Urteil vom Verwaltungsgericht Würzburg - W 5 K 22.30401

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2022 verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.

II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand

Der Kläger ist Asylbewerber aus dem Jemen begehrt die Feststellung eines Abschiebungsverbots.

1. Der am ... 2000 geborene Kläger ist jemenitischer Staatsangehöriger, arabischer Volkszugehörigkeit und islamischen Glaubens. Er reiste am 14. Oktober 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 12. November 2021 einen Asylantrag.

Bei seiner persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 7. Januar 2022 gab der Kläger im Wesentlichen an: Er habe sein Heimatland aufgrund des Krieges verlassen. Seine Ehefrau sei im Jemen geblieben und lebe dort bei ihren Eltern. Ein Ort in der Nähe seiner Wohnung sei bei einem Luftangriff getroffen worden. Dabei sei er von einem Splitter an seinem linken Arm getroffen und verletzt worden. Der Arm sei dreimal operiert worden und er könne ihn nicht mehr richtig bewegen. Aufgrund des Krieges sei das Leben sehr schwer geworden. Manchmal hätten sie keine Lebensmittel, kein Strom und kein Wasser gehabt. Er habe die Schule nicht weiter besuchen können. Viele Menschen seien durch Luftangriffe ums Leben gekommen.

2. Mit Bescheid vom 28. April 2022, dem Kläger ausgehändigt am 6. Mai 2022, lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1 des Bescheids), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie die Gewährung subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und dem Kläger wurde die Abschiebung in den Jemen oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).

Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Antragsteller sei kein Flüchtling i.S.d. § 3 AsylG. Der Kläger habe vorgetragen, dass ihm - abgesehen vom Splitter - nichts passiert sei. Er sei unverfolgt aus dem Jemen ausgereist. Ein flüchtlingsrechtlich relevantes Anknüpfungsmerkmal liege nicht vor. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen ebenfalls nicht vor. Aus dem Vortrag des Klägers ergebe sich nicht, dass ihm die Todesstrafe oder ein ernstafter Schaden durch Folter oder unmenschliche Behandlung drohen würde. Eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide aus. Zwar bestehe im Jemen ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Es bestehe jedoch keine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt. Der vorliegend festgestellte Grad willkürlicher Gewalt erreiche nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche hohe Niveau, demzufolge jedem Betroffenen allein wegen seiner Anwesenheit im Konfliktgebiet ohne Weiteres Schutz nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG gewährt werden müsste. Der Kläger stamme aus der Stadt Sanaa im Gouvernement Amanah al Asmah, welches nach den Erkenntnissen des Bundesamts als relativ sicher gelte. Individuelle gefahrerhöhenden Umstände seien nicht ersichtlich. Aufgrund des Splitters sei die Rückkehr nicht gefährlicher als für andere Bewohner Jemens. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AsylG sei nicht gegeben. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Jemen führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch wenn insbesondere ärmere Bevölkerungsschichten häufig am Rande des Existenzminimums lebten, so gebe es keine Anzeichen dafür, dass die humanitären Bedingungen bei einer Rückkehr in den Jemen als derart schlecht zu bewerten wären, dass diese den Schweregrad einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK aufwiesen. Auch unter Berücksichtigung individueller Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit der Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht erfüllt. Nichts anderes ergebe sich aufgrund der Corona-Pandemie. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger als junger Mann, auch ohne nennenswertes Vermögen, im Falle einer Rückkehr in der Lage wäre, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Vermögen zu erzielen, und mit Unterstützung seiner Brüder und der Familie damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die jemenitische Gesellschaft zu integrieren. Der Kläger sei jung und gegebenenfalls nur eingeschränkt erwerbsfähig. Er müsste sich wegen der Einschränkungen mit seinem Ellbogen eine Bürotätigkeit oder eine leichte Tätigkeit suchen. Er habe neun Jahre die Schule besucht und habe die Qualifikation für Bürotätigkeiten. Er könne auch die Unterstützung seiner Verwandten in Anspruch nehmen. Seine Ehefrau könne weiterhin bei ihren Eltern leben. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AsylG führen würde. Entsprechendes sei nicht vorgetragen worden. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liege nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlichen verschlechtern würden. Dies sei hier nicht der Fall.

3. Am 20. Mai 2022 ließ der Kläger über die Klägerbevollmächtigte Klage erheben und zunächst sinngemäß beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Jemen vorliegt.

Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Aussagen des Klägers in seiner Anhörung vor dem Bundesamt verwiesen.

4. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragte für die Beklagte,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wurde auf die Begründung des angegriffenen Bescheids verwiesen.

