Urteil vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 4 S 3696/21

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. April 2021 - A 1 K 664/20 - geändert.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. Januar 2020 wird mit Ausnahme der in Ziffer 3 Satz 4 getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf, aufgehoben.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

 
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, mit dem insbesondere sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihm die Abschiebung nach Italien angedroht wird.
Der 1980 geborene Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger. Im Rahmen seiner Anhörungen beim Bundesamt am 21.02.2019 und am 01.03.2019 gab er an, er habe sein Heimatland 2008 verlassen und sei über Niger, Libyen, Malta und Italien am 02.02.2019 nach Deutschland eingereist. In Italien habe er neun Jahre gelebt, wobei er mehrfach beruflich zwischen Malta und Italien hin und her gereist sei. Ihm sei in Italien subsidiärer Schutz zuerkannt und ein „Permesso di Soggiorno“ ausgestellt worden. Er habe 2013 in Rom geheiratet und zwei Kinder. Seine Ehefrau und Kinder lebten ebenfalls in Deutschland. Er habe während seiner Arbeit in Malta eine Verletzung an der Hand erlitten; der dortige Arzt habe gesagt, er habe eine Behinderung von 30%. In Rom sei er von der Gemeinschaft, die seine Frau nach Italien gebracht habe und der sie Geld schulde, bedroht worden.
Mit Bescheid vom 09.04.2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Es ordnete die Abschiebung nach Italien an. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
Der Kläger erhob unter dem 12.04.2019 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage und stellte Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Nachdem er Vaterschafts- und Sorgerechtsanerkennungserklärungen für seine beiden 2013 bzw. 2015 in Italien geborenen Kinder abgegeben und zwei italienische Geburtsregisterauszüge vorgelegt hatte, hob die Beklagte ihren Bescheid vom 09.04.2019 auf. Die verwaltungsgerichtlichen Verfahren wurden nach übereinstimmenden Erledigungserklärungen mit Beschlüssen vom 17.06.2019 eingestellt (A 9 K 1691/19 bzw. A 9 K 1692/19).
Auf Nachfrage erklärte das italienische Innenministerium mit Schreiben vom 03.01.2020, unter dem 07.09.2010 seien dem Kläger Fingerabdrücke abgenommen worden. Gegen den ablehnenden Asylbescheid vom 17.11.2016 habe er Klage erhoben; in der Folge sei ihm subsidiärer Schutz gewährt und eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden, die am 28.12.2022 auslaufe.
Mit Bescheid vom 21.01.2020 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers daraufhin (erneut) als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2). Es forderte ihn auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und drohte ihm für den Fall, dass er diese Ausreisefrist nicht einhalte, die Abschiebung nach Italien oder einen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei, mit Ausnahme Nigerias an (Ziffer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf einen Monat ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4) und die Vollziehung der Abschiebungsandrohung ausgesetzt (Ziffer 5). Zur Begründung gab das Bundesamt im Wesentlichen an, die Unzulässigkeitsentscheidung werde auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt, weil dem Kläger in Italien am 23.11.2017 subsidiärer Schutz gewährt worden sei. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Italien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege, vielmehr habe sich die Situation im Vergleich zu vorherigen Jahren deutlich verbessert. Es bestehe die Möglichkeit, eine Familienzusammenführung zu beantragen. Soweit der Kläger vortrage, er sei in Italien bedroht worden, sei er im Bedarfsfall auf die schutzfähigen und -willigen italienischen Sicherheitsbehörden zu verweisen. Auch lägen keine Erkrankungen vor, die in Italien nicht behandelt werden könnten.
Am 30.01.2020 hat der Kläger beim Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, es sei wegen der nunmehr längeren Abwesenheit nicht auszuschließen, dass sein subsidiärer Schutzstatus in Italien zwischenzeitlich entfallen sei. Dann aber wäre er von jeglicher Versorgung und Unterbringung ausgeschlossen. Deshalb sei zu seinen Gunsten ein Abschiebungsverbot in Bezug auf Italien festzustellen.
