Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 11 S 1973/18

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 27. August 2018 - 9 K 5862/18 - geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Regierungspräsidium Karlsruhe mitzuteilen, dass eine Abschiebung der Antragstellerin nicht vor dem Ablauf eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart im Widerspruchsverfahren gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 8. Mai 2018 erfolgen darf.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die in der Verfügung der Antragsgegnerin vom 8. Mai 2018 enthaltene Abschiebungsandrohung wird bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Stuttgart im Widerspruchsverfahren gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 8. Mai 2018 angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Der Streitwert für das Verfahren in beiden Rechtszügen wird unter Änderung der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts von Amts wegen auf jeweils 3.750,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht es abgelehnt, einstweiligen Rechtsschutz gegen die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 8. Mai 2018 ausgesprochene Versagung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu gewähren, wobei es - von seiner Rechtsauffassung her konsequenterweise - offen gelassen hat, ob Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO oder § 123 Abs. 1 VwGO zu gewähren ist. Im Übrigen hat es den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung abgelehnt. Mit den im Beschwerdeverfahren dargelegten Gründen wird die inhaltliche Richtigkeit des angegriffenen Beschlusses erfolgreich in Zweifel gezogen. Die deshalb insoweit erforderliche Prüfung des Rechtsschutzbegehrens führt auf seine Begründetheit.
1. a) Das Verwaltungsgericht hat u.a. entschieden, dass die Antragstellerin nicht berechtigt sei, den begehrten Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einzuholen, und dass auch kein Anspruch auf Erteilung des begehrten Titels unter Absehen vom Visumsverfahren in Anwendung von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG bestehe. Die Antragstellerin sei ohne das erforderliche Visum in das Bundesgebiet eingereist. Die Kammer habe erhebliche Zweifel daran, dass die Anspruchsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erfüllt seien. Denn dafür bedürfe es einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen den Ehegatten. Es bedürfe eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes, wenn auch nicht zwingend in demselben Haus oder in derselben Wohnung. Eine bloße Begegnungsgemeinschaft liege hingegen vor, wenn die Hausgemeinschaft aufgelöst sei und lediglich ein gelegentlicher Umgang bestehe. Bestehe eine häusliche Gemeinschaft nicht, liege eine aufenthaltsrechtlich schützenswerte Lebensgemeinschaft nur noch dann vor, wenn erkennbare Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die gewählte Form der Beziehung mit den für eine familiäre Lebensgemeinschaft notwendigen Voraussetzungen eines intensiven persönlichen Kontakts und der zwischen den Eheleuten bestehenden Verbundenheit vergleichbar sei. Davon könne bei der Antragstellerin und ihrem Ehemann nicht ausgegangen werden. Der Ehemann befinde sich seit 15. April 2016 in Untersuchungshaft. Die Kammer habe keine Anhaltspunkte dafür, dass eine familiäre Lebensgemeinschaft jemals bestanden habe. Die Ehe sei am 5. Dezember 2017 geschlossen worden. Weder sei bekannt noch sei vorgetragen, dass die Eheleute einmal in einer gemeinsamen Wohnung gelebt oder einmal gemeinsam gemeldet gewesen seien. Es fehlten ausreichende Hinweise für eine über eine Begegnungsgemeinschaft hinausgehende Beziehung der Antragstellerin mit ihrem Ehemann, die eine familiäre Lebensgemeinschaft begründeten.
b) Die Antragstellerin macht hiergegen geltend, dass sie in einer ehelichen Lebensgemeinschaft mit ihrem Ehemann lebe. Seit Juni 2017 besuche sie ihren Ehemann in regelmäßigen Abständen, mindestens vier Mal im Monat in der 250 km entfernten Justizvollzugsanstalt, was sie durch Vorlage von Besuchsscheinen der Justizvollzugsanstalt belegte. Die Antragstellerin sei der einzige Sozialkontakt für ihren Ehemann. Beide hätten in Serbien kurz gemeinsam gelebt. Dort habe ihr Ehemann sie kennengelernt. Ein Verweis auf das Visumsverfahren sei hier wegen der ungewissen Dauer unzumutbar. Die Antragstellerin habe bereits am 8. März 2018 einen Termin zur Durchführung eines Visumsverfahrens beantragt, ohne dass sie seit der Registrierung etwas weiteres zur Terminvergabe gehört habe.
