Urteil vom Verwaltungsgericht Stuttgart - A 7 K 1629/19

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Februar 2019 wird in Ziffer 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Tatbestand

Der nach seinen Angaben am XX. XXXX 2003 in A geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er verließ sein Herkunftsland nach eigenen Angaben im November 2017 und reiste aus Griechenland kommend am 3. Juli 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er stellte am 13. September 2018 einen förmlichen Asylantrag.
Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Weiteren: Bundesamt) am 28. November 2018 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass es in Syrien keine Sicherheit gebe. Persönlich sei ihm in Syrien nichts zugestoßen. Auf Frage erklärte er, dass er Angst habe, verhaftet zu werden.
Mit Bescheid vom 28. Februar 2019 erkannte das Bundesamt dem Kläger subsidiären Schutz zu (Ziffer 1 des Bescheids) und lehnte den Asylantrag im Übrigen ab (Ziffer 2).
Am 8. März 2019 hat der Kläger Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen ergänzend vorgetragen, dass er sich im wehrfähigen Alter befinde und von Verfolgung bedroht sei.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Februar 2019 in Ziffer 2 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte hat schriftlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Verwaltungsrechtsstreit ist durch Beschluss der Kammer vom 21. Mai 2021 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
10 
In der mündlichen Verhandlung am 7. Juli 2021 ist der Kläger informatorisch angehört worden und hat im Wesentlichen angegeben, dass er im Falle einer Rückkehr zur Armee eingezogen würde. Er habe das wehrpflichtige Alter erreicht. Wenn er eingezogen würde, müsste er Menschen töten, die er nicht kenne und die nichts gemacht hätten. Wenn er sich weigern würde, würde er verhaftet und eventuell getötet. Auf Frage hat er erklärt, dass er in einem demokratischen Land zur Armee gehen würde, wenn er hierzu verpflichtet und das Land im Recht sei, zum Beispiel, wenn das Land angegriffen würde und sich verteidigen müsste. Wenn er dann aufgefordert würde, in die Armee zu gehen, würde er das machen. Er würde das aber nicht gerne machen, weil er grundsätzlich keine Menschen töten wolle. Er wolle aber nicht für das syrische Regime kämpfen. Dieses sei im Unrecht, weil es gegen die eigene Bevölkerung vorgehe und Zivilisten töte. Es führe einen Krieg gegen das eigene Volk.
11 
Auf Frage erklärte er, dass wenn er in Syrien zum Kämpfen gezwungen würde, würde er dies verweigern, auch wenn er deswegen verhaftet würde. Jemanden zu töten, sei eine zu große Sache für ihn. Die andere Person habe auch ihr Leben. Er stelle sich immer wieder vor, dass jemand zu seiner Familie käme und versuche, sie zu töten. Er denke, dass er nicht mehr schlafen könne, wenn er jemanden umbrächte. Auf Frage hat er ausgeführt, dass es etwas anderes sei, wenn er jemanden töten müsste, wenn dies rechtmäßig geschehe. Weiter hat er ausgeführt, dass er aus der Gegend von H stamme. Diese liege im kurdischen Gebiet. Es lebten dort weitere seiner Familienmitglieder. Gerade würden zwar führende Kurden aus seiner Heimat mit dem syrischen Regime kooperieren. Es gebe aber auch Kurden und Gruppierungen, die weiterhin gegen das Regime kämpfen wollten. Wenn er für Assad kämpfen müsste, habe er Angst, dass er gegen seine eigenen Verwandten eingesetzt würde. Er befürchte konkret, dass sein Cousin F, der mit einem Alter von 20 Jahren ebenfalls wehrfähig sei, auf kurdischer Seite eingezogen würde und sie gegeneinander eingesetzt würden. Er sei mit F in H aufgewachsen. Er könnte niemals gegen ihn kämpfen.
12 
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

13 
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung in der Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
14 
Die zulässige Klage ist begründet.
15 
1. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
16 
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
17 
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). § 3a Absatz 2 AsylG enthält weitere Beispiele für Verfolgungshandlungen.
