Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 11 S 1109/18

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 26. März 2018 - 1 K 3234/16 - wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.

Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

 
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist zulässig, insbesondere nach § 124a Abs. 4 Satz 1 und 4 VwGO rechtzeitig gestellt und begründet worden. Er ist jedoch unbegründet und bleibt deshalb ohne Erfolg.
I.
Die Beklagte wendet sich mit ihrem Zulassungsantrag gegen ein Urteil, das sie zur Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU an den Kläger verpflichtet hat.
Der Kläger ist algerischer Staatsangehöriger. Er reiste im Jahr 1992 erstmals in das Bundesgebiet ein. Nach Aufenthalten in Spanien und seiner dortigen Festnahme wurde er im April 2009 für Zwecke der Strafvollstreckung nach Deutschland ausgeliefert. Noch im gleichen Monat folgte ihm seine damalige Lebensgefährtin, eine italienische Staatsangehörige, nach Deutschland. Im November 2009 brachte diese ein Kind zur Welt, für das der Kläger die Vaterschaft anerkannte und mit seiner Lebensgefährtin das gemeinsame Sorgerecht besitzt.
Im Oktober 2010 wies das Regierungspräsidium Karlsruhe den Kläger aus, lehnte die Erteilung einer von ihm beantragten Aufenthaltserlaubnis ab und drohte ihm die Abschiebung nach Spanien oder Algerien an. Das dagegen vom Kläger angestrengte Klageverfahren ruhte zunächst, nachdem die Vollstreckung einer Reststrafe zugunsten des Klägers zur Bewährung ausgesetzt worden war. Währenddessen brachte die italienische Lebensgefährtin im August 2012 ein weiteres gemeinsames Kind zur Welt. Nach Wiederanrufung des aufenthaltsrechtlichen Klageverfahrens hob das Verwaltungsgericht die Ausweisung und die Abschiebungsandrohung mit Urteil vom 25. Februar 2015 auf, wies die Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab und stellte - auf einen entsprechenden Hilfsantrag des Klägers hin - fest, dass er freizügigkeitsberechtigt ist. Es führte zur Begründung aus, der Kläger sei gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU als Familienangehöriger seines ersten italienischen Kindes freizügigkeitsberechtigt; insbesondere bestehe auch eine familiäre Lebensgemeinschaft mit dem Kind. Das Urteil ist rechtskräftig.
Daraufhin beantragte der Kläger bei der Beklagten die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 FreizügG/EU. Die Beklagte lehnte diesen Antrag im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass sie die Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht teile. Der Kläger sei ihres Erachtens nicht freizügigkeitsberechtigt; die Voraussetzungen hierfür hätten nie vorgelegen. An die Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung sei sie nicht gebunden, weil sie - als Rechtsträgerin der nunmehr zuständigen unteren Ausländerbehörde - an dem ersten Verfahren nicht beteiligt gewesen sei.
Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies das Regierungspräsidium Karlsruhe zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, es selbst bzw. das Land Baden-Württemberg als sein Rechtsträger sei zwar an die Rechtskraft des vorangegangenen Urteils gebunden, denn es sei im Unterschied zur Beklagten Beteiligter des vorangegangenen Rechtsstreits gewesen. Im Widerspruchsverfahren müsse deshalb davon ausgegangen werden, dass der Kläger freizügigkeitsberechtigt sei. Allerdings habe der Kläger (noch) nicht alle erforderlichen Unterlagen nach § 5a Abs. 2 FreizügG/EU vorgelegt, weshalb sein Widerspruch „derzeit“ aus formalen Gründen unbegründet sei.
Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte mit hier angefochtenem Urteil vom 26. März 2018 unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltskarte nach § 5 FreizügG/EU auszustellen. Die Beklagte strebt gegen dieses Urteil die Zulassung der Berufung an.
II.
Die Berufung ist weder wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO - nachfolgend 1.) noch wegen Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO - 2.) zuzulassen.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit eines Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegen vor, wenn unter Berücksichtigung der vom Antragsteller dargelegten Gesichtspunkte die Richtigkeit des angefochtenen Urteils weiterer Prüfung bedarf, ein Erfolg der angestrebten Berufung nach den Erkenntnismöglichkeiten des Zulassungsverfahrens mithin möglich ist (BVerwG, Beschluss vom 10.03.2004 - 7 AV 4.03 -, juris, Rn. 8). Hier ist zu berücksichtigen, dass dem auf eine summarische Prüfung angelegten Zulassungsverfahren nicht die Funktion zukommt, das Berufungsverfahren vorwegzunehmen (BVerfG, Beschluss vom 16.07.2013 - 1 BvR 3057/11 -, BVerfGE 134, 106 <119 Rn. 40> = juris Rn. 40; Kammerbeschluss vom 06.06.2018 - 2 BvR 350/18 -, juris, Rn. 16).
