Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 9 S 412/15

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 2. März 2015 - 12 K 857/15 - geändert. Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller beim schriftlichen Teil des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung am 10.03.2015 und am 11.03.2015 einen Nachteilsausgleich in der Form zu gewähren, dass es dem Antragsteller ermöglicht wird, die schriftliche Prüfung in einem separaten Raum bei leiser Hintergrundmusik abzulegen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen tragen der Antragsteller zu 1/4 und der Antragsgegner zu 3/4.

Der Streitwert des Verfahrens wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts für beide Rechtszüge auf jeweils 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthafte sowie fristgerecht eingelegte (§ 147 Abs. 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 und 2 VwGO) Beschwerde des Antragsgegners hat in der Sache wie aus dem Tenor ersichtlich Erfolg.
Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, dem Antragsteller bei dem schriftlichen Teil des Ersten Abschnitts der Ärztlichen Prüfung am 10.03.2015 und am 11.03.2015 einen Nachteilsausgleich in der Form von drei Pausen von jeweils 15 Minuten Dauer nach dem Ablauf von je 60 Prüfungszeitminuten zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners ist die Gewährung von Nachteilsausgleich im Grundsatz nicht zu beanstanden; mit Erfolg rügt er indes die vom Verwaltungsgericht konkret festgesetzte Art und Weise.
Für sein Begehren auf Nachteilsausgleich wegen akuter Beeinträchtigungen aufgrund eines Tinnitus hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Mit Blick auf die Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG steht dem § 44a VwGO ebenso wenig entgegen wie das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache (vgl. auch Senatsbeschluss vom 26.08.1993 - 9 S 2023/93 -, NVwZ 1994, 598).
Nach § 10 Abs. 7 Satz 3 ÄApprO in der Fassung vom 27.06.2002 (BGBl. I S. 2405) mit nachfolgenden Änderungen sind die besonderen Belange behinderter Prüflinge zur Wahrung ihrer Chancengleichheit bei der Durchführung der Prüfungen zu berücksichtigen. Der durch Art. 3 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Grundsatz der Chancengleichheit gebietet, Behinderungen eines Prüflings, die außerhalb der in der Prüfung zu ermittelnden wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit liegen, in der Prüfung nach Möglichkeit - ggf. auch durch die Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen - auszugleichen (BVerwG, Urteil vom 30.08.1977 - VII C 50.76 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 85 m.w.N.; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 249).
Schriftliche Prüfungen dienen dem Nachweis von Kenntnissen und Fähigkeiten der Prüflinge. Ihr Ergebnis wird bestimmt von deren geistiger Leistungsfähigkeit. Der Prüfling steht dabei im Wettbewerb mit anderen Prüflingen. Das Prüfungsverfahren muss deshalb gewährleisten, dass die geistige Leistungsfähigkeit der Prüflinge unter gleichen Bedingungen zum Ausdruck kommen kann. Liegt bei einem Prüfling eine dauerhafte krankheitsbedingte Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit vor, so ist dieser Umstand Bestandteil seines durch die Prüfung zu belegenden Leistungsbildes. Wenn sich eine persönlichkeitsbedingte generelle Einschränkung der psychischen Leistungsfähigkeit im Prüfungsergebnis negativ niederschlägt, so wird dadurch dessen Aussagewert nicht verfälscht, sondern in besonderer Weise bekräftigt (BVerwG, Beschluss vom 13.12.1985 - 7 B 210.85 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 223; Senatsbeschluss vom 02.04.2009 - 9 S 502/09 -, juris; Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O., Rn. 258). Ist ein Prüfling etwa aus psychischen Gründen nicht in der Lage, dem Zeitdruck in einer schriftlichen Prüfung standzuhalten, so ist es mit der Chancengleichheit aller Prüflinge nicht zu vereinbaren, ihm dafür einen Ausgleich in Form einer Prüfungszeitverlängerung zu gewähren. Dadurch würde das Leistungsbild des Prüflings zu seinen Gunsten und zu Lasten der im Wettbewerb stehenden Mitprüflinge verfälscht. Ist hingegen das Unvermögen, innerhalb der festgesetzten Prüfungszeit oder unter regulären Prüfungsbedingungen die gestellte Aufgabe zu bewältigen, nicht in der geistigen Leistungs(un)fähigkeit des Prüflings begründet, sondern hat dies körperliche Ursachen, so hat der Prüfling grundsätzlich Anspruch auf Ausgleich dieses Nachteils (Bayr. VGH, Beschluss vom 03.12.1997 - 7 B 95.2853 -, BeckRS 1997, 19384). Insoweit sind regelmäßig Behinderungen der Darstellungsfähigkeit gegeben, die dem Prüfling lediglich den Nachweis der möglicherweise durchaus vorhandenen Befähigung erschweren und deren Auswirkungen auch im späteren Berufsleben ausgeglichen werden können (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 30.08.1977 und Senatsbeschluss vom 26.08.1993, jeweils a.a.O.). Typische Fälle hierfür sind etwa Sehbehinderungen, Knochenbrüche oder Lähmungen bzw. Fehlbildungen von Gliedmaßen. In diesen Fälle gebieten es das Grundrecht der Berufsfreiheit des Prüflings und der Grundsatz der Chancengleichheit, den Nachteil der Darstellungsfähigkeit insoweit auszugeichen, dass die Prüfungsbedingungen des Prüflings denen nicht behinderter Mitprüflinge entsprechen, er mithin in der Lage ist, seine geistige Leistungsfähigkeit so wie diese darzulegen (Bayr. VGH, Beschluss vom 03.12.1997, a.a.O.).