18 
Eine solche Verfolgung kann vom Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG) oder nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
19 
Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
20 
a) Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor einer Verfolgung begründet ist, müssen die relevanten Rechtsgutsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebens-sachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war (Vorverfolgung), begründet die Vermutung, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, BeckRS 2017, 141174).
21 
Vorliegend kann dahinstehen, ob der Kläger eine ihn betreffende asylrechtlich relevanten Verfolgungshandlung in seinem Herkunftsstaat vor seiner Ausreise glaubhaft dargelegt hat, da ihm nach Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgung drohen würde.
22 
Zur Begründung einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgefahr beruft sich der Kläger auf Wehrdienstverweigerung und einer ihm deswegen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
23 
Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Abkehr von der Rechtsprechung des 11. Senats (vgl. Urt. vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - und vom 14. Juni 2017 - A 11 S 511/17 – juris) in seinen Urteilen vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 - und vom 27. März 2019 - A 4 S 335/19 - (jeweils juris) festgestellt, dass in ihr Heimatland zurückkehrenden männlichen Syrern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung alleine deswegen droht. Zur Begründung führt er aus, dass die Tatsache, dass das syrische Regime seit längerer Zeit einen durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg führe, der sich auch gegen die Teile der Zivilbevölkerung richte, nicht den Schluss zulasse,
24 
„dass die Verfolgung von Männern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern sich auch als Verfolgung aufgrund einer den betreffenden Personen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung darstellt“ (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 39).
25 
Die Annahme, dass das syrische Regime unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet, hält der Senat vor diesem Hintergrund auch in Anbetracht des jedenfalls für das Handeln der syrischen Sicherheitsorgane kennzeichnenden Freund-Feind-Schemas nicht für gerechtfertigt (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 40).
26 
Der EuGH wiederum hat in seinem Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - das Bestehen einer starken Vermutung dafür festgestellt, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründen in Zusammenhang steht (vgl. EuGH, a.a.O., juris, Rn. 61). Einen entsprechenden Automatismus nimmt der EuGH aber auch in diesen Fällen nicht an. Die Verweigerung des Militärdienstes könne zwar Ausdruck politischer Überzeugung – sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zu Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehe – oder religiöser Überzeugungen sein oder ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe haben. Die Verweigerung könne aber auch in der Furcht begründet sein, sich den Gefahren eines bewaffneten Konflikts auszusetzen (EuGH, a.a.O., Rn. 47; so auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, juris, Rn. 7). Auch könne eine Verknüpfung zwischen zumindest einem der in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung
oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht als gegeben angesehen werden und folglich der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden entzogen werden (EuGH, a.a.O., Rn. 50). Die zuständige Behörde habe in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte, die Plausibilität der Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art 10 der RL 2011/95 genannten Gründen und der Strafverfolgung und Bestrafung zu prüfen, mit der sie im Falle der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen rechnen muss. Jedoch hebt der EuGH in seinem Urteil hervor, dass eine starke Vermutung dafürspreche, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht (EuGH, a.a.O., Rn. 57).