5. Mit Beschluss vom 19. Juli 2022 übertrug die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter.

6. In der mündlichen Verhandlung am 18. August 2022 erklärte die Klägerbevollmächtigte die Klagerücknahme hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes. Der diesbezügliche Teil des Klagebegehrens wurde vom Verfahren abgetrennt, unter dem Aktenzeichen W 5 K 22.30619 fortgeführt und eingestellt. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sitzungsverlaufs wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

7. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage, über die gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entschieden werden konnte, obwohl die Beklagtenseite in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen war, ist - soweit über sie noch zu entscheiden war - begründet.

Der Kläger hat unter Aufhebung der Ziffer 4 bis 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. April 2022 einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn der Betroffene im Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr liefe, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat können nur in begründeten Ausnahmefällen in Bezug auf Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot begründen (vgl. hierzu: BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris).

Angesichts der besonderen Umstände des hiesigen Einzelfalls kann unter Berücksichtigung der aktuellen Sicherheitslage und der humanitären Situation im Jemen davon ausgegangen werden, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Jemen nicht in der Lage sein wird, sich eine den Anforderungen des Art. 3 EMRK entsprechende Existenz zu sichern.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fasst im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 14 ff.) die Sicherheitslage im Jemen wie folgt zusammen:

„Der Krieg im Jemen brach im Jahr 2014 aus, als die Huthi weite Teile des Landes, darunter die Hauptstadt Sanaa, überrannten. Seit 2015 versucht eine von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition, die Huthi mit Luftangriffen zurückzudrängen, und die Regierung wiederherzustellen. Beiden Seiten werden schwere Verstöße gegen die Menschenrechte vorgeworfen (TAZ 10.12.2021). Das Land ist instabil und von bewaffneten Konflikten geprägt. Es bestehen erhebliche Sicherheitsrisiken. Die Entwicklung der Lage ist ungewiss In verschiedenen Landesteilen bekämpfen sich Regierungstruppen (unterstützt durch eine ausländische Koalition) und verschiedene aufständische Gruppierungen. Es finden regelmäßig Luftangriffe auf verschiedene Ziele statt. Auch Sana’a und Aden sind immer wieder von bewaffneten Auseinandersetzungen und Angriffen mit Raketen und Drohnen betroffen. Im Land und in den Küstengewässern werden auch Minen eingesetzt (EDA 30.08.2021). Zeitweise werden Blockaden über sämtliche Land-, Flug- und Schiffsverbindungen verhängt (EDA 30.08.2021). Im ganzen Land besteht ein hohes Risiko von terroristischen Akten gegen in- und ausländische Personen und Einrichtungen, einschließlich gegen humanitäre Organisationen. Regelmäßig fordern Anschläge Todesopfer und Verletzte (EDA 30.08.2021). Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) operierte im Jemen nicht immer unter ihrem eigentlichen Namen, sondern nannte sich z.B. im Jahr 2011 bei seiner teilweisen Eroberung von Abyan und Shabwa „Gefolgsleute der Scharia“ („Ansar al-Shariah“). Als die Gruppe 2014 bis 2015 die Stadt Mukallah besetzte, trat sie unter dem Namen „Söhne von Hadramawt“ („Sons of Hadramawt“) auf (SCSS 5.1.2021). Im Indischen Ozean und auch in den jemenitischen Gewässern ist Piraterie verbreitet, besonders im Golf von Aden (EDA 30.08.2021). Die Gewährleistung der Sicherheit durch staatliche Behörden ist nicht sichergestellt. Der bewaffnete Konflikt zwischen Huthi-Rebellen und der Regierung und ihren Unterstützern dauert weiter an. Anfang August 2019 kam es zu schweren Gefechten zwischen südlichen Separatisten und der Regierung loyalen Truppen in der Hafenstadt Aden. In der Folge kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen diesen Gruppen in den südlichen Provinzen Abyan, Shabwai sowie vereinzelt in Aden selbst. Daneben kommt es auch in Taiz immer wieder zu Kämpfen. Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Die weiterhin fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar (AA 15.12.2021). Die staatlichen Institutionen sind landesweit nur noch sehr eingeschränkt funktionsfähig. Bereits im September 2014 hatten Milizen der schiitisch-zaiditischen Huthi-Bewegung die Kontrolle über weite Landesteile, darunter auch die Hauptstadt Sanaa, übernommen und auch Teile der Sicherheitskräfte unter ihre Kontrolle gebracht. Die staatlichen Sicherheitsorgane sind nur bedingt funktionsfähig und können im Einzelfall keinen ausreichenden Schutz garantieren (AA 15.12.2021). Es kommt weiterhin sehr rasch zu Versorgungsengpässen und Massendemonstrationen, zum Teil verbunden mit gewaltsamen Ausschreitungen (AA 15.12.2021). Bei Demonstrationen kann es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen den Demonstranten und den Sicherheitskräften kommen (EDA 30.08.2021). Nach sechs Jahren saudischer Militäraktionen im Jemen haben diese keines der Ziele erreicht: Präsiden Hadi befindet sich weiter im Exil, und seine Regierung ist schwach, während die Huthi aktuell stärker sind als zu Kriegsbeginn. Angesichts hunderttausender Toter und der weltweit schlimmsten humanitären Krise ist der Jemen so weit fragmentiert, dass es unwahrscheinlich erscheint, dass aus ihm wieder ein einziger Staat werden kann - oder eine Zweiteilung wie vor 1990. Es gibt stattdessen viele Jemen, kleine Gebiete, die von einer steigenden Zahl an bewaffneten Gruppen gehalten werden, und die unterschiedliche Ziele verfolgen. Keine der bewaffneten Gruppen hat genug Macht, um den Rest des Landes zu beherrschen. Aber fast alle diese Gruppen besitzen genug Truppenstärke und Munition, um ein eventuelles nationales Friedensabkommen zu torpedieren, wenn sie ihre Interessen nicht adäquat vertreten sehen sollten (BI 25.3.2021). The Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) schätzt, dass seit Beginn der regionalen Intervention im Jemen im März 2015 bis Oktober 2021 über 145.000 JemenitInnen durch Gewalt getötet wurden (CRS 23.11.2021). In einem am 23.11.2021 veröffentlichten Report gibt das UNEntwicklungsprogramm (UNDP) an, bis Ende des Jahres 2021 mit 377.000 Kriegstoten seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2014 zu rechnen. Rund 60% der Todesfälle werden dabei den indirekten Folgen des Krieges zugerechnet, etwa Hunger oder mangelnde medizinische Versorgung. Betroffen sind zumeist Kinder unter fünf Jahren, die 70% der Todesopfer stellen (BAMF 29.11.2021). Ausländische Beobachter verurteilten die Menschenrechtsverletzungen durch alle Konfliktparteien (CRS 23.11.2021). Es gab zahlreiche Berichte über willkürliche oder rechtswidrige Tötungen durch derzeitige oder ehemalige Mitglieder der Sicherheitskräfte der Regierung. Auch politisch motivierte Tötungen durch nichtstaatliche Akteure, einschließlich der Houthi-Truppen, militanter sezessionistischer Elemente und terroristischer und aufständischer Gruppen, die sich zu Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) oder zur Organisation Islamischen Staat bekennen, setzten sich im Laufe des Jahres fort (USDOS 30.3.2021). Die lange Zeit geteilte Hafenstadt Hodaida am Roten Meer fiel plötzlich unter komplette HouthiKontrolle, nachdem sich die mit Präsident Hadi verbündeten Truppen aus dem Gebiet zurückgezogen hatten (PolGeoNow 1.12.2021). Die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Huthi-Rebellen vertrieben seit November mehr als 25.000 Menschen aus der Umgebung der Hafenstadt Hodaida. Drei Fünftel der Zivilisten flohen in die von der Regierung gehaltenen Gebiete, der Rest zu den Rebellen (TAZ 10.12.2021). Die bewaffnete Gruppe der Huthi hat seit September wahllos Artillerie und ballistische Raketen in bewohnte Gebiete der Provinz Marib abgefeuert, was zu zivilen Opfern, darunter Frauen und Kindern, und zu einer neuen Welle ziviler Vertreibungen geführt hat. Die Angriffe sind Teil der verschärften Kämpfe zwischen den Huthi-Kräften und der jemenitischen Regierung und ihren verbündeten Streitkräften um Marib. Die Kämpfe tragen dazu bei, dass sich die humanitären Bedingungen für Millionen von Zivilisten und Binnenvertriebenen in der Region verschlechtern. Der große militärische Vormarsch der Huthi-Kräfte zur Eroberung Maribs, der rohstoffreichen Provinz 170 Kilometer östlich von Sanaa und eine der letzten Hochburgen der jemenitischen Regierungstruppen, begann 2020 und hat sich seit Februar intensiviert. Zivilisten und Vertriebene in Marib befinden seit fast zwei Jahren in dieser Lage, und einige leiden unter schweren Entbehrungen. Die Huthi führten wiederholt wahllose Angriffe auf zivile Gebiete durch und blockierten humanitärer Hilfe (HRW 24.11.2021, vgl. CRS 23.11.2021). Die Provinz Marib ist weiterhin ungeminderter Schauplatz von Gefechten, wobei die nicht international anerkannte Regierung der Huthi langsam an Boden gegenüber den von Saudi-Arabien unterstützten Truppen von Präsident Hadi gewinnt (PolGeoNow 1.12.2021). Marib ist die letzte von der Regierung kontrollierte Großstadt im nördlichen Teil des Landes (BAMF 27.9.2021). Die Stadt Marib im Jemen ist von einst wenigen hunderttausend Einwohnern zu einer Millionenstadt angewachsen - einigen Schätzungen zufolge bis zu fast drei Millionen Menschen. In dem seit sieben Jahren andauernden jemenitischen Bürgerkrieg hat sich die Stadt zur wichtigsten Zufluchtsstätte der im Land Vertriebenen entwickelt (TAZ 10.12.2021). War Marib bis Anfang des Jahres noch ein Ruhepol im jemenitischen Bürgerkrieg und daher als Fluchtort beliebt, ist die Stadt inzwischen der am heftigsten umkämpfte Ort in diesem Krieg. Die Huthi-Rebellen versuchen derzeit, zunächst