Die Landeshauptstadt Stuttgart habe am 18. Juli 2018 mitgeteilt, dass nach Rücksprache mit dem Regierungspräsidium Karlsruhe bis zum rechtskräftigen Abschluss des Eilverfahrens keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen durchgeführt werden sollten. Es sei auch bestätigt, dass die Landeshauptstadt Stuttgart der Fortführung des anhängigen Eilverfahrens durch die Stadt Sindelfingen zustimme. Die Landeshauptstadt Stuttgart habe eindeutig auf die Durchführung von Abschiebungsmaßnahmen in Form einer Zusicherung verzichtet. Hinzu komme, dass die Antragsgegnerin die ausgesprochene Abschiebungsandrohung für erledigt erklärt habe, so dass die Zuständigkeit für den Erlass einer neuen Abschiebungsandrohung nunmehr bei der Landeshauptstadt Stuttgart oder dem Regierungspräsidium Karlsruhe liege.
c) Dieser Vortrag zieht den Ansatz des Verwaltungsgerichts, bereits der Tatbestand des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sei nicht erfüllt, erfolgreich in Zweifel.
aa) Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ist dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Neben dem - hier nicht zweifelhaften - formal-rechtlichen Bestehen einer Ehe bedarf es einer beabsichtigten oder bestehenden familiären Lebensgemeinschaft, denn nach § 27 Abs. 1 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige zum Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 des Grundgesetzes erteilt und verlängert.
Zentral für die Feststellung einer familiären Lebensgemeinschaft ist der bei beiden Eheleuten bestehende Wille, die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet tatsächlich herzustellen oder aufrechtzuerhalten, die Beweislast für das Bestehen dieses Herstellungswillens als einer inneren Tatsache trägt der Ausländer (BVerwG, Urteil vom 30.03.2010 - 1 C 7.09 -, BVerwGE 136, 222 Rn. 15). Prägendes Element der Lebensgemeinschaft ist die wechselseitige innere Bindung der Ehegatten (BGH, Urteil vom 07.11.2001 - XII ZR 247/00 -, BGHZ 149, 140 (142)). Bei der vorzunehmenden Bewertung der familiären Beziehungen verbietet sich eine schematische Einordnung und Qualifizierung als entweder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich schutzwürdige Lebens- und Beistandsgemeinschaft oder aber als bloße Begegnungsgemeinschaft ohne aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen (BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002 - 2 BvR 231/00 -, NVwZ 2002, 849 (850); so auch zuletzt VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 05.07.2018 - 11 S 1224/18 -, AuAS 2018, 182). Denn die Vielfalt der von Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ausgestaltungsmöglichkeiten der familiären Lebensgemeinschaft lässt es nicht zu, schematische oder allzu enge Mindestvoraussetzungen für das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu formulieren (BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 - 1 B 25.12 -, BayVBl 2014, 56 Rn. 3). Das Bestehen einer häuslichen Gemeinschaft ist daher weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Feststellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft (vgl. BGH, Urteile vom 14. Juni 1978 - IV ZR 164/77 -, NJW 1978, 1810 und vom 27.04.2016 - XII ZB 485/14 -, BGHZ 210, 124 Rn. 13). Der vorübergehende oder auch dauerhafte Verzicht auf die häusliche Gemeinschaft wie etwa bei Ehen von zwei an weit entfernten Orten beschäftigten Ehegatten, - wie hier - bei der Inhaftierung eines Ehegatten oder bei der dauerhaften stationären Unterbringung eines schwerst erkrankten oder pflegebedürftigen Ehegatten muss also kein Indiz für das Nichtvorliegen der erforderlichen familiären Lebensgemeinschaft sein (vgl. Jaeger/Hamm, in Johannsen/Henrich, Familienrecht, 6. Aufl. 2015, § 1565 BGB Rn. 14). Je mehr die Ehegatten bei der Ausgestaltung ihrer Ehe auf einen gemeinsamen, regelmäßigen Lebensmittelpunkt verzichten (müssen), desto wichtiger ist für die Feststellung einer bestehenden ehelichen Lebensgemeinschaft das Vorhandensein anderer Indizien für die gewollte gemeinsame Lebensgestaltung. Im Zentrum steht die Frage nach dem nachweisbar betätigten Willen, mit der Partnerin bzw. dem Partner als wesentlicher Bezugsperson ein gemeinsames Leben zu führen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 22.05.2013 - 1 B 25.12 -, BayVBl 2014, 56 Rn. 4).
