Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 8 S 2441/18

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 18. September 2018 - 7 K 4174/18 - wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf EUR 10.000,-- festgesetzt.

Gründe

 
Die nach § 146 Abs. 1 VwGO statthafte und auch sonst zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die in der Beschwerdebegründung innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat grundsätzlich beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), geben zu einer Änderung der vom Verwaltungsgericht zum Nachteil des Antragstellers getroffenen Abwägungsentscheidung keinen Anlass.
Mit der angefochtenen Baugenehmigung vom 30.05.2018, gegen deren sofortige Vollziehbarkeit sich der Antragsteller wendet, genehmigte das Regierungspräsidium Tübingen der beigeladenen Stadt die „Errichtung von zwei Neubauten in Modulbauweise zur Anschlussunterbringung für Flüchtlinge und Asylbegehrende mit bis maximal 104 Unterkunftsplätzen in 20 (2 Gebäude mit je 10) wohnungsähnlichen Nutzungseinheiten sowie 4 Einheiten zur Gemeinschaftsnutzung („Gemeinschaftsraum“, „Betreuung“, sonstige Nebenräume), befristet auf 10 Jahre, mit Nebengebäuden für Müll und Fahrräder“. Dabei wurde von verschiedenen Festsetzungen des Bebauungsplans „Schättlisberg“ (2. Teiländerung) der Beigeladenen vom 23.11.2005 befreit. Hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung war bereits im Bauvorbescheid des Regierungspräsidiums Tübingen vom 26.07.2017 eine Befreiung von der Festsetzung in Nr. 1.1 „FGB = Flächen für den Gemeinbedarf (§ 9 Abs. 1 Nr. 5 BauGB) mit der Zweckbestimmung „Schule, Kindergarten“ erteilt worden.
Das Verwaltungsgericht hat, soweit dies vom Senat zu prüfen ist, bei der von ihm nach Maßgabe der §§ 80a Abs. 3 Satz 2, 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung dem (besonderen) öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung und dem öffentlichen Interesse der Beigeladenen, von der kraft Gesetzes (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB) sofort vollziehbaren Baugenehmigung sofort Gebrauch machen zu dürfen, zu Recht Vorrang vor dem privaten Interesse des Antragstellers gegeben, von deren Wirkungen vorläufig verschont zu bleiben.
Auch nach Auffassung des Senats dürfte die Baunachbarklage des Antragstellers aller Voraussicht nach erfolglos bleiben, da die angefochtene Baugenehmigung vom 30.05.2018 nicht gegen auch dem Schutz des Antragstellers zu dienen bestimmte Vorschriften verstoßen dürfte.
Zwar spricht einiges dafür, dass die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 1 BauGB für die bereits im Bauvorbescheid vom 27.07.2017 ausgesprochene, infolge der dagegen erhobenen Klage des Antragstellers ihm gegenüber noch nicht bestandskräftig gewordene Befreiung tatsächlich nicht vorlagen. Denn die im Bebauungsplan „Schättlisberg“ (2. Teiländerung) getroffene Festsetzung einer Fläche für den Gemeinbedarf mit der Zweckbestimmung „Schule, Kindergarten“ gehörte nach der Planbegründung (Nr. 2, S. 32) zur planerischen Konzeption des Bebauungsplans. So war es ein Planungsziel der Beigeladenen, auf einer größeren Fläche im Plangebiet nicht nur den Bau eines (inzwischen errichteten) Kindergartens, sondern auch den einer Grundschule