27 
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs geht das erkennende Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) von einer dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung wegen einer ihm unterstellten oppositionellen Haltung im Falle einer Rückkehr nach Syrien aus. Ihm droht Strafverfolgung gem. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, weil er sich glaubhaft der Ableistung eines Militärdienstes verweigern würde, der mit der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG einhergehen würde. So hat er glaubhaft geschildert, dass er einen Wehrdienst nicht grundsätzlich ablehnt, sondern in einer Armee, die rechtmäßig, also völkerrechtskonform, eingesetzt wird, bereit wäre zu dienen. Neben seiner Verweigerung, völkerrechtswidrig gegen Zivilisten vorzugehen, führt der Kläger zudem glaubhaft an, einen Wehrdienst in der syrischen Armee nicht leisten zu wollen, weil er die Gefahr sieht, dass er gegen (ihm nahestehende) Verwandte kämpfen müsste. Insoweit verkennt das Gericht nicht, dass es zwischen kurdischen Gruppierungen und dem syrischen Regime verschiedene Übereinkünfte gegeben hat. Direkte Verhandlungen zwischen Vertretern der sog. kurdischen „Selbstverwaltung“ und dem Regime in Damaskus über das zukünftige Verhältnis des Nordostens zum syrischen Staat fänden nach Auskunft des Auswärtigen Amtes derzeit jedoch nicht statt (vgl. AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 10). Gleichzeitig hätte sich die angespannte Situation zwischen Kurden und Arabern in Nordostsyrien weiter verschärft (AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 15). Das Auswärtige Amt geht daher auch für Nord- und Nordost-Syrien weiterhin von einer sehr volatilen Lage aus (AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 6). Entsprechend ist die vom Kläger angeführte Sorge, gegen Verwandte eingesetzt zu werden, nicht von der Hand zu weisen und unterstreicht die Glaubhaftigkeit der von ihm behaupteten Kriegsdienstverweigerung.
28 
An der Pflicht des Klägers, Militärdienst in Syrien leisten zu müssen, bestehen vorliegend keine Zweifel. So besteht in Syrien eine Militärdienstpflicht grundsätzlich für alle Männer syrischer Staatsangehörigkeit zwischen 18 und 42 Jahren unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund einschließlich der Palästinenser (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
29 
Ferner bestehen keine Zweifel, dass dem Kläger eine Strafverfolgung bzw. Bestrafung wegen seiner Wehrdienstverweigerung drohen würde. So wird in Syrien eine Wehrdienstverweigerung nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 14; AA an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23. März 2017, S. 8 f.). Nach dessen Art. 68 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Art. 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre. Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Art. 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (vgl. AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
30 
Zwar haben das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 22. März 2021 (-14 A 3439/18.A -, juris, Rn. 48ff., 106) und in dessen Folge der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 -, juris, Rn 30) festgestellt, dass nach der Erkenntnismittellage einfachen Wehrdienstentziehern keine Strafverfolgung bzw. Bestrafung aufgrund dessen drohe und die Erkenntnismittellage nicht bestätige, dass Wehrdienstentzieher nach ihrer Rückkehr z. B. an der Front zur Bestrafung wegen unterstellter Illoyalität (sog. Politmalus) eingesetzt würden (vgl. OVG NRW a.a.O., Rn. 83 ff. und VGH BW a. a. O. juris Rn. 29). Der vorliegende Fall bezieht sich jedoch nicht auf eine glaubhafte Wehrdienstentziehung, sondern betrifft eine glaubhafte Verweigerung des Kriegsdienstes für das Assad Regime.
31 
Keine Rolle für eine Einordnung des vorliegenden Falles unter den Tatbestand des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG kann es wiederum nach Auffassung des erkennenden Gerichts spielen, dass der Kläger im Falle einer unterstellten hypothetischen Rückkehr seinen konkreten Einsatzort und die ihm zugedachte Einheit nicht kennt. Im Kontext des syrischen Bürgerkrieges sind wiederholte und systematische Kriegsverbrechen durch die syrische Armee dokumentiert, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzort dazu veranlasst wird, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung dieser Verbrechen teilzunehmen, sehr hoch ist (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 37). Folglich ist die Ableistung von Militärdienst im Rahmen eines solchen Bürgerkrieges unabhängig vom konkreten Einsatzgebiet mit der unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an Kriegsverbrechen verbunden (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 38).
32 
In Übereinstimmung mit dem VGH Baden-Württemberg geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass das syrische Regime nicht unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 40). Auch ist dem VGH Baden-Württemberg zuzustimmen, soweit er in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 - ausführt, dass keine neuen Erkenntnisse vorliegen, die dafürsprechen, dass nunmehr ausnahmslos jeder militärdienstflüchtige Mann bei einer Rückkehr nach Syrien als „Oppositioneller“ mit regimekritischen Meinung oder Grundhaltung verfolgt würde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, juris, Rn. 16, m. w. N.).