das Umland von Marib zu erobern. Die Stadt selbst kontrollieren noch die jemenitischen Regierungstruppen, die von Saudi-Arabien unterstützt werden. Bisher ist es vor allem die saudische Luftwaffe, die die Rebellen mit ihrem Bombardement noch abhält, sich bis an den Stadtrand vorzukämpfen (TAZ 10.12.2021). Seit Oktober 2021 haben die Huthi-Truppen die Kontrolle über die Bezirke Al-Abdiyah und Harib im südlichen Gouvernement Marib übernommen, während die Kämpfe in den Bezirken al-Jubah und Jabal Murad andauern und 93.000 Zivilisten zwingen, aus ihren Häusern zu fliehen und in der Stadt Marib, die bereits zwei Millionen Vertriebene beherbergt, Sicherheit zu suchen. Der Oktober 2021 war der tödlichste Monat seit Jahren im Gouvernement mit mehr als 100 Zivilisten, darunter Kinder, die getötet oder verwundet wurden (HRW 24.11.2021). Die Anti-Huthi-Koalition unter Führung Saudi-Arabiens hat zwischen dem 23.11.2021 und 27.11.2021 mehrere Luftschläge gegen Ziele in Sanaa durchgeführt. Laut Angaben der Koalition richteten sich die Bombardierungen gegen militärische Einrichtungen. Die Huthi hingegen geben an, dass auch Wohnhäuser und eine Fabrik beschädigt worden seien und vermeldeten zwei Tote. Die Huthi hatten am 20.11.2021 mehr als ein Dutzend Drohnen gegen Ziele in Saudi-Arabien abgefeuert. In einem am 23.11.2021 veröffentlichten Report gibt das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) an, bis Ende des Jahres 2021 mit 377.000 Kriegstoten seit Ausbruch des Konflikts im Jahr 2014 zu rechnen. Rund 60% der Todesfälle werden dabei den indirekten Folgen des Krieges zugerechnet, etwa Hunger oder mangelnde medizinische Versorgung. Betroffen sind zumeist Kinder unter fünf Jahren, die 70% der Todesopfer stellen (BN 29.11.2021). Die bewaffnete Gruppe der Huthi hat seit September 2021 wahllos Artillerie und ballistische Raketen in bewohnte Gebiete des jemenitischen Gouvernements Marib abgefeuert, was zu zivilen Opfern, darunter Frauen und Kindern, und zu einer neuen Welle ziviler Vertreibungen geführt hat. Die Angriffe sind Teil der verschärften Kämpfe um Marib zwischen den Huthi-Kräften und der jemenitischen Regierung und ihren verbündeten Streitkräften. Die Kämpfe tragen dazu bei, dass sich die humanitären Bedingungen für Millionen von Zivilisten und Binnenvertriebenen in der Region verschlechtern. Der große militärische Vormarsch der Huthi-Kräfte zur Eroberung des Gouvernements Marib, des rohstoffreichen Gouvernements 170 Kilometer östlich von Sanaa, einer der letzten Hochburgen der jemenitischen Regierungstruppen, begann 2020 und hat sich seit Februar 2021 intensiviert. Zivilisten und Vertriebene in Marib sind seit fast zwei Jahren im Fadenkreuz gefangen, einige leiden unter schwerer Entbehrung. Die Houthi greifen wiederholt und scheinbar wahllos zivile Gebiete an und blockieren den Zugang zu humanitärer Hilfe (HRW 24.11.2021). Seit dem 17.9.2021 sind bei Kämpfen in den Gouvernments Marib und Shabwa mindestens 190 Soldaten ums Leben gekommen, davon rund 130 auf Seiten der Huthi. Die Huthi-Rebellen haben ihren Vormarsch auf die Stadt Marib im September 2021 nochmals intensiviert und griffen nun auch verstärkt aus dem benachbarten Gouvernement Shabwa an, wo sie erst kurz zuvor einige Bezirke erobert hatten. Marib ist die letzte von der Regierung kontrollierte Großstadt im nördlichen Teil des Landes und reich an Öl und Gas (BN 27.9.2021). Es gab zahlreiche Berichte über willkürliche oder rechtswidrige Tötungen durch derzeitige oder ehemalige Mitglieder der ROYG-Sicherheitskräfte. Politisch motivierte Tötungen durch nichtstaatliche Akteure, einschließlich der Huthi-Truppen, militanter sezessionistischer Elemente und terroristischer und aufständischer Gruppen, die sich zu Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP) oder zu einer Tochterorganisation des sogenannten Islamischen Staats (ISIS) bekennen, gab es auch im Laufe des Jahres 2020 (USDOS 30.3.2021). Seit Oktober 2021 haben die Huthi-Truppen die Kontrolle über die Bezirke Al-Abdiyah und Harib im südlichen Gouvernement Marib übernommen, während die Kämpfe in den Bezirken al-Jubah und Jabal Murad andauern. 93.000 Zivilisten wurden dadurch gezwungen, aus ihren Häusern zu fliehen und in der Stadt Marib im Norden, die bereits zwei Millionen Vertriebene beherbergt, Sicherheit zu suchen. Die Bodenkämpfe zwischen der bewaffneten Huthi-Gruppe und den jemenitischen Regierungstruppen gehen weiter, während die Huthi-Kräfte das Gouvernement von drei Fronten aus umkreisen: von al-Jawf im Norden, al-Baydah im Süden und Sirwah und Nehem im Westen. Der Oktober 2021 war der tödlichste Monat seit Jahren im Gouvernement, mit mehr als 100 Zivilisten, darunter Kinder, die getötet oder verwundet wurden. Am 3.10.2021 haben laut jemenitischer Regierungsbehörden, drei Huthi-Raketen das Viertel al-Rawdah in der Stadt Marib getroffen, die zwei Kinder getötet und 33 Menschen, darunter auch Kinder, verletzt haben (HRW 24.11.2021).“