mit Erweiterungsoptionen vorzusehen. Diese Infrastruktureinrichtungen sollten nicht nur dem Plangebiet, sondern auch den angrenzenden Wohngebieten dienen. Für die Schule war bereits ein Architekturwettbewerb durchgeführt worden, dessen Ergebnis auch dem Bebauungsplan zugrunde lag. Insofern spricht einiges dafür, dass die seinerzeit erteilte Befreiung, mit der abweichend davon ein Vorhaben zur Anschlussunterbringung von Flüchtlingen zugelassen werden sollte, die Grundzüge der Planung berührte (vgl. Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB <01.02.2018> § 9 Rn. 65). Nicht von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der vom Verwaltungsgericht hervorgehobene Umstand, dass ein Vorhaben zur Anschlussunterbringung als Anlage für soziale Zwecke - gleichermaßen wie eine Schule - zumal aufgrund des zumindest wohnähnlichen Charakters (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 23.02.2017 - 3 S 149/17 -, VBlBW 2017, 457) in einem allgemeinen Wohngebiet zulässig sein mag (vgl. § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO). Denn für das Baugrundstück wurde gerade kein Baugebiet, insbesondere auch kein allgemeines Wohngebiet, sondern eine davon zu unterscheidende Fläche für den Gemeinbedarf mit der Zweckbestimmung „Schule (mit Sporthalle), Kindergarten“ festgesetzt (vgl. hierzu BVerwG, Beschl. v. 23.12.1997 - 4 BN 23.97 -, Buchholz 406.11 § 9 BauGB Nr. 86; Urt. v. 30.06.2004 - 4 CN 7.03 -, BVerwGE 121, 192). Ob mit der Befristung des Vorhabens bzw. der Baugenehmigung ein Berührtsein der Grundzüge der Planung vermieden wurde, wovon das Regierungspräsidium bei Erteilung der Baugenehmigung ausging (vgl. dazu OVG Hamburg, Beschl. v. 17.06.2013 - 2 Bs 151/13 -, NVwZ-RR 2013, 990; Nds. OVG, Beschl. v. 12.06.2014 - 1 ME 67/14 -, BauR 2014, 1746; BayVGH, Beschl. v. 29.09.2014 – 2 CS 14.1786 -, juris), erscheint jedenfalls bei einem Zeitraum von 10 Jahren zweifelhaft (vgl. auch § 246 Abs. 12 BauGB). Jedoch führte allein der Umstand, dass Grundzüge der Planung berührt sind, noch nicht dazu, dass (auch) die Baugenehmigung der verwaltungsgerichtlichen Aufhebung unterläge.
Inwieweit § 31 Abs. 2 BauGB Drittschutz vermittelt, ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt: Bei einer fehlerhaften Befreiung von einer nachbar s c h ü t z e n d e n Festsetzung führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung; dies gilt auch dann, wenn unzutreffend davon ausgegangen wurde, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Eine fehlerhafte Befreiung von einer n i c h t nachbarschützenden Festsetzung kann dem Nachbar hingegen einen Abwehranspruch nur dann vermitteln, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat (vgl. zum Ganzen BVerwG, Beschl. v. 08.07.1998 - 4 B 64.98 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 153; Urt. v. 19.09.1986 -, 4 C 8.84 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71).
Ein Verstoß gegen eine nachbarschützende Vorschrift kommt hier, wie das Verwaltungsgericht im Ergebnis zutreffend erkannt hat, nicht in Betracht, sodass eine Nachbarrechtsverletzung nur nach den Maßstäben angenommen werden könnte, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme entwickelt hat (vgl. BVerwG, Beschl. v. 08.07.1998, a.a.O.).