33 
Unter Zugrundelegung des dargestellten Urteils des EuGH, ist jedoch nach hier vertretener Auffassung diese Feststellung alleine nicht ausreichend, um die vom EuGH hervorgehobene „starke Vermutung“ einer politischen Verfolgung in Fällen der vorliegenden Art zu wiederlegen. Soweit der VGH Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 darauf abstellt, dass auch nach dem dargestellten Urteil des EuGH, wenn keine Vorverfolgung angenommen würde, weiterhin nur zu prüfen sei, ob eine Verfolgung aufgrund einer (unterstellten) oppositionellen Haltung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe (VGH Baden-Württemberg, vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 -, Rn. 20), erscheint dies nicht hinreichend. Vielmehr geht das erkennende Gericht davon aus, dass zur Wiederlegung einer „starken Vermutung“ Anhaltspunkte erforderlich sind, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegenteilige Annahme rechtfertigen. Im vorliegenden Fall wären somit nach hier vertretener Ansicht konkrete Anhaltspunkte dafür erforderlich, dass das syrische Regime Wehrdienstverweigerern, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht eine oppositionelle Haltung unterstellt und sie nicht aus diesem Grund verfolgt werden. Solche Anhaltspunkte sind vorliegend jedoch weder vorgetragen noch aufgrund der Erkenntnismittellage ersichtlich. Vielmehr ergibt sich nach den Erkenntnissen der EASO dass die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen vom syrischen Regime als Hochverrat gewertet wird. Personen die sich darauf berufen, würden sich der Inhaftierung oder Bestrafung mit dem Tode aussetzen (vgl. EASO, Syria Military Service, Country of Origin Information Report, April 2021, S. 14). Zudem ist im Falle einer Einziehung zum syrischen Militär beachtlich wahrscheinlich, dass der Betroffene bei Kampfhandlungen eingesetzt würde. Einem ernsthaften Militärdienstverweigerer, wie beim Kläger glaubhaft der Fall, bliebe in einer solchen Situation nur die Befehlsverweigerung, um sich an Kampfhandlungen oder aber auch an den in Artikel 12 Absatz 2 lit. a) Richtlinie 2011/95/EU genannten Verbrechen nicht beteiligen zu müssen. Spätestens eine solche Weigerung würde auf der Basis der Erkenntnismittellage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer empfindlichen Bestrafung führen. Im Ergebnis hat das erkennende Gericht keine Zweifel daran, dass der Kläger vom syrischen Regime als politischer Gegner betrachtet würde, wenn er den von ihm geforderten Kriegsdienst mit der Begründung verweigert, dass er nicht bereit ist, in einer Armee zu dienen, die gegen die Zivilbevölkerung oder seine kurdischen Verwandten eingesetzt wird.
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b) Der Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist auch nicht nach § 3a AsylG ausgeschlossen. Danach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG). Neben der auf verlässliche Tatsachenfeststellungen gestützten Prognose tatsächlicher Erreichbarkeit muss dem Ausländer am Zufluchtsort die Sicherung seines Existenzminimums möglich sein.
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Vorliegend besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger bereits bei einer Einreise am Flughafen von den Grenzbehörden oder dem Geheimdienst festgehalten wird. Darüber hinaus gibt es keinen Landesteil, in den er sicher reisen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen Personen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. EASO, Country Guidance: Syria Common analysis and guidance note, vom 01.09.2020, S. 150; AA - Bericht über die Lage in der
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Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 13f.).
37 
c) Zuletzt steht einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nicht entgegen, dass sich der Kläger auf einen Nachfluchttatbestand im Sinne des § 28 Abs. 1 S. 1 AsylG beruft, da er im Zeitpunkt seiner Ausreise nach Überzeugung des Gerichts aufgrund seines Alters nicht in der Lage war, sich eine feste Überzeugung zu der Frage einer Kriegsdienstverweigerung bilden zu können und daher nach § 28 Abs. 1 S. 2 AsylG der Satz 1 des § 28 Abs. 1 AsylG keine Anwendung findet. So war der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben im Zeitpunkt seiner Ausreise 14 Jahre alt und damit nach internationalem Recht nicht im wehrfähigen Alter. Nach Art. 38 UN-Kinderrechtskonvention sind Jugendliche bis zu einem Alter von 15 Jahren vor dem Dienst an der Waffe absolut zu schützen.