bb) Ausgehend von diesen Maßstäben zieht die Beschwerdebegründung die Richtigkeit des angegriffenen Beschlusses erfolgreich in Zweifel. Denn das Verwaltungsgericht hat zwar zunächst zutreffend ausgeführt, dass es nicht zwingend auf das Bestehen der häuslichen Gemeinschaft ankommen kann, um dann aber letztlich (BA S. 10) doch eine Abgrenzung zwischen einer auf eine familiäre Lebensgemeinschaft führende „Lebens- und Hausgemeinschaft“ und einer diesen Schluss nicht tragenden Begegnungsgemeinschaft vorzunehmen. Da es damit einen zu engen, mit den Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG nicht im Einklang stehenden Maßstab für die Prüfung des Bestehens einer familiären Lebensgemeinschaft angelegt hat und die tragende Begründung des angegriffenen Beschlusses die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht rechtfertigt, hat der Senat nunmehr umfassend zu prüfen, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.04.2016 - 11 S 393/16 -, InfAuslR 2016, 281).
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2. Die Rechte der Antragstellerin sind bezogen auf das Titelerteilungsverfahren durch die aus dem Tenor ersichtliche einstweilige Anordnung zu sichern (a)). Darüber hinaus ist der Antragstellerin einstweiliger Rechtsschutz durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung zu gewähren, weil nach summarischer Prüfung bislang vollständig offen ist, ob die Antragsgegnerin diese nicht konkludent aufgehoben hat oder jedenfalls verbindlich erklärt hat, von dieser keinen Gebrauch mehr machen zu wollen (b)).
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a) aa) Einstweiliger Rechtsschutz zur Sicherung des Aufenthalts der Antragstellerin während des Verfahrens um die Erteilung des von ihr begehrten Aufenthaltstitels ist ihr im Verfahren nach § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO und nicht etwa im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren ((1)). Ihr Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in Anwendung von § 88 VwGO dem entsprechend auszulegen bzw. umzudeuten ((2)).
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(1) Statthafte Antragsart im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist hier nach § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
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Die vorläufige Sicherung des Aufenthaltsrechts während des anhängigen Verwaltungs- und auch Gerichtsverfahrens um die Erteilung eines Aufenthaltstitels hat dann in einem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu erfolgen, wenn der Antrag auf Erteilung dieses Titels zum Entstehen einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG geführt hat und diese durch die Verbescheidung des Antrags wieder erloschen ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.11.2007 - 11 S 2364/07 -, InfAuslR 2008, 81). Hier ist im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zu entscheiden, ob die dem Antragsteller durch die Ablehnung seines Antrags genommene Rechtsposition wieder eingeräumt werden soll (Hoppe, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. i.E., § 80 Rn. 8). Löste der Behördenantrag eine solche Fiktionswirkung nicht aus, ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 bis Abs. 3 VwGO eine Aussetzung der Abschiebung allein aus verfahrensrechtlichen Gründen zu erstreben (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand Oktober 2015, § 81 AufenthG Rn. 175).