Soweit die Beschwerde demgegenüber einen Verstoß gegen den sog. Gebietserhaltungsanspruch geltend macht, geht dies von vornherein fehl. Ein solcher Anspruch wurde aus der Erkenntnis heraus entwickelt, dass bauplanungsrechtlicher Nachbarschutz auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses beruht. Weil und soweit der Eigentümer eines Grundstücks in dessen Ausnutzung öffentlich-rechtlichen Beschränkungen unterworfen ist, kann er deren Beachtung grundsätzlich auch im Verhältnis zum Nachbarn durchsetzen. Hauptanwendungsfall sind die Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung. Durch sie werden die Planbetroffenen im Hinblick auf die Nutzung ihrer Grundstücke zu einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten des eigenen Grundstücks wird dadurch ausgeglichen, dass auch die anderen Grundeigentümer diesen Beschränkungen unterworfen sind. Soweit die Gemeinde durch die Baunutzungsverordnung zur Festsetzung von Baugebieten ermächtigt wird, schließt die Ermächtigung deshalb ein, dass die Gebietsfestsetzung grundsätzlich nachbarschützend sein muss. Insofern kommt Baugebieten kraft Bundesrechts grundsätzlich nachbarschützende Funktion zu (vgl. zum Ganzen BVerwG, Urt. v. 16.09.1993 - 4 C 28.91 -, BVerwGE 94, 151; Urt. v. 23.08.1996 - 4 C 13.94 -, BVerwGE 101, 364; Beschl. v. 02.02.2000 - 4 B 87.99 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 163). Ein Baugebiet wurde hier jedoch für das Baugrundstück nicht festgesetzt, sodass auch für einen daran anknüpfenden G e b i e t s erhaltungs- oder einen etwaigen „G e b i e t s prägungserhaltungsanspruch“ (vgl. BayVGH, Beschl. v. 09.10.2012 - 2 ZB 11.2653 -, juris, Rn.7) kein Raum ist. Insofern kann die Beschwerde auch aus dem - vereinzelt gebliebenen und den bundesrechtlichen Ansatz verlassenden - Urteil des 3. Senats des beschließenden Gerichtshofs vom 04.05.2001 - 3 S 597/00 - (VBlBW 2001, 487; anders bereits Urt. v. 03.07.2012 - 3 S 321/11 -, VBlBW 2013, 61) nichts für sich herleiten, wonach Festsetzungen eines Bebauungsplans über die Art der baulichen Nutzung einen subjektiv-öffentlichen Anspruch nicht nur eines im selben Baugebiet (vgl. etwa VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.10.2003 - 5 S 1692/02 -, VBlBW 2004, 181 u. Urt. v. 29.06.1994 - 5 S 2286/93 -, VBlBW 1995, 30; Beschl. v. 23.08.1996 - 10 S 1492/96 -, BRS 58 Nr. 160; BayVGH, Beschl. v. 25.08.1997 - 2 ZB 97.00681 -, BRS 59 Nr. 66; OVG NW, Beschl. v. 28.11.2002 - 10 B 1618/02 -, BRS 6 Nr. 168; OVG Saarland, Urt. v. 14.07.2016 - 2 A 46/15 -, juris, Rn. 42), sondern jedes im Plangebiet ansässigen Nachbarn auf Wahrung der G e b i e t s art begründeten.
Ein vergleichbares wechselseitiges Austauschverhältnis, das ebenfalls kraft Bundesrechts bauplanungsrechtlichen Nachbarschutz begründete, besteht zwischen dem Eigentümer von Grundstücken, für die eine Fläche für den Gemeinbedarf festgesetzt ist, und den Grundeigentümern eines benachbarten allgemeinen Wohngebiets entgegen der Beschwerde nicht (vgl. Senatsbeschl. v. 14.10.1999 - 8 S 2396/99 -, VBlBW 2000, 193; OVG NW, Beschl. v. 28.11.2002, a.a.O.; Hamb. OVG, Beschl. v. 25.03.2014 - 2 Bs 43/14 -, NVwZ-RR 2014, 719 u. Beschl. v. 30.01.1992 - Bs II 137/91 -, NVwZ-RR 1993, 108). Für eine Vergleichbarkeit fehlt es schon daran, dass es für die Festsetzung einer Fläche für den Gemeinbedarf weder im Baugesetzbuch noch in der Baunutzungsverordnung Nutzungsbeschränkungen wie in einem Baugebiet gibt (vgl. Hamb. OVG, Beschl. v. 30.01.1992, a.a.O.). Dass es sich vorliegend um eine größere Teilfläche des Plangebiets handelt, vermag daran nichts zu ändern.