Mit Urteil vom 12.04.2021 - A 1 K 664/20 - hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG lägen vor. Dem Kläger sei in Italien subsidiärer Schutz gewährt worden. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser Schutzstatus erloschen sei. Die Unzulässigkeitsentscheidung sei auch mit Unionsrecht vereinbar. Die Gewährleistungen von Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh stünden der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nicht entgegen. Der Kläger habe keine stichhaltigen Angaben gemacht, die die auf dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens beruhende Vermutung widerlegen könnten, dass seine Situation in Italien nach seiner Rückführung im Einklang mit Art. 3 EMRK stehen werde; es stehe nicht zu erwarten, dass er unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation extremer materieller Not gerate. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass er in Italien durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen und für eine hier allein in den Blick zu nehmende Übergangszeit auch auf ausreichende staatliche Versorgung zurückgreifen könne. Er habe zudem Verwandte und Freunde in Italien. Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG seien nicht erfüllt. Dass der Kläger im Bundesgebiet mit seinen minderjährigen Kindern und seiner Ehefrau, die im Besitz deutscher Aufenthaltserlaubnisse seien, zusammenlebe, sei für das vorliegende asylrechtliche Verfahren unbeachtlich, weil es sich insoweit allenfalls um ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis handele, das von der Beklagten nicht zu prüfen sei.
Mit Beschluss vom 06.12.2021 - A 4 S 1806/21 - hat der Senat die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, nachdem der Kläger nachgewiesen hatte, dass seinen Kindern und seiner Ehefrau in Italien unter dem 11.06.2015 Aufenthaltserlaubnisse („permesso di soggiorno“) erteilt worden sind wegen subsidiären Schutzes („prot. sussidiaria“). Ferner legte der Kläger einen Bescheid des Bundesamtes vom 04.07.2018 vor, mit dem seinen Kindern und seiner Ehefrau ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria zuerkannt worden ist.
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Der Kläger trägt zur Begründung seiner Berufung vor, dass das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung die familiären Bindungen zu seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern, die allesamt rechtmäßig im Bundesgebiet lebten, nicht berücksichtigt habe, weil diese, so das Gericht, im asylrechtlichen Verfahren nicht zu berücksichtigen seien. Seine Ehefrau und die (bei Berufungsbegründung) sechs und acht Jahre alten Kinder seien jedoch seine Kernfamilie. Als Familie mit Kindern handele es sich damit um besonders vulnerable Personen. Bei einer Überstellung nach Italien bestehe in Bezug auf besonders schutzbedürftige anerkannte Schutzberechtigte (hier: Familie mit kleinen Kindern) die Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung. Weder würden der Kläger und seine Familie zeitnah eine Unterkunft zugewiesen erhalten noch könnte der Kläger selbst eine Unterkunft für sich und seine Familie finden noch könnte er aufgrund der derzeitigen wirtschaftlichen Situation und der drohenden Obdachlosigkeit im ausreichenden Umfang eine Erwerbstätigkeit aufnehmen, um daraus alleine den Lebensunterhalt für die vierköpfige Familie zu bestreiten. Auf staatliche Unterstützung könnten der Kläger und seine Familie nicht zurückgreifen.