Dabei ist es für die Frage des Nachteilsausgleichs nicht von entscheidender Bedeutung, ob es sich um ein Dauerleiden handelt, also um eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustands, die die Einschränkung der Leistungsfähigkeit trotz ärztlicher Hilfe bzw. des Einsatzes medizinisch-technischer Hilfsmittel nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft bedingt. Der Nachteilsausgleich ist vom Rücktritt von der Prüfung wegen Prüfungsunfähigkeit zu trennen. Im Zusammenhang mit dem Rücktritt von der Prüfung kann grundsätzlich nur die zeitweise Beeinträchtigung des physischen und psychischen Zustands eines Prüflings und nicht etwa ein Dauerleiden zur Anerkennung einer Prüfungsunfähigkeit im Rechtssinne führen (BVerwG, Beschluss vom 03.07.1995 - 6 B 34.95 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 352). Demgegenüber sind auch wesentliche dauerhafte Behinderungen des Prüflings, die auf gesundheitlichen Störungen oder körperlichen Gebrechen beruhen, in der Prüfung nach Möglichkeit auszugleichen (Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 249). Dies erhellt auch der Umstand, dass es allgemein anerkannt ist, dass etwa Schreibzeitverlängerungen angemessenen Umfangs auch bei dauerhaften schweren körperlichen Behinderungen zu gewähren sind (vgl. dazu Hessischer VGH, Beschluss vom 03.01.2006 - 8 TG 3292/05 -, juris m.w.N.).
Entscheidend ist dabei, ob das (Dauer-)leiden als generelle Einschränkung der Leistungsfähigkeit das normale und reguläre Leistungsbild des Prüflings bestimmt. Der prüfungsrechtliche Grundsatz der Chancengleichheit gebietet und rechtfertigt die Rücksichtnahme auf persönliche Belastungen des Prüflings nicht, wenn der Prüfling (auch) erweisen soll, dass er mit solchen Schwierigkeiten fertig wird und mithin die Grundvoraussetzungen der durch die Prüfung zu ermittelnden Eignung für einen bestimmten Beruf besitzt (Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 258). Dementsprechend gehören Prüfungsstress und Examensängste, die zumeist in den spezifischen Belastungen der Prüfungen wurzeln und denen jeder Kandidat je nach Konstitution mehr oder weniger ausgesetzt ist, im Allgemeinen zum Risikobereich des Prüflings (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.06.2003 - 14 A 624/01 -, juris). Handelt es sich dagegen um - auch temporäre - Behinderungen, die nicht die aktuell geprüften Befähigungen betreffen, sondern nur den Nachweis der vorhandenen Befähigung erschweren und die durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können, ist dies in der Prüfung in Form eines Nachteilsausgleichs angemessen zu berücksichtigen. Dabei sind die maßgeblichen Feststellungen nicht nach allgemeinen Krankheitsbildern, sondern stets individuell zu treffen und auf dieser Grundlage zu bewerten (Niehues/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 259).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist hier nicht in jeder Hinsicht zweifelsfrei, ob bei dem Antragsteller derzeit eine körperliche Beeinträchtigung vorliegt, die einen Nachteilsausgleich rechtfertigt. In der von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigung vom 19.01.2015 werden ein psychosomatischer Symptomenkomplex, Innenohrschwerhörigkeit beidseitig und ein Tinnitus diagnostiziert. Der Antragsteller sei in neurologischer Behandlung (Antidepressiva), darunter sei der Tinnitus zurzeit ausreichend kompensiert. Ungeachtet dessen hat das Gesundheitsamt der Stadt D. in der Stellungnahme vom 25.02.2015 eine erhebliche Beeinträchtigung des Antragstellers durch Ohrgeräusche festgestellt und ausgeführt, dass die Ohrgeräusche in der Stille der Prüfungssituation störten und insbesondere die Konzentration und Leistungsfähigkeit beeinträchtigten. Diese amtsärztlichen Feststellungen sind mit der Beschwerde nicht erschüttert worden, die auch nicht ergibt, dass die Ohrgeräusche als dem normalen Leistungsbild des Antragstellers zugehörig unberücksichtigt zu lassen wären. Von Konzentrationsstörungen, die auf mit der