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Gemessen hieran, begründen die von der Beklagten in ihrer Antragsbegründung aufgezeigten Gesichtspunkte keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils.
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a) Ohne Erfolg macht die Beklagte zunächst geltend, dem Kläger sei schon deshalb keine Aufenthaltskarte auszustellen, weil er nicht freizügigkeitsberechtigt sei. Die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers steht nämlich aufgrund der Rechtskraft des Urteils vom 25. Februar 2015 fest, mit dem das Verwaltungsgericht eben diese Berechtigung ausdrücklich festgestellt hat. Die Rechtskraft bindet auch, wenn und soweit sich die entschiedene Frage in einem späteren Verfahren mit anderem Streitgegenstand als Vorfrage - wie hier für die Ausstellung der begehrten Aufenthaltskarte - stellt (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 22.09.2016 - 2 C 17.15 -, juris, Rn. 10; Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 121 Rn. 11), und ist durch das Gericht von Amts wegen zu beachten (Rennert, a.a.O., § 121 Rn. 8).
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Soweit die Beklagte sich mit umfangreicher Begründung dagegen wendet, dass die rechtskräftige Feststellung des Verwaltungsgerichts gleichsam von vornherein unzutreffend sei, gehen ihre Ausführungen deshalb ins Leere. Denn nicht nur das Land Baden-Württemberg als Beteiligter des vorangegangenen Verfahrens, sondern auch die Beklagte als Trägerin der (nunmehr) zuständigen unteren Ausländerbehörde ist hier an die Rechtskraft der Entscheidung vom 25. Februar 2015 gebunden (nachfolgend (1)). Eine Feststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU, dass die Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung entfallen wären oder nicht vorlägen, hat die Beklagte mit ihrem Ablehnungsbescheid in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat, nicht getroffen (2)).
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(1) Dem Wortlaut des § 121 Nr. 1 VwGO zufolge binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erfasst die Bindung beteiligter Behörden (vgl. § 61 Nr. 3 VwGO) auch ihre Rechtsträger, denn die Behörden handeln als Beteiligte des Verwaltungsstreitverfahrens in gesetzlicher Prozessstandschaft für die Körperschaft, der sie angehören (BVerwG, Urteil vom 28.11.2002 - 2 C 25.01 -, juris, Rn. 17; vgl. Funke-Kaiser, in: Quaas/Zuck/ders., Prozesse in Verwaltungssachen, 3. Auflage 2018, § 3 Rn. 824; Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 121 Rn. 24). Gebunden ist neben dem Rechtsträger der Ausgangsbehörde ferner der (ggf. abweichende) Rechtsträger der Widerspruchsbehörde, denn der in Anspruch genommene Rechtsträger der Ausgangsbehörde verteidigt im Prozess vor dem Verwaltungsgericht nicht nur die eigene Entscheidung, sondern zugleich in Art einer Prozessstandschaft auch diejenige der Widerspruchsbehörde (BGH, Urteil vom 07.02.2008 - III ZR 76/07 -, juris, Rn. 13 (m.w.N.); Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 121 Rn. 24). Dafür spricht auch, dass es sich bei Ausgangsverwaltungsakt und Widerspruchsbescheid jedenfalls im Fall des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO um eine prozessrechtliche Einheit handelt (vgl. Stuhlfauth, in: Bader u.a., VwGO, 7. Auflage 2018, § 113 Rn. 7 und § 121 Rn. 9). Schließlich nehmen die Kommunen dann, wenn ihnen das Landesrecht eine Aufgabe als Pflichtaufgabe nach Weisung überträgt, eine Aufgabe der Landesverwaltung wahr und unterliegen demgemäß der Fachaufsicht des Landes.