38 
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

Gründe

13 
Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung in der Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
14 
Die zulässige Klage ist begründet.
15 
1. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
16 
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet.
17 
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). § 3a Absatz 2 AsylG enthält weitere Beispiele für Verfolgungshandlungen.
18 
Eine solche Verfolgung kann vom Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG) oder nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
19 
Dabei ist es Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
20 
a) Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor einer Verfolgung begründet ist, müssen die relevanten Rechtsgutsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebens-sachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war (Vorverfolgung), begründet die Vermutung, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 05.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, BeckRS 2017, 141174).
21 
Vorliegend kann dahinstehen, ob der Kläger eine ihn betreffende asylrechtlich relevanten Verfolgungshandlung in seinem Herkunftsstaat vor seiner Ausreise glaubhaft dargelegt hat, da ihm nach Überzeugung des Gerichts im Falle einer Rückkehr eine asylrelevante Verfolgung drohen würde.
22 
Zur Begründung einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgungsgefahr beruft sich der Kläger auf Wehrdienstverweigerung und einer ihm deswegen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 5 AsylG.
23 
Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Abkehr von der Rechtsprechung des 11. Senats (vgl. Urt. vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - und vom 14. Juni 2017 - A 11 S 511/17 – juris) in seinen Urteilen vom 23. Oktober 2018 - A 3 S 791/18 - und vom 27. März 2019 - A 4 S 335/19 - (jeweils juris) festgestellt, dass in ihr Heimatland zurückkehrenden männlichen Syrern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung alleine deswegen droht. Zur Begründung führt er aus, dass die Tatsache, dass das syrische Regime seit längerer Zeit einen durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg führe, der sich auch gegen die Teile der Zivilbevölkerung richte, nicht den Schluss zulasse,
24 
„dass die Verfolgung von Männern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern sich auch als Verfolgung aufgrund einer den betreffenden Personen unterstellten regimefeindlichen politischen Überzeugung darstellt“ (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 39).
25 
Die Annahme, dass das syrische Regime unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet, hält der Senat vor diesem Hintergrund auch in Anbetracht des jedenfalls für das Handeln der syrischen Sicherheitsorgane kennzeichnenden Freund-Feind-Schemas nicht für gerechtfertigt (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 40).
26 
Der EuGH wiederum hat in seinem Urteil vom 19. November 2020 - C-238/19 - das Bestehen einer starken Vermutung dafür festgestellt, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie aufgezählten Gründen in Zusammenhang steht (vgl. EuGH, a.a.O., juris, Rn. 61). Einen entsprechenden Automatismus nimmt der EuGH aber auch in diesen Fällen nicht an. Die Verweigerung des Militärdienstes könne zwar Ausdruck politischer Überzeugung – sei es, dass sie in der Ablehnung jeglicher Anwendung militärischer Gewalt oder in der Opposition zu Politik oder den Methoden der Behörden des Herkunftslandes bestehe – oder religiöser Überzeugungen sein oder ihren Grund in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe haben. Die Verweigerung könne aber auch in der Furcht begründet sein, sich den Gefahren eines bewaffneten Konflikts auszusetzen (EuGH, a.a.O., Rn. 47; so auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, juris, Rn. 7). Auch könne eine Verknüpfung zwischen zumindest einem der in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und der Strafverfolgung
oder Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie nicht als gegeben angesehen werden und folglich der Prüfung durch die mit der Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz betrauten nationalen Behörden entzogen werden (EuGH, a.a.O., Rn. 50). Die zuständige Behörde habe in Anbetracht sämtlicher von der um internationalen Schutz nachsuchenden Person vorgetragener Anhaltspunkte, die Plausibilität der Verknüpfung zwischen den in Art. 2 Buchst. d und Art 10 der RL 2011/95 genannten Gründen und der Strafverfolgung und Bestrafung zu prüfen, mit der sie im Falle der Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen rechnen muss. Jedoch hebt der EuGH in seinem Urteil hervor, dass eine starke Vermutung dafürspreche, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie näher erläuterten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründe in Zusammenhang steht (EuGH, a.a.O., Rn. 57).
