ff.; Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 46 RdNr. 20; Sachs, a.a.O., § 45 RdNr. 187; Wolff/Decker, a.a.O., § 46 VwVfG RdNr. 10). Die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sind untrennbar mit dem (materiellen) Recht der Arbeitnehmer - Unionsbürger und türkische Staatsangehörige, denen Rechte nach dem ARB 1/80 zustehen - auf Freizügigkeit sowie Beschäftigung und ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verbunden (vgl. EuGH, Urt. v. 02.06.2005, a.a.O., RdNr. 67 unter Hinweis auf Nr. 59 des Schlussantrags des Generalanwalts Maduro, InfAuslR 2005, 17) und daher wie absolute Verfahrensvorschriften des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts zu behandeln.
24 
Nach alledem ist nicht entscheidungserheblich, ob der festgestellte formelle gemeinschaftsrechtliche Verstoß ab 30.04.2006 unbeachtlich wird, wovon der Beklagte im Schriftsatz des Regierungspräsidiums ... vom 17.01.2006 ausgeht. Offen bleiben kann auch, ob mangels des Einvernehmens der Staatsanwaltschaft ... (§ 64 Abs. 3 S. 1 AuslG/§ 72 Abs. 4 S. 1 AufenthG) im Hinblick auf das mit Beschluss des Amtsgerichts ... vom 12.11.2004 lediglich vorläufig eingestellte Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz sich der angefochtene Bescheid gleichfalls als objektiv rechtswidrig und subjektiv rechtsverletzend erweist (bejahend VG Stuttgart, Urt. v. 24.09.1993 - 5 K 2284/91 -).
25 
Ist daher die Ausweisung rechtswidrig, kann auch die Abschiebungsandrohung (§§ 49 und 50 AuslG) keinen Bestand haben.
26 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
27 
Es besteht keine Veranlassung, die Berufung zuzulassen (§§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 VwGO).

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