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Dies rechtfertigt es, auch in einem solchen Fall die Beteiligtenstellung der Gemeinde in Prozessen, die die Wahrnehmung solcher Aufgaben betreffen, als Form der Prozessstandschaft für das Land anzusehen und folglich die Rechtskraft auf das Land auszudehnen (für das Ausländergesetz HessVGH, Beschluss vom 20.07.2004 - 9 TG 1346/04 -, juris, Rn. 23; Clausing, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 35. EL September 2018, § 121 Rn. 96; Stuhlfauth, in: Bader u.a., VwGO, 7. Auflage 2018, § 121 Rn. 9; anders außerhalb des sogen. übertragenen Wirkungskreises: Bayer. VGH, Beschluss vom 15.07.2003 - 8 ZB 03.990 -, juris, Rn. 5). Entsprechendes hat das Bundesverwaltungsgericht für die weisungsabhängige Tätigkeit eines Landes bei der Auftragsverwaltung nach Art. 85 GG für den Bund bereits entschieden (BVerwG, Beschluss vom 09.01.1999 - 11 C 8.97 -, juris, Rn. 4 (m.w.N.)), und auch aus der jeweiligen Regelungsmaterie selbst kann sich die Bindung eines anderen Rechtsträgers an ein feststellendes Urteil ergeben (vgl. für das Staatsangehörigkeitsrecht BVerwG, Urteil vom 23.02.1993 - 1 C 16.87 -, juris). Zudem besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresse hinsichtlich von Vorfragen im Einbürgerungs- und Aufenthaltsrecht, wenn der bisher Beklagte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren etwa infolge Wohnortwechsels des Klägers unzuständig geworden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 31.03.1987 - 1 C 32.84 -, juris, Rn. 34, und Beschluss vom 21.06.1993 - 1 C 16.93 -, juris), was impliziert, dass der Feststellungsausspruch (auch) gegenüber dem Rechtsträger der später zuständig gewordenen Behörde Wirkungen entfaltet.
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Nichts Anderes als im Falle der Rechtskraftbindung im Verhältnis zwischen Ausgangs- und Widerspruchsbehörde kann im umgekehrten Fall gelten, in dem das Land - wie hier - unstreitig an die Rechtskraft des vorausgegangenen Urteils gebunden ist und am nachfolgenden Verfahren als Widerspruchsbehörde beteiligt war. Die Beklagte nimmt die Aufgaben der unteren Ausländerbehörde im Sinne des FreizügG/EU für das Land als Pflichtaufgabe nach Weisung wahr (vgl. § 71 Abs. 1 AufenthG, § 2 Satz 1 Nr. 3 AAZuVO i.V.m. § 15 Abs. 2 LVG; zur Anwendbarkeit von § 71 Abs. 1 AufenthG im Bereich des FreizügG/EU vgl. BVerwG, Urteil vom 16.07.2015 - 1 C 22.14 -, juris, Rn. 13) und unterliegt hierbei der Fachaufsicht des Landes (§ 21 Abs. 1 und 2 LVG), dessen Fachaufsichtsbehörden ihr gegenüber insoweit über ein unbeschränktes Weisungsrecht verfügen und bei Nichtbefolgung von Weisungen die erforderlichen Maßnahmen an ihrer Stelle treffen können (vgl. § 21 Abs. 3 LVG, § 4 Abs. 4 AAZuVO). Das Land hat die Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung für die Vorfrage der Freizügigkeitsberechtigung seiner Entscheidung im Widerspruchsverfahren auch zutreffend zugrunde gelegt. Da das Land gegenüber der Beklagten schon zuvor unbeschränkt weisungsbefugt war, ist es sachlich nicht zu rechtfertigen, die Wirkung der Rechtskraft erst im Widerspruchsverfahren zur Geltung kommen zu lassen und somit den Kläger gleichsam „ins Widerspruchsverfahren zu zwingen“, um den vorangegangenen Urteilsspruch durchzusetzen. Dies gilt zumal, da der Beklagten in diesem Bereich keine eigenen Rechte zukommen, in denen sie durch die vorstehende Betrachtungsweise verletzt sein könnte.
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Im Bereich des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts als Pflichtaufgaben nach Weisung bindet die Rechtskraft eines Feststellungsurteils, das gegenüber dem Land als beteiligtem Rechtsträger der zunächst zuständigen Behörde ergangen ist, im sachlichen Umfang ihrer Wirkungen nach alledem auch den ggf. hiervon abweichenden Rechtsträger einer später zuständigen Ausländerbehörde desselben Landes (vgl. in diesem Sinne verallgemeinernd auch Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 121 Rn. 38 (Bindung „im Verhältnis zwischen Land und Gemeinde“)).
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(2) Ein Verlustfeststellungsverfahren nach § 6 FreizügG/EU hat die Beklagte bisher unstreitig weder eingeleitet noch abgeschlossen, weshalb ihr Einwand, gegen den Kläger seien zwischenzeitlich weitere (neue) Ermittlungs- und Strafverfahren anhängig, von vornherein keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angegriffenen Urteils begründet.