27 
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs geht das erkennende Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) von einer dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung wegen einer ihm unterstellten oppositionellen Haltung im Falle einer Rückkehr nach Syrien aus. Ihm droht Strafverfolgung gem. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG, weil er sich glaubhaft der Ableistung eines Militärdienstes verweigern würde, der mit der Beteiligung an Kriegsverbrechen im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG einhergehen würde. So hat er glaubhaft geschildert, dass er einen Wehrdienst nicht grundsätzlich ablehnt, sondern in einer Armee, die rechtmäßig, also völkerrechtskonform, eingesetzt wird, bereit wäre zu dienen. Neben seiner Verweigerung, völkerrechtswidrig gegen Zivilisten vorzugehen, führt der Kläger zudem glaubhaft an, einen Wehrdienst in der syrischen Armee nicht leisten zu wollen, weil er die Gefahr sieht, dass er gegen (ihm nahestehende) Verwandte kämpfen müsste. Insoweit verkennt das Gericht nicht, dass es zwischen kurdischen Gruppierungen und dem syrischen Regime verschiedene Übereinkünfte gegeben hat. Direkte Verhandlungen zwischen Vertretern der sog. kurdischen „Selbstverwaltung“ und dem Regime in Damaskus über das zukünftige Verhältnis des Nordostens zum syrischen Staat fänden nach Auskunft des Auswärtigen Amtes derzeit jedoch nicht statt (vgl. AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 10). Gleichzeitig hätte sich die angespannte Situation zwischen Kurden und Arabern in Nordostsyrien weiter verschärft (AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 15). Das Auswärtige Amt geht daher auch für Nord- und Nordost-Syrien weiterhin von einer sehr volatilen Lage aus (AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 6). Entsprechend ist die vom Kläger angeführte Sorge, gegen Verwandte eingesetzt zu werden, nicht von der Hand zu weisen und unterstreicht die Glaubhaftigkeit der von ihm behaupteten Kriegsdienstverweigerung.
28 
An der Pflicht des Klägers, Militärdienst in Syrien leisten zu müssen, bestehen vorliegend keine Zweifel. So besteht in Syrien eine Militärdienstpflicht grundsätzlich für alle Männer syrischer Staatsangehörigkeit zwischen 18 und 42 Jahren unabhängig von ethnischem oder religiösem Hintergrund einschließlich der Palästinenser (vgl. Auswärtiges Amt an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
29 
Ferner bestehen keine Zweifel, dass dem Kläger eine Strafverfolgung bzw. Bestrafung wegen seiner Wehrdienstverweigerung drohen würde. So wird in Syrien eine Wehrdienstverweigerung nach dem Military Penal Code geahndet (vgl. AA - Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 14; AA an VG Düsseldorf vom 02.01.2017; „Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion“ vom 23. März 2017, S. 8 f.). Nach dessen Art. 68 wird, wer sich der Einberufung entzieht, mit Haft zwischen einem und sechs Monaten in Friedenszeiten und bis zu fünf Jahren in Kriegszeiten bestraft. Wer das Land verlässt, ohne eine Adresse zu hinterlassen, unter der er immer erreichbar ist, und sich so der Einberufung entzieht, wird mit drei Monaten bis zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße bestraft. Für Desertion im eigentlichen Sinn werden in Art. 101 fünf Jahre Haft angedroht bzw. fünf bis zehn Jahre, wenn der Deserteur das Land verlässt. Erfolgt die Desertion in Kriegszeiten oder während des Kampfes, beträgt die Haftstrafe 15 Jahre. Desertion im Angesicht des Feindes wird gemäß Art. 102 mit lebenslanger Haft bzw. bei Überlaufen zum Feind mit Exekution bestraft. Bereits die nicht genehmigte und somit unerlaubte Ausreise wird wie ein Wehrdienstentzug geahndet (vgl. AA Auskunft an VG Düsseldorf vom 02.01.2017).