Zu dem aktuellen Waffenstillstand https://unric.org/de/030822-jemen im Jemen bestehen folgende Erkenntnisse:

„Am 02.04.22 hat in Jemen ein zweimonatiger Waffenstillstand begonnen. Dieser wurde separat mit beiden Kriegsparteien von der UN ausgehandelt, der Beginn fällt auf den ersten Tag des muslimischen Fastenmonats Ramadan. Der Waffenstillstand umfasst ebenfalls eine teilweise Lockerung der saudischen See- und Luftblockade, sodass bereits am 03.04.22 der erste von 18 geplanten Tankern mit Treibstoff den Hafen von Hodeida anlaufen konnte. Daneben sollen wöchentlich bis zu zwei kommerzielle Passagierflüge zwischen Sanaa und Ägypten bzw. Jordanien ermöglicht werden.“ (BAMF, briefing notes vom 4. April 2022).

„Der am 02.04.22 in Kraft getretene Waffenstillstand (vgl. BN v. 04.04.22) hat die Ausweitung von humanitären Hilfsprogrammen ermöglicht. Dennoch kommt es weiterhin zu Kampfhandlungen, insbesondere in der Gegend um die umkämpfte Stadt Marib im gleichnamigen Gouvernement. Als Teil der Waffenruhe wurden im Vorfeld ein Gefangenenaustausch sowie die Öffnung des Flughafens Sanaa für zwei kommerzielle Flugverbindungen pro Woche nach Ägypten und Jordanien vereinbart. Beides wurde bislang nicht umgesetzt, letzteres aufgrund Uneinigkeit bezüglich der Nutzung von durch Houthi-Behörden ausgestellte Reisepässe.“ (BAMF, briefing notes vom 25. April 2022).

„Das am 02.04.22 in Kraft getretene Waffenstillstandsabkommen, welches zunächst für zwei Monate angesetzt war, wurde am 02.06.22 um weitere zwei Monate verlängert. Obwohl die Waffenruhe weitgehend eingehalten wurde, wurden die Kampfhandlungen nicht vollständig eingestellt; mindestens 19 Zivilpersonen, darunter Kinder, wurden bei Kampfhandlungen in den Gouvernements Taizz und al-Dhali getötet. Die Waffenruhe umfasst weitere Vereinbarungen (vgl. BN v. 04.04.22), welche zum Großteil umgesetzt wurden. Eine Ausnahme bildet die Belagerung der Stadt Taizz, die entgegen getroffener Absprachen nicht beendet wurde. Die Stadt Taizz im 7 gleichnamigen Gouvernement ist zweigeteilt: Ein Teil befindet sich unter Kontrolle der Anti-Houthi-Koalition, der andere Teil wird seit 2016 von den Houthis belagert und ist vom Rest des Landes weitgehend abgeschnitten. Gespräche zwischen der jemenitischen Regierung, den Houthis und der UN über das Ende der Belagerung dauern an.“ (BAMF, briefing notes vom 13. Juni 2022).