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Aber auch ein Verwaltungsverfahren mit dem Ziel der Feststellung, dass die - rechtskräftig festgestellten - Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU entfallen sind oder nicht vorliegen (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU; vgl. BVerwG, Urteile vom 25.10.2017 - 1 C 34.16 -, juris, Rn. 25, und vom 16.07.2015 - 1 C 22.14 -, juris, Rn. 15, zur Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf Fallgestaltungen, in denen das Recht „von vornherein“ nie bestanden hat), hat die Beklagte nicht durchgeführt. Insbesondere ist das streitgegenständliche Verwaltungsverfahren - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht als Verfahren der sogen. „administrativen Verlustfeststellung“ (Lehmann, in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 6 Rn. 221) nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU zu qualifizieren:
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Schon der Tenor des Ausgangsbescheids lehnt ausschließlich den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltskarte ab. Dass die Beklagte in den Gründen ihres Bescheids nach Darlegung ihrer dem rechtskräftigen Urteil des Verwaltungsgerichts widersprechenden Auffassung ausführt, damit werde „abschließend festgestellt, dass Sie kein Freizügigkeitsrecht genießen“, rechtfertigt keine abweichende Bewertung. Denn einheitlicher Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist der Bescheid in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (s.o.). Der Widerspruchsbescheid führt indes ausdrücklich aus (S. 6), die Feststellung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe zur Freizügigkeitsberechtigung des Klägers bleibe „unberührt“. Unabhängig davon, ob § 5 Abs. 4 FreizügG/EU die nachträgliche Beseitigung der Rechtskraft eines Feststellungsurteils ohne Änderungen der Sach- oder Rechtslage überhaupt ermöglichen würde (zur Notwendigkeit eines besonderen Anlasses für die Überprüfung des Fortbestandes aus unionsrechtlichen Gründen anhand der früheren Fassung von § 5 Abs. 4 und 5 FreizügG/EU vgl. Epe, in: GK-AufenthG, 46. EL Oktober 2010, § 5 FreizügG/EU Rn. 36), war das behördliche Verfahren danach jedenfalls nicht mit der erforderlichen Eindeutigkeit auf diese Rechtsfolge gerichtet. Dies gilt zumal, da deren Anordnung im Ermessen der Behörde steht, das hier nicht erkennbar ausgeübt worden ist (vgl. hierzu Hoppe, in: HTK-AuslR, § 5 Abs. 4 FreizügG/EU, Stand: 18.09.2018, Rn. 11 ff.; ferner Lehmann, in: Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2018, § 6 Rn. 213 f., 226: „umfassende Abwägungs- und Ermessensentscheidung“).
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b) Darüber hinaus bleibt auch der Einwand der Beklagten erfolglos, der Kläger habe entgegen der Verpflichtung nach § 5a Abs. 2 FreizügG/EU seinen Pass nicht (rechtzeitig) vorgelegt. Denn die Beklagte hält der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Ausstellung einer Aufenthaltskarte hiervon aus unionsrechtlichen Gründen nicht (mehr) abhängig gemacht werden dürfe, substantiiert nichts entgegen, zumal der Kläger seinen - nach wie vor gültigen - Pass in der mündlichen Verhandlung vorgelegt hat:
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Das Verwaltungsgericht führt insoweit aus, das Gesetz ermögliche das Verlangen nach einem anerkannten gültigen Pass (nur) zur sicheren Feststellung der Identität des Familienangehörigen, nicht aber dann, wenn diese mit anderen Mitteln sicher festgestellt werden könne oder gar feststehe. Ernstliche Zweifel an dieser Auffassung zeigt die Beklagte nicht auf: Mit § 5a FreizügG/EU werden die Art. 8 Abs. 3 bis 5 und Art. 10 Abs. 2 RL 2004/38/EG umgesetzt. Die Norm ermächtigt indes nicht dazu, die in ihr genannten Dokumente zu verlangen, wenn das Freizügigkeitsrecht aus anderen Gründen bereits nachgewiesen ist. Vielmehr darf die Ausländerbehörde die Vorlage der in § 5a FreizügG/EU bezeichneten Dokumente nur dann verlangen, wenn das Freizügigkeitsrecht nicht bereits anderweitig nachgewiesen ist (Hoppe, in: HTK-AuslR, § 5a FreizügG/EU, Stand: 18.11.2016, Rn. 1 ff.). Denn das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seines Familienangehörigen kann nach Unionsrecht nicht davon abhängig gemacht werden, dass der Betroffene einen gültigen Personalausweis oder Reisepass vorlegt, sofern seine Identität und seine Staatsangehörigkeit zweifelsfrei mit anderen Mitteln nachgewiesen werden können. Die Verpflichtung zur Vorlage eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses dient vor diesem Hintergrund nur dazu, die Feststellung des Freizügigkeitsrechts zu erleichtern (vgl. EuGH, Urteil vom 17.02.2005 - Rs. C-215/03 - <Oulane>, juris, Rn. 22 und 26; Dienelt, in: Bergmann/ders., AuslR, 12. Aufl. 2018, § 5a FreizügG/EU Rn. 2 f.; für den Nachweis der Eigenschaft eines „Familienangehörigen“ vgl. auch EuGH, Urteil vom 27.06.2018 - Rs. C-246/17 - <Diallo>, juris, Rn. 47). Diese unionsrechtlich begründete Auslegung stellt der Zulassungsantrag nicht in Frage, wenn er der Sache nach lediglich behauptet, die Ausstellung der Aufenthaltskarte könne - selbst im Falle eines nachgewiesenen bzw. durch Urteil festgestellten Freizügigkeitsrechts - versagt werden, wenn ein gültiger Pass nicht rechtzeitig vorgelegt werde.