30 
Zwar haben das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 22. März 2021 (-14 A 3439/18.A -, juris, Rn. 48ff., 106) und in dessen Folge der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 4. Mai 2021 - A 4 S 468/21 -, juris, Rn 30) festgestellt, dass nach der Erkenntnismittellage einfachen Wehrdienstentziehern keine Strafverfolgung bzw. Bestrafung aufgrund dessen drohe und die Erkenntnismittellage nicht bestätige, dass Wehrdienstentzieher nach ihrer Rückkehr z. B. an der Front zur Bestrafung wegen unterstellter Illoyalität (sog. Politmalus) eingesetzt würden (vgl. OVG NRW a.a.O., Rn. 83 ff. und VGH BW a. a. O. juris Rn. 29). Der vorliegende Fall bezieht sich jedoch nicht auf eine glaubhafte Wehrdienstentziehung, sondern betrifft eine glaubhafte Verweigerung des Kriegsdienstes für das Assad Regime.
31 
Keine Rolle für eine Einordnung des vorliegenden Falles unter den Tatbestand des § 3a Abs. 1 Nr. 5 AsylG kann es wiederum nach Auffassung des erkennenden Gerichts spielen, dass der Kläger im Falle einer unterstellten hypothetischen Rückkehr seinen konkreten Einsatzort und die ihm zugedachte Einheit nicht kennt. Im Kontext des syrischen Bürgerkrieges sind wiederholte und systematische Kriegsverbrechen durch die syrische Armee dokumentiert, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wehrpflichtiger unabhängig von seinem Einsatzort dazu veranlasst wird, unmittelbar oder mittelbar an der Begehung dieser Verbrechen teilzunehmen, sehr hoch ist (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 37). Folglich ist die Ableistung von Militärdienst im Rahmen eines solchen Bürgerkrieges unabhängig vom konkreten Einsatzgebiet mit der unmittelbaren oder mittelbaren Beteiligung an Kriegsverbrechen verbunden (vgl. EuGH, Urt. v. 19.11.2020 - C-238/19 -, juris, Rn. 38).
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In Übereinstimmung mit dem VGH Baden-Württemberg geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass das syrische Regime nicht unterschiedslos alle Männer im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entzogen haben, als potentielle Regimegegner betrachtet (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris, Rn. 40). Auch ist dem VGH Baden-Württemberg zuzustimmen, soweit er in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 - ausführt, dass keine neuen Erkenntnisse vorliegen, die dafürsprechen, dass nunmehr ausnahmslos jeder militärdienstflüchtige Mann bei einer Rückkehr nach Syrien als „Oppositioneller“ mit regimekritischen Meinung oder Grundhaltung verfolgt würde (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 22.12.2020 - A 4 S 4001/20 -, juris, Rn. 16, m. w. N.).