„Wie am 18.07.22 bekannt wurde, drängt die UN auf eine Verlängerung des aktuellen Waffenstillstands um sechs Monate. Die momentane Waffenruhe war am 02.04.22 für zunächst zwei Monate in Kraft getreten und wurde Anfang Juni 2022 um weitere zwei Monate verlängert; bei Nichtverlängerung endet sie am 02.08.22. Der Waffenstillstand hat zu einem signifikanten Rückgang von Kampfhandlungen geführt, komplett eingestellt wurden diese jedoch zu keinem Zeitpunkt. Zuletzt wurde am 23.07.22 ein Kind getötet und zehn weitere Personen verletzt, als die Houthis ein Wohngebiet in der Stadt Taizz unter Beschuss genommen hatten.“ (BAMF, briefing notes vom 25. Juli 2022).

„Am Dienstag gab der UN-Sonderbeauftragte für Jemen Hans Grundberg bekannt, dass der Waffenstillstand in dem Land um weitere zwei Monate bis zum 2. Oktober verlängert wurde. Die Verlängerung beinhaltet eine Verpflichtung der Regierung und der Houthi-Rebellen, die Verhandlungen zu intensivieren, um so bald wie möglich ein erweitertes Abkommen zu erreichen. (…) Der von den Vereinten Nationen vermittelte Waffenstillstand trat erstmals am 2. April für zunächst zwei Monate in Kraft. Er wurde im Juni um weitere zwei Monate verlängert. Dies markiert die längste Periode relativer Ruhe im Jemen seit mehr als sieben Jahren des Konflikts. Zu den im vergangenen Monat gemeldeten Errungenschaften gehörten eine 60-prozentige Verringerung der zivilen Opfer und eine fast 50-prozentige Verringerung der Vertreibungen. Darüber hinaus sind 26 Treibstoffschiffe in Hudaydah eingelaufen, und es gab 36 Hin- und Rückflüge zwischen Sanaa und Jordaniens Hauptstadt Amman und Kairo, Ägypten. Grundberg betonte, dass das Hauptziel des Waffenstillstands weiterhin darin bestehe, der Zivilbevölkerung konkrete Hilfe zu leisten und ein günstiges Umfeld für eine friedliche Beilegung des Konflikts durch einen umfassenden politischen Prozess zu schaffen.“ (UNRIC - Regionales Informationszentrum der Vereinten Nationen, Waffenstillstand im Jemen um weitere zwei Monate verlängert, 3. August 2022, Internetveröffentlichung: https://unric.org/de/030822-jemen).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führt im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Gesamtaktualisierung am 17.12.2021, S. 41 ff.) weiterhin zur humanitären Situation im Jemen aus:

„Die humanitäre Lage im Jemen sei niemals schlimmer gewesen als jetzt. Laut UN droht eine Hungersnot. Mehr als 20 Millionen Jemeniten benötigen humanitäre Hilfe und Schutz. Zwei von drei Menschen im Jemen benötigen Nahrungsmittelhilfe, medizinische Versorgung oder andere lebensrettende Unterstützung durch humanitäre Organisationen. Rund 400.000 Mädchen und Buben unter fünf Jahren seien unterernährt, denen Tod droht, wenn sie keine Hilfe bekommen (ARD 1.3.2021). Die Konfliktparteien behindern die Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Kraftstoff und anderen Gütern, die für das Überleben der Bevölkerung unabdingbar sind, und die bewaffnete Gruppe der Huthi schränkt die Arbeit humanitärer Hilfsorganisationen weiterhin willkürlich ein. Die internationalen Finanzmittel für humanitäre Hilfe waren 2020 nur noch halb so hoch wie im Vorjahr. Dies verschärft auch die Nahrungsmittelknappheit und wirkt sich negativ auf die Trinkwasser-, Sanitär- und Gesundheitsversorgung der Bevölkerung aus (AI 7.4.2021). Der Konflikt und die Unsicherheit haben die jemenitische Wirtschaft schwer getroffen. Ein erfolgreicher Wiederaufbau nach dem Konflikt wird kostspielig sein - und da die inländischen Gesamteinnahmen weniger als 5% des BIP betragen (Weltbank, 2020) - muss ein Großteil dieses Geldes aus privaten und externen Quellen kommen. Eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung erfordert einen effektiven und gesunden Privatsektor, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (UNDP 23.11.2021). Jemen ist seit Jahren das ärmste Land im Nahen Osten und Nordafrika (MENA) und leidet nun unter der schlimmsten humanitären Krise der Welt. Die seit 2015 anhaltenden Kämpfe haben die Wirtschaft des Landes verwüstet, was zu einer ernsten Ernährungsunsicherheit geführt und wichtige Infrastrukturen zerstört hat. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren im Jahr 2021 24,3 Millionen Menschen von Hunger und Krankheit bedroht, von denen etwa 14,4 Millionen akut auf Hilfe angewiesen waren. Hinzu kommt, dass etwa 20,5 Millionen Jemeniten ohne sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen leben und 16,2 Millionen Menschen aufgrund von Ernährungsunsicherheit und Unterernährung dringend Nothilfe benötigen. Wellen von Währungsabwertungen in den Jahren 2018 und 2019 haben zu einem anhaltenden Inflationsdruck auf den jemenitischen Riyal geführt, der die humanitäre Krise noch verschärft hat. Die Unterbrechung der Infrastruktur und der Finanzdienstleistungen hat die Tätigkeit des Privatsektors stark beeinträchtigt. Für mehr als 40% der jemenitischen Haushalte ist es schwierig auch nur das Nötigste an Lebensmitteln zu kaufen. Die Armut verschlimmert sich; während sie vor der Krise fast die Hälfte der rund 29 Millionen Einwohner des Jemen betraf, sind jetzt schätzungsweise drei Viertel davon betroffen - 71% bis 78% der Jemeniten. Frauen sind stärker betroffen als Männer (WB 1.11.2021). Im Rahmen einer Geberkonferenz am 23.9.2021 wurden weitere 600 Mio. USD an Hilfsmitteln für Jemen zugesagt, nachdem im März bereits 1,7 Mrd. USD an Hilfszusagen zusammengekommen waren. Benötigt werden laut UN-Generalsekretär Guterres jedoch insgesamt 3,85 Mrd. USD, somit bleibt nach wie vor eine Finanzierungslücke von über 1 Mrd. USD bestehen. Das Welternährungsprogramm hat im Rahmen der Geberkonferenz berichtet, dass Nahrungsmittelhilfen im Oktober 2021 gekürzt werden müssen, sollten keine neuen Gelder bereitgestellt werden. 16 Mio. Menschen im Jemen wären dann von Hunger bedroht (BN 27.9.2021). Die Machtergreifung der Huthi, die Luftangriffe der Koalition und die aktiven Kämpfe machten es für humanitäre Organisationen aufgrund von Sicherheitsrisiken schwierig, viele Gebiete des Landes zu erreichen (USDOS 30.3.2021). Auch die Versorgungssituation in den Flüchtlingscamps verschlechtert sich zusehends (BN 29.11.2021).“

Das Auswärtige Amt beschreibt die Auswirkungen des Konflikts auf Zivilpersonen im Jemen, insbesondere in der Region Aden, in seiner Anfragebeantwortung gegenüber dem Verwaltungsgericht Leipzig (AA vom 18.6.2020) wie folgt:

„Bereits vor Ausbruch des aktuellen Konflikts vor fünf Jahren war Jemen das ärmste Land auf der Arabischen Halbinsel und im weltweiten·Vergleich einer der am wenigsten entwickelten Staaten. Die Verfügbarkeit von Lebensmitteln ist in Aden gegeben und im Vergleich zu anderen Landesteilen relativ gut. Jedoch sind diese in ganz Jemen für viele nicht oder nur sehr eingeschränkt bezahlbar. Die Wasser- und Stromversorgung fällt häufig aus, auch die medizinische Versorgung befindet sich auf dem Niveau eines armen Entwicklungslandes. Die Situation hat sich durch die Verbreitung von Covid-19, insbesondere in Aden, weiter verschärft. Humanitäre Hilfe spielt in allen Landesteilen eine große Rolle. Angesichts des politisch und geographisch bedingten leichteren Zugangs zu den südlichen Landesteilen Jemens und insbesondere der Region Aden, werden dort Bedürftige mit großer Wahrscheinlichkeit erreicht. In Jemen herrscht weit verbreitete Arbeitslosigkeit, auch in der Region Aden.

(…)

Allgemein gilt, dass sich der Arbeitsmarkt sowohl für ungelernte als auch für ausgebildete Arbeitskräfte schwierig darstellt. Soziale Sicherungssysteme bestehen nicht. Vielmehr ist es üblich, dass Arbeitslose innerhalb der Großfamilien finanziell aufgefangen und mitfinanziert werden. Zuverlässige Statistiken bzgl. der Arbeitslosenzahlen gibt es für Jemen nicht. Im Süden verdingen sich junge Männer, die keine Arbeit finden, häufig bei Milizen.“

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führte zur humanitären Lage in den „briefing notes“ vom 4. Juli 2022 aus:

„Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) hat am 26.06.22 bekannt gegeben, die Lebensmittelrationen in Jemen weiter reduzieren zu müssen. Für rd. fünf Mio. Personen werden nun weniger als 50% der empfohlenen täglichen Nahrungsmittelzufuhr bereitgestellt, weitere acht Mio. Menschen erhalten ab sofort nur noch 25% der täglichen empfohlenen Ration. Als Grund gab das WFP u.a. die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sowie fehlende Finanzierung an. Bereits im Januar 2022 musste das WFP aufgrund unzureichender Finanzierung die Lebensmittelrationen in Jemen reduzieren (vgl. BN v. 03.01.22).“