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Dies bedeutet freilich nicht, dass es in einem solchen Fall - jenseits von Bundesrecht - nicht auch übergreifenden Nachbarschutz geben kann (vgl. Senatsbeschl. v. 14.10.1999, a.a.O.; BVerwG, Beschl. v. 10.01.2013 - 4 B 48.12 -, BauR 2013, 934). Insofern ist die Gemeinde jedoch im Grundsatz frei. Ob sie eine Festsetzung auch zum Schutze Dritter trifft, darf sie regelmäßig selbst entscheiden (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.09.1993, a.a.O.). Für die Festsetzungen eines Bebauungsplans ist daher jeweils im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob und inwieweit - hinsichtlich des Grades der nachbarlichen Beeinträchtigung - die jeweilige Festsetzung Drittschutz vermitteln will (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.09.1986 - 4 C 8.84 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71; Beschl. v. 09.10.1991 - 4 B 137.91 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 104).
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Aus dem - städtebaulichen - Ziel, im Planungsgebiet auch den Bau eines Kindergartens und einer Grundschule mit Erweiterungsoptionen vorzusehen, die nicht nur „dem Plangebiet, sondern auch den angrenzenden Wohngebieten dienen“, lässt sich entgegen der Beschwerde kein Wille des Plangebers entnehmen, den im Plangebiet ansässigen (und ihm benachbarten) Eigentümern Drittschutz zu vermitteln (vgl. zur Festsetzung einer Grünfläche nach § 9 Abs. 1 Nr. 15 BauGB allerdings Senatsurt. v. 06.02.1987 - 8 S 1920/86 -, VBlBW 1987, 464), vielmehr bringt diese Wendung gerade zum Ausdruck, dass die von der Zweckbestimmung erfassten Infrastruktureinrichtungen (in ihrem Einzugsbereich) der Allgemeinheit dienen sollen (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.06.2004, a.a.O.). Inwiefern mit der ihrer Verwirklichung dienenden Festsetzung gleichzeitig ein „Schutz“ der Planbetroffenen vor Beeinträchtigungen bezweckt werden sollte, die für sie mit einer anderen Bodennutzung verbunden wären (vgl. Senatsbeschl. v. 14.10.1999, a.a.O.), was bei einer Festsetzung nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 BauGB eher fernliegt, zeigt die Beschwerde nicht auf. Ihre gegenteilige Auffassung liefe letztlich auf einen - grundsätzlich nicht bestehenden - allgemeinen Planvollzugsanspruch bzw. darauf hinaus, dass die Eigentümer benachbarter Grundstücke - vorbehaltlich einer Planänderung - das der Festsetzung zugrundeliegende besondere Nutzungsinteresse der Allgemeinheit durchsetzen könnten (vgl. Hamb. OVG, Beschl. v. 25.03.2014, a.a.O.).
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Inwiefern schließlich mit der möglicherweise fehlerhaften Befreiung gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen worden sein könnte, lässt sich dem Beschwerdevorbringen ebenso wenig entnehmen. Die Ausführungen zum Anspruch auf Aufrechterhaltung der typischen Prägung eines Baugebiets (vgl. § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO) und der Hinweis auf einen den Planbetroffenen vermittelten Vertrauensschutz führen auf keine Unzumutbarkeit oder Rücksichtslosigkeit des im Befreiungswege zugelassenen Vorhabens. Der geltend gemachte Vertrauensschutz könnte lediglich bei einer - hier jedoch nicht in Rede stehenden - Planänderung als abwägungserhebliches Interesse an der Beibehaltung des bisherigen planungsrechtlichen Zustandes Berücksichtigung finden (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 20.08.1992 - 4 NB 3.92 -, Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 69).
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 63 Abs. 2, 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 9.7.1 und 1.5 des Streitwertkatalogs 2013).
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Der Beschluss ist unanfechtbar.

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