33 
Unter Zugrundelegung des dargestellten Urteils des EuGH, ist jedoch nach hier vertretener Auffassung diese Feststellung alleine nicht ausreichend, um die vom EuGH hervorgehobene „starke Vermutung“ einer politischen Verfolgung in Fällen der vorliegenden Art zu wiederlegen. Soweit der VGH Baden-Württemberg in seinem Beschluss vom 22. Dezember 2020 darauf abstellt, dass auch nach dem dargestellten Urteil des EuGH, wenn keine Vorverfolgung angenommen würde, weiterhin nur zu prüfen sei, ob eine Verfolgung aufgrund einer (unterstellten) oppositionellen Haltung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohe (VGH Baden-Württemberg, vom 22. Dezember 2020 - A 4 S 4001/20 -, Rn. 20), erscheint dies nicht hinreichend. Vielmehr geht das erkennende Gericht davon aus, dass zur Wiederlegung einer „starken Vermutung“ Anhaltspunkte erforderlich sind, die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gegenteilige Annahme rechtfertigen. Im vorliegenden Fall wären somit nach hier vertretener Ansicht konkrete Anhaltspunkte dafür erforderlich, dass das syrische Regime Wehrdienstverweigerern, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht eine oppositionelle Haltung unterstellt und sie nicht aus diesem Grund verfolgt werden. Solche Anhaltspunkte sind vorliegend jedoch weder vorgetragen noch aufgrund der Erkenntnismittellage ersichtlich. Vielmehr ergibt sich nach den Erkenntnissen der EASO dass die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen vom syrischen Regime als Hochverrat gewertet wird. Personen die sich darauf berufen, würden sich der Inhaftierung oder Bestrafung mit dem Tode aussetzen (vgl. EASO, Syria Military Service, Country of Origin Information Report, April 2021, S. 14). Zudem ist im Falle einer Einziehung zum syrischen Militär beachtlich wahrscheinlich, dass der Betroffene bei Kampfhandlungen eingesetzt würde. Einem ernsthaften Militärdienstverweigerer, wie beim Kläger glaubhaft der Fall, bliebe in einer solchen Situation nur die Befehlsverweigerung, um sich an Kampfhandlungen oder aber auch an den in Artikel 12 Absatz 2 lit. a) Richtlinie 2011/95/EU genannten Verbrechen nicht beteiligen zu müssen. Spätestens eine solche Weigerung würde auf der Basis der Erkenntnismittellage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer empfindlichen Bestrafung führen. Im Ergebnis hat das erkennende Gericht keine Zweifel daran, dass der Kläger vom syrischen Regime als politischer Gegner betrachtet würde, wenn er den von ihm geforderten Kriegsdienst mit der Begründung verweigert, dass er nicht bereit ist, in einer Armee zu dienen, die gegen die Zivilbevölkerung oder seine kurdischen Verwandten eingesetzt wird.
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b) Der Anspruch des Klägers auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist auch nicht nach § 3a AsylG ausgeschlossen. Danach wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG). Neben der auf verlässliche Tatsachenfeststellungen gestützten Prognose tatsächlicher Erreichbarkeit muss dem Ausländer am Zufluchtsort die Sicherung seines Existenzminimums möglich sein.
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Vorliegend besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger bereits bei einer Einreise am Flughafen von den Grenzbehörden oder dem Geheimdienst festgehalten wird. Darüber hinaus gibt es keinen Landesteil, in den er sicher reisen könnte. Denn das Regime hat ein dichtes System von Kontrollpunkten eingerichtet. Diesen liegen in der Regel auch die Namenslisten zu denjenigen Personen vor, die sich der Einberufung bzw. Mobilmachung entzogen haben (vgl. EASO, Country Guidance: Syria Common analysis and guidance note, vom 01.09.2020, S. 150; AA - Bericht über die Lage in der
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Arabischen Republik Syrien, Stand: November 2020, S. 13f.).
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c) Zuletzt steht einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auch nicht entgegen, dass sich der Kläger auf einen Nachfluchttatbestand im Sinne des § 28 Abs. 1 S. 1 AsylG beruft, da er im Zeitpunkt seiner Ausreise nach Überzeugung des Gerichts aufgrund seines Alters nicht in der Lage war, sich eine feste Überzeugung zu der Frage einer Kriegsdienstverweigerung bilden zu können und daher nach § 28 Abs. 1 S. 2 AsylG der Satz 1 des § 28 Abs. 1 AsylG keine Anwendung findet. So war der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben im Zeitpunkt seiner Ausreise 14 Jahre alt und damit nach internationalem Recht nicht im wehrfähigen Alter. Nach Art. 38 UN-Kinderrechtskonvention sind Jugendliche bis zu einem Alter von 15 Jahren vor dem Dienst an der Waffe absolut zu schützen.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.

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