In den „briefing notes“ des Bundesamts vom 18. Juli 2022 heißt es weiter:

„Am 15.07.22 teilte Hossam Elsharkawi, Regionaldirektor der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC), mit, dass sich die humanitäre Situation seit dem Waffenstillstand nicht verbessert habe. Dies liege vor allem an den gestiegenen Preisen für Lebensmittel, welche durch den Krieg in der Ukraine verursacht werden. Er machte in diesem Zusammenhang auch auf die vulnerable Lage von Kindern aufmerksam, welche zum Teil bereits aufgrund von Mangelernährung sterben. Zudem wies er auf die aktuelle Problematik von verunreinigtem Trinkwasser hin; dies sei seit einigen Wochen eines der Hauptprobleme in Jemen.“

Ausgehend von diesen schlechten humanitären Bedingungen kann der Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Lebensverhältnisse ein Abschiebungsverbot nach Art. 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK beanspruchen. Dabei geht das Gericht zwar nicht davon aus, dass derzeit für jeden alleinstehenden jungen Mann eine Rückkehr in den Jemen zwangsläufig aus humanitären Gründen ausgeschlossen ist. Im Einzelfall des Klägers ist jedoch zum einen zu berücksichtigen, dass die tatsächlichen Chancen für ihn, eine zur Finanzierung seines Existenzminimums auskömmliche (Gelegenheits-)Arbeit zu finden, als sehr schlecht einzustufen sind. Zu den bereits allgemein schlechten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt tritt nämlich hinzu, dass der Kläger an einer Ellenbogenverletzung leidet, die er sich nach seiner ärztlicherseits nicht in Zweifel gezogenen Einlassung aufgrund von Splittern infolge eines Luftangriffs in der Nähe seiner Wohnung zugezogen hat und aufgrund derer er seinen linken Arm nur stark eingeschränkt - etwa nicht bis zum Mund - bewegen kann (vgl. Schreiben des Krankenhauses … … vom 18. und vom 19.1.2022), weshalb insbesondere eine Vielzahl an körperlichen (Gelegenheits-)Arbeiten für den Kläger von vornherein nicht in Betracht kommen. So ist ihm nach den Erkenntnissen in der mündlichen Verhandlung etwa seine früher - sporadisch - ausgeübte Tätigkeit als Mofa-Taxifahrer nicht mehr möglich. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass er in seinem Heimatland seine Ehefrau zu versorgen hat und im Anschluss an seine neunjährige Schulausbildung kaum berufstätig gewesen ist. Seine wirtschaftliche Lage im Heimatland hat der Kläger als sehr schlecht beschrieben und bereits vor dem Bundesamt ausgeführt, dass manchmal weder Lebensmittel noch Strom und Wasser zur Verfügung standen. Der Kläger wäre in besonderem Maße - was auch anhand der Erkenntnismittel bestätigt wird - auf die Hilfe seiner Familie angewiesen, die nur noch teilweise im Jemen lebt. Nach den Erkenntnissen in der mündlichen Verhandlung kann der Kläger eine solche Hilfe jedoch nicht erwarten. Sein Bruder, der in der Vergangenheit maßgeblich zum Lebensunterhalt beigetragen hat, lebt mittlerweile in Deutschland. Den im Jemen verbliebenen Verwandten gehe es - so führte der Kläger in der mündlichen Verhandlung näher aus - sehr schlecht; sie litten an Hunger und Ausfall der Infrastruktur. Zudem habe sein im Jemen verbliebener Bruder eine Behinderung und könne nichts Wesentliches zum Familienunterhalt beitragen. Da die wirtschaftliche Situation im Jemen landesweit vergleichbar schlecht ist, kann der Kläger auch nicht auf einen anderen Landesteil verwiesen werden (vgl. VG Leipzig, U.v. 26.1.2022 - 8 K 1880/19.A - unveröffentlicht), wo er erst recht keine ausreichende familiäre Unterstützung erwarten könnte. Die ihm im Ergebnis der Gesamtbetrachtung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit drohende Verelendung kann auch nicht durch denkbare Rückkehrhilfen kompensiert werden. Da im hiesigen Einzelfall somit ausreichende Anhaltspunkte für eine Verelendung und existenzielle Bedrohung des Klägers bestehen, ist von einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auszugehen.

2. Aus den genannten Gründen war der Klage in ihrem reduzierten Umfang stattzugeben und die Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbots zu verpflichten.

Die dieser Verpflichtung entgegenstehenden Ziffern 4 bis 6 des Ablehnungsbescheids des Bundesamts vom 28. April 2022 waren aufzuheben.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

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