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Dem Antrag der Antragstellerin vom 13. März 2018 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kam eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG nicht zu. Sie hielt sich zu keinem Zeitpunkt mit einem Aufenthaltstitel im Bundesgebiet auf. Ihr Aufenthalt war zum Zeitpunkt der Antragstellung auch nicht rechtmäßig im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Denn auch wenn der Aufenthalt im Schengenraum am 13. März 2018 aufgrund von Art. 20 SDÜ, Art. 6 SGK, Art. 1 Abs. 2 VO (EG) Nr. 539/2001 iVm Anhang II zu dieser Verordnung sowie § 15 AufenthV legal gewesen sein könnte, war er nicht rechtmäßig im Sinne des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Denn der Antrag eines nach der VO (EG) Nr. 539/2001 von der Visumspflicht befreiten Ausländer auf Erteilung eines Aufenthaltstitels, der bereits bei der Einreise einen Daueraufenthalt anstrebt, ist mangels Einreise mit dem erforderlichen Visum nicht rechtmäßig. Nur wenn der Ausländer subjektiv die zeitliche Grenze von 90 Tagen nicht überschreiten will, dann sich aber ein Sinneswandel während des Aufenthalts ergibt und nunmehr ein Daueraufenthalt angestrebt wird, führt ein entsprechender Antrag auf die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 3 AufenthG (Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 12. Aufl. 2018, § 81 AufenthG Rn. 37). Dies zugrunde gelegt spricht vor dem Hintergrund, dass die Antragstellerin bei ihrer letzten Einreise in den Schengenraum am 15. Januar 2018 bereits verheiratet gewesen ist, eine tatsächliche Vermutung dafür, dass sie bei ihrer Einreise beabsichtigte, in Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erstreben, ohne dass sie diese Vermutung widerlegt hätte. Daher war ihr Aufenthalt im Zeitpunkt der Antragstellung nicht rechtmäßig im Sinne des § 81 Abs. 3 AufenthG.
15 
(2) Es ist rechtlich unschädlich, dass die Antragstellerin dem Wortlaut nach Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hat.
16 
Anträge im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sind nach § 88 VwGO sachdienlich auszulegen und gegebenenfalls umzudeuten, um das sich aus dem Antrag zu erkennende Rechtsschutzziel angemessen abzubilden. Dies gilt im ausländerrechtlichen Verfahren um die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis umso mehr, weil hier bereits die Abgrenzung der Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO und § 123 VwGO nur rudimentär im Gesetz abgebildet ist und es sich um eine der wenigen Ausnahmen handelt, bei der trotz der in der Hauptsache statthaften Verpflichtungsklage entgegen § 80 Abs. 1 VwGO dennoch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO einschlägig sein kann. Hier gebietet die verfassungsrechtlich garantierte Rechtsbehelfsklarheit, die erfordert, dem Rechtssuchenden den Weg zur Überprüfung und Abänderung von behördlichen aber auch gerichtlichen Entscheidungen klar vorzuzeichnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -, BVerfGE 107, 395 (414)) zur Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzes eine umfassende und großzügige Handhabung von § 88 VwGO. Dies gilt unabhängig davon, ob der Antragsteller anwaltlich vertreten ist oder nicht. Denn die Gerichte sind bei der Auslegung und Anwendung der Vorschriften über einstweiligen Rechtsschutz gehalten, der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen und die im Einzelfall gebotene Prüfungsintensität auch unabhängig von der konkreten Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes zu gewährleisten (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 18.06.2018 - 11 S 816/18 -, juris Rn. 4).
17 
bb) Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gegen die richtige Antragsgegnerin gerichtet. Die Sicherung des Aufenthalts für die Dauer des Verfahrens um die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist gegenüber dem Rechtsträger der für die Erteilung zuständigen Ausländerbehörde und nicht gegenüber dem Rechtsträger der Behörde, die für die Aussetzung und / oder Vollziehung der Abschiebung zuständig ist, zu verfolgen (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.09.2011 - 11 S 2438/11 -, InfAuslR 2011, 443). Die nach dem Umzug der Antragstellerin nunmehr örtlich zuständige untere Ausländerbehörde hat mit Schreiben vom 17. Juli 2018 der Fortführung des Verwaltungsverfahrens durch die Antragsgegnerin nach § 3 Abs. 3 LVwVfG wirksam zugestimmt.