Prüfungssituation typischerweise verbundenen Anspannungen und Belastungen beruhen und die grundsätzlich hinzunehmen sind (vgl. dazu Niehurs/Fischer/Jeremias, a.a.O. Rn. 256 m.w.N.), kann nicht die Rede sein. Der Senat geht im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf der Grundlage der amtsärztlichen Feststellungen vielmehr davon aus, dass bei dem Antragsteller, der seit geraumer Zeit an einer Innenohrschwerhörigkeit leidet, seit Sommer 2014 ein Tinnitus besteht und noch keine hinreichende Gewöhnung eingetreten ist. Mit Blick darauf liegt bei ihm derzeit eine körperliche Beeinträchtigung vor, die ihm den Nachweis seiner Befähigung erschwert. Ob bzw. inwieweit die Ohrgeräusche daneben möglicherweise auch auf in der Psyche des Antragstellers liegenden Ursachen beruhen, kann hier offen bleiben. Dem Antragsteller kann auch nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass es sich hierbei um ein Dauerleiden handele. Ungeachtet des Umstands, dass es, wie dargelegt, nicht zulässig ist, einen Nachteilsausgleich allein wegen der Dauerhaftigkeit des Leidens zu versagen, bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller durch den Tinnitus auf Dauer in Prüfungssituationen beeinträchtigt sein könnte. Das Verwaltungsgericht hat in nicht zu beanstandender Weise darauf hingewiesen, dass der Antragsteller durch eine ein- bis zweijährige Therapie lernen kann, den Tinnitus zu ignorieren. Danach bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die akut bei dem Antragsteller vorliegenden Beeinträchtigungen ein auf unabsehbare Zeit andauerndes und nicht oder nur ungenügend therapiefähiges Leiden darstellten. Nach alledem hat der Antragsteller einen Anspruch auf Ausgleich des derzeit bestehenden Nachteils.
Mit Erfolg wendet sich der Antragsgegner indes gegen die vom Verwaltungsgericht zuerkannte Art des Nachteilsausgleichs. Dieser darf nicht zu einer Überkompensation führen, die ihrerseits wieder einen Verstoß gegen die Chancengleichheit bedingen würde. Eine Überkompensation aber läge vor, wenn dem Antragsteller zum Ausgleich der bestehenden Beeinträchtigung drei Pausen von jeweils 15 Minuten Dauer gewährt würden. Eine derartige Verlängerung der Bearbeitungszeit würde ihm einen Vorteil gegenüber den Mitprüflingen verschaffen. Sie ist auch nicht erforderlich, da eine ausreichende Kompensation nach der amtsärztlichen Stellungnahme vom 25.02.2015 auch dadurch erfolgen kann, dass dem Antragsteller ermöglicht wird, die Prüfung in einem separaten Raum mit leiser Hintergrundmusik zu absolvieren. Diese Kompensationsmöglichkeit ist vor dem Hintergrund der prüfungsrechtlichen Situation und des Beschwerdebilds des Antragstellers angemessen, ohne dass zu befürchten steht, dass dadurch eine Verfälschung des durch die Prüfung zu belegenden Leistungsbildes eintreten würde. Die Amtsärztin führt aus, dass in der Atmosphäre eines separaten Raums mit Hintergrundmusik eine stetige Ablenkung vom Ohrgeräusch gegeben und eine Schreibzeitverlängerung nicht erforderlich wäre. Der Antragsteller hat erstinstanzlich eingeräumt, dass die Frage, welche konkrete Lautstärke und ob eine bestimmte Art von Hintergrundmusik erforderlich sei, durch eine vorherige Probe der Prüfungssituation vor Ort geklärt werden könne. Der Senat teilt diese Auffassung zumal mit Blick darauf, dass der Antragsgegner dem Antragsteller die Möglichkeit eröffnet, die Hintergrundmusik selbst zu bestimmen.
10 
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
11 
Die Streitwertfestsetzung und -änderung beruht auf § 63 Abs. 3, § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Hauptsache weitgehend vorweggenommen wird, ist der Ansatz des vollen Auffangstreitwerts angemessen (vgl. Nr. 1.5 der Empfehlungen des Streitwertkatalogs 2013, VBlBW 2014, Sonderbeilage zu Heft 1).
12 
Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO sowie § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG hinsichtlich der Streitwertfestsetzung).

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