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2. Den weiter geltend gemachten Zulassungsgrund der Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) legt die Beklagte nicht im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO hinreichend dar. Hierzu ist u.a. erforderlich, dass ein die angefochtene Entscheidung tragender abstrakter Rechtssatz unter Durchdringung des Prozessstoffs aufgezeigt und erläutert wird, der zu einem ebensolchen Rechtssatz in der Entscheidung des höheren Gerichts in Widerspruch steht (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.12.2018 - 5 PB 3.18 -, juris, Rn. 10; Beschluss vom 22.03.2012 - 2 B 148.11 -, juris, Rn. 3 (m.w.N.)). Dem wird der Zulassungsantrag nicht gerecht:
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Die Beklagte entnimmt dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 2015 - 1 C 22.14 - zunächst den abstrakten Rechtssatz, es sei für die Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts nicht bereits ausreichend, wenn bis zum Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren keine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU wirksam getroffen worden ist, sondern hierfür sei vielmehr maßgeblich, dass die materiellen Voraussetzungen für die Freizügigkeitsberechtigung erfüllt sind. Dass das Verwaltungsgericht von einem derartigen Rechtssatz abgewichen sein könnte, legt sie indes nicht dar. Zum einen trifft ihre Behauptung nicht zu, das Verwaltungsgericht habe einen Anspruch auf Ausstellung der Aufenthaltskarte allein darauf gestützt, dass keine Verlustfeststellung erfolgt sei. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr - ausgehend vom materiellen Bestehen des Freizügigkeitsrechts - lediglich argumentiert, es sei „zwischenzeitlich auch keine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 FreizügG/EU“ erfolgt, ein Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte also nicht schon aufgrund einer solchen behördlichen Entscheidung ausgeschlossen. Zum anderen betrifft der von der Beklagten aufgezeigte Rechtssatz auch die Voraussetzungen für die Entstehung des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU und nicht den - hier allein gegenständlichen - freizügigkeitsgestützten Voraufenthalt. Danach ist auch unabhängig von den Darlegungen des Zulassungsantrags nicht erkennbar, dass das Verwaltungsgericht von dem dargestellten Rechtssatz abgewichen sein könnte.
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Wenn die Beklagte weiter ausführt, nach o.g. Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sei maßgeblicher Entscheidungszeitpunkt für die Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, zeigt sie ebenfalls keine Divergenz auf. Denn das Bundesverwaltungsgericht hat diesen Rechtssatz in einem Verfahren aufgestellt, in dem der Klägerin bereits eine Bescheinigung gemäß § 5 FreizügG/EU erteilt, später eine behördliche Verlustfeststellung im Verfahren nach § 5 Abs. 5 FreizügG/EU a.F. getroffen und diese dann angefochten worden war. Eine derartige Verlustfeststellung ist - wie oben dargelegt - schon nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, sondern nur der Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte. Zur Frage des maßgeblichen Zeitpunkts für den vorliegenden Fall, dass die Freizügigkeitsberechtigung bereits durch Urteil rechtskräftig festgestellt worden ist, die Behörde dieser Feststellung aber im Verfahren über den Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte von vornherein nicht folgen will, verhält sich das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts nicht.
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3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl. § 124a Abs. 5 Satz 3 VwGO).
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Der Beschluss ist unanfechtbar.

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