18 
cc) Die Antragstellerin hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund für die begehrte einstweilige Anordnung glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).
19 
(1) Zwar steht ihr ein - gebundener - Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels schon deswegen nicht zu, weil sie bei ihrer letzten Einreise im Januar 2018 nicht mit dem erforderlichen Visum in Sinne des § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG eingereist ist. Denn hier spricht jedenfalls eine starke und bislang nicht widerlegte Vermutung dafür, dass die damals bereits verheiratete Antragstellerin den Zuzug nach Deutschland im Wege der Familienzusammenführung erstrebte. Entgegen ihrer Rechtsauffassung ist sie auch nicht durch § 39 Satz 1 Nr. 3 oder Nr. 5 AufenthV vom Visumsverfahren befreit. Denn der Begriff der Einreise in § 39 Satz 1 Nr. 3 AufenthV bezieht sich auf die letzte Einreise der privilegierten Person in das Bundesgebiet (BVerwG, Urteil vom 11.01.2011 - 1 C 23.09 -, BVerwGE 138, 353 Rn. 25). Die Anspruchsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sind hier, wenn sie denn entstanden sein sollten, jedenfalls vor und nicht nach der letzten Einreise entstanden. Ebenso setzt § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV voraus, dass der Erwerb des Anspruchs auf Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis während des Zeitraums, während dessen die Abschiebung des Ausländers ausgesetzt war, erfolgte.
20 
(2) Indes hat die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch zur Sicherung ihres Aufenthalts bezogen auf die Entscheidung, im Ermessenswege von der Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum abzusehen (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) und ihr also den Aufenthaltstitel nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG zu erteilen, glaubhaft gemacht.
21 
Dabei ist die gesetzgeberische Wertung zu berücksichtigen, dass außerhalb des Anwendungsbereichs der § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG eine Aufenthaltsmöglichkeit für die Dauer des Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtlich nicht gewährleistet ist und der Ausländer darauf verwiesen ist, die Ansprüche auf Erteilung eines Titels vom Ausland zu verfolgen und durchzusetzen. Gleichzeitig ist dann aber in den Fällen, in denen das Gesetz eine Ausnahme von der Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum vorsieht (§ 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG), dem Ausländer insoweit eine im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sicherungsfähige Rechtsposition eingeräumt. Grundsätzlich gilt hier, dass vorläufiger Rechtsschutz nur dann gewährt werden kann, wenn keine Zweifel am Anspruch auf die Titelerteilung bestehen und keine tragfähigen Ermessensgesichtspunkte ersichtlich sind, die eine Ablehnung rechtfertigen können (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.09.2012 - 11 S 1608/12 -, InfAuslR 2013, 30). Weitergehend kann ein Anordnungsanspruch aber auch in Betracht kommen, wenn und solange verbleibende, letzte Zweifel am Bestehen eines Titelerteilungsanspruchs auf einer nicht hinreichenden Sachaufklärung durch die zuständige Ausländerbehörde beruhen und bzw. oder die Tragfähigkeit möglicher Ermessensgesichtspunkte (hier bei der Anwendung von § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) aufgrund einer unzureichenden Sachaufklärung durch die Ausländerbehörde im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht zu beurteilen ist.
22 
Davon ausgehend hat hier eine Sicherungsanordnung zugunsten der Antragstellerin begrenzt auf den Zeitraum bis zum Abschluss des Widerspruchsverfahrens zuzüglich der Rechtsbehelfsfrist zu ergehen.
23 
(a) Die Antragstellerin erfüllt voraussichtlich die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sowie die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 AufenthG.
24 
Nach den oben unter 1. c) dargestellten Maßstäben steht es einer familiären Lebensgemeinschaft nicht zwingend entgegen, dass sich einer der Ehegatten in Untersuchungshaft befindet, da eine häusliche Gemeinschaft nicht erforderlich ist, sondern die wechselseitige innere Bindung der Ehegatten im Zentrum der Betrachtung zu stehen hat. Ausgehend davon, dass sich die Antragstellerin und ihr Ehemann in Serbien kennengelernt haben und somit einen - wenn auch kurzen - Zeitraum des Zusammenfindens und -lebens in Freiheit hatten, bestehen nicht schon prima facie schwerwiegende Bedenken gegen die von beiden Ehegatten im Verfahren vorgetragene wechselseitige innere Bindung. Die sehr regelmäßigen, zeitintensiven Besuchskontakte während der andauernden Untersuchungshaft sind ein nicht nur unerhebliches Indiz dafür, dass die beteuerte innere Bindung wechselseitig auch tatsächlich besteht. Da die Antragsgegnerin unmittelbar und ohne Beachtung des ihr eingeräumten Ermessens aus § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG jegliche Ermittlung zu den Anspruchsvoraussetzungen in das Visumsverfahren verlagern wollte, hat sie schon nicht nach möglichen, gegenläufigen Indizien, etwa durch eine persönliche Anhörung der Antragstellerin gesucht. Eine entsprechende Aufklärungspflicht der Verwaltungsbehörde liegt hier auch nicht fern, da gerade bei Lebensgemeinschaften ohne gemeinsamen räumlichen Lebensmittelpunkt ein fälschliches Behaupten einer wechselseitigen inneren Bindung der Ehegatten relativ leicht möglich ist.
25 
Nicht geklärt werden muss, ob in Fällen, in denen die Ehegatten sich erst während des Aufenthalts eines der beiden in einer Haftanstalt kennenlernen, eine familiäre Lebensgemeinschaft im Sinne des § 27 AufenthG begründet werden kann oder ob der erstmalige Zuzug ins Bundesgebiet zu einem in Haft (ohne offenen Vollzug) befindlichen Familienmitglied während der Dauer der Inhaftierung nicht zur Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft führen kann (so AVwV 27.1.4). Allerdings dürfte sich hier mit Blick auf Art. 6 GG jede schematisierende Betrachtungsweise verbieten.
26 
Hinsichtlich der allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG ergeben sich aus der Aktenlage derzeit keine Bedenken.
27 
(b) Das von der Antragsgegnerin bislang nicht ausgeübte Ermessen aus § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist voraussichtlich nicht zugunsten der Antragstellerin auf Null reduziert. Indes stehen hier gewichtige grundrechtliche Positionen gegenüber, so dass ihr ausnahmsweise ein sicherungsfähiger Anspruch auf ordnungsgemäße Ausübung des Ermessens und ein Anspruch auf Verbleib im Bundesgebiet bis zur Ausübung des Ermessens zusteht.
28 
Denn es steht hier im Raum, dass die Antragstellerin der wesentliche Sozialkontakt des in Untersuchungshaft befindlichen Ehemannes ist. Da die Ausländerbehörde keinerlei aktenkundige Ermittlungen zur möglichen weiteren Dauer des Strafverfahrens des Ehemanns unternommen hat, ist das Gewicht dieser aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG Rechtsposition beider Ehegatten derzeit für den Senat nicht abzuschätzen. Allerdings gibt es auch wesentliche Erwägungen, die für eine Ermessensentscheidung zu Lasten der Antragstellerin sprechen können. So musste der Antragstellerin bereits bei der Eheschließung und auch bei ihrer letzten Einreise bewusst sein, dass sie eines Visums zum Familiennachzug bedarf. Immerhin hat sie sich auch vor der Antragstellung im Bundesgebiet bereits um einen Termin bei der zuständigen Auslandsvertretung bemüht. Hier sprechen bereits generalpräventive Erwägungen für eine Durchsetzung des Visumsverfahrens. Dieses kann auch dazu dienen, potentiellen Zweifeln an der gewollten wechselseitigen inneren Bindung der Ehegatten nachzugehen, wobei hier wiederum auch in die Erwägung einzustellen ist, ob dies effektiver durch die Auslandsvertretung oder die Antragsgegnerin erfolgen kann. Entscheidend für die Bejahung des Anordnungsanspruchs ist aber das für den Senat derzeit aufgrund der fehlenden Sachverhaltsermittlung nicht genau zu bestimmende Gewicht der Bedeutung des Kontakts zwischen der Antragstellerin und ihrem Ehemann während der Untersuchungshaft. Diese Sachverhaltsermittlung wird ebenso wie die Ermessensentscheidung im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden können, so dass die Aussetzung der Abschiebung nur bis zur möglichen Bestandskraft des Bescheids erfolgen muss. Sollte die Entscheidung zu Lasten der Antragstellerin ausgehen, steht ihr erneut die Möglichkeit offen, um gerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen.
29 
dd) Ein Anordnungsgrund steht der Antragstellerin aufgrund der für den 27. September 2018 geplanten Abschiebung zu. Auf die Bedeutung der E-Mail der Landeshauptstadt Stuttgart, die dort nach Rücksprache mit dem Regierungspräsidium Karlsruhe bestätigte, dass bis zum rechtskräftigen Abschluss des Eilverfahrens keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen eingeleitet werden, kommt es insoweit nicht an. Indes merkt der Senat an, dass es jedenfalls zweifelhaft erscheint, ob es mit dem Rechtstaatsprinzip vereinbar sein kann, wenn die zuständige untere Ausländerbehörden einerseits den Rechtsschein setzt, es drohe einstweilen keine Abschiebung, und andererseits die für die Durchführung der Abschiebung zuständige Mittelbehörde sich offenbar in keiner Weise an solche Erklärungen gebunden fühlt, obwohl diese Erklärung ausweislich der genannten E-Mail nach Rücksprache mit ihr in die Welt gesetzt wird.
30 
b) Jedenfalls zur Klarstellung ordnet der Senat auch die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 8. Mai 2018 an. Die Antragsgegnerin hatte im Schriftsatz vom 20. Juli 2018 erklärt, die Abschiebungsandrohung habe sich erledigt. Mit Schriftsatz vom 19. September 2018 hat sie nunmehr erklärt, diese Äußerung beruhe auf einer fehlerhaften Einschätzung und Erfassung des Sachverhalts. Sie sei fälschlicherweise von einer Ausreise der Antragstellerin ausgegangen. Es wird im Widerspruchsverfahren zu klären sein, ob in der Äußerung zur Erledigung konkludent eine Aufhebungsentscheidung bezüglich der Abschiebungsandrohung enthalten ist. Auch wird, falls dies zu verneinen sein sollte, zu klären sein, ob von einer Abschiebungsandrohung, die die Erlassbehörde für erledigt erklärt hat, ohne Weiteres dennoch Gebrauch gemacht werden darf. Zur Sicherung der Rechte der Antragstellerin ordnet der Senat die aufschiebende Wirkung daher mit der gleichen Befristung wie hinsichtlich der einstweiligen Anordnung an.
31 
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
32 
4. Die Entscheidung über die Streitwertfestsetzung und -änderung folgt aus § 63 Abs. 2 und 3, § 47 sowie §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 und 2 GKG. Nach der ständigen Festsetzungspraxis des Senats ist der Streitwert bei Aufenthaltstiteln zum Familiennachzug mit Rücksicht auf die generelle Zulassung zur Erwerbstätigkeit nach § 27 Abs. 5 AufenthG im Hauptsacheverfahren mit 7.500,- EUR zu bemessen (vgl. Senatsbeschluss vom 24.04.2017 - 11 S 1967/16 -, juris).
33 
Eine Reduzierung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auf die Hälfte findet nur dann nicht statt, wenn dem Betroffenen bereits zuvor legal eine längere Aufenthaltsperspektive eröffnet worden war (vgl. Senatsbeschluss vom 31.01.2011 - 11 S 2517/10 -, juris). Dieses war hier jedoch nicht der Fall.
34 
Der Beschluss ist unanfechtbar.

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