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Der Kläger beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 12. April 2021 - A 1 K 664/20 - zu ändern und den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. Januar 2020 mit Ausnahme der in Satz 4 der Ziffer 3 getroffenen Feststellung, dass der Kläger nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf, aufzuheben;
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hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bis 7 AufenthG auch hinsichtlich Italiens vorliegen, und den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Januar 2020 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie trägt zur Begründung vor, dass die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus in Italien ausreichend seien. Der italienische Staat habe - auch mittels europäischer Finanzhilfen - inzwischen ein Aufnahmesystem für anerkannte Schutzberechtigte entwickelt, das für eine Übergangszeit die Versorgung der Bedürfnisse dieser Personengruppe an Wohnung, Nahrung und Hygiene sicherstellen solle und zusätzlich auf eine Integration in die Gesellschaft gerichtet sei. Der Kläger sei ein gesunder und erwerbsfähiger Mann, der bereits in Italien gelebt und dort Angehörige habe. Es sei nicht beachtlich wahrscheinlich, dass er seine elementaren Bedürfnisse in Italien nicht mithilfe eigener Erwerbstätigkeit decken könnte. Die hohen Maßstäbe von Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh seien daher nicht erfüllt. Mit Blick auf seine Familienangehörigen sei festzustellen, dass zwar das OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.12.2020 - 11 A 1602/17.A) ausgeführt habe, bereits das Bundesamt habe im Rahmen einer realitätsnahen Prognose davon auszugehen, dass Art. 6 GG / Art. 8 EMRK einer Trennung der in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie entgegenstünden und es daher zur Rückkehr - wegen bestandskräftiger Bleiberechte - entweder nicht oder nur im Familienverband kommen werde. Das Bundesverwaltungsgericht habe allerdings festgestellt, dass auch bei familiärer Lebensgemeinschaft für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen sei, ob ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliege. Im Übrigen könne unter Beachtung der hohen Schwelle der Erheblichkeit systemischer Schwachstellen im Mitgliedstaat und der aktuellen Erkenntnisse zu den Aufnahmebedingungen für international Schutzberechtigte in Italien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh auch bei einer Rückkehr des Klägers nach Italien gemeinsam mit seiner Frau und den minderjährigen Kindern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Nach Erkenntnissen der Beklagten über einen Liaison-Beamten werde bei Vulnerablen zunächst eine Unterkunft gesucht, die Zustimmung zur Rückübernahme erfolge also unter dem Vorbehalt, dass eine geeignete Unterkunft gefunden wird. Dies resultiere auch aus einer entsprechenden Vereinbarung zwischen der italienischen Grenzpolizei und dem italienischen Kommunalverband. Damit sei eine Unterkunft bereits bei Ankunft sichergestellt. Werde der Kläger mit seiner Familie aber Aufnahme finden, liege kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh vor.
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In der mündlichen Verhandlung am 07.07.2022 ist der Kläger informatorisch angehört worden. Er hat zusammengefasst vorgetragen, dass seine Frau und er arbeiteten und von Sozialleistungen unabhängig seien. Seine Kinder besuchten die erste und dritte Klasse. In Italien fänden sie bei einer Rückkehr keine geeignete Unterkunft.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Verfahrensakten des Verwaltungsgerichts und des Bundesamtes sowie die Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Dem Senat liegen des Weiteren die in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen vor. Die beigezogenen Akten und Erkenntnisquellen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe

 
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht begründete Berufung des Klägers hat Erfolg. Denn seine Klage ist zulässig und begründet.
20 
A. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist die Anfechtungsklage, gerichtet auf die mit dem Hauptantrag begehrte alleinige Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des Bescheids), statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.02.2019 - 1 C 30.17 -, Juris Rn. 12).
21 
B. Die Anfechtungsklage ist auch begründet, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 21.01.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22 
Im Ausgangspunkt zu Recht hat die Beklagte ihren ablehnenden Bescheid auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil Italien dem Kläger subsidiären Schutz zuerkannt hat. Die Unzulässigkeitsentscheidung ist jedoch im Ergebnis nicht mit Unionsrecht vereinbar.
23 
I. Nach der grundlegend in den Rechtssachen „Jawo“ und „Ibrahim“ (EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 [Jawo] -, Juris Rn. 76 ff., und - C-297/17 u.a. [Ibrahim] -, Juris Rn. 81 ff.) entwickelten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die vom Senat geteilt wird (vgl. grundlegend: Urteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, Juris), darf sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrens-RL 2013/32/EU - dem § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entspricht - berufen, wenn ein Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort erwarteten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Zwar kann angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungs-Richtlinie 2011/95/EU gerecht werden, nicht dazu führen, dass die Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Asylverfahrens-Richtlinie vorgesehenen Befugnis eingeschränkt wird, sofern die Schwelle der Erheblichkeit des Art. 4 GRCh nicht erreicht ist.
24 
Anders verhält es sich jedoch, wenn das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis in diesem Mitgliedstaat auf größere Funktionsstörungen trifft, die so schwerwiegend sind, dass sie diese Schwelle übersteigen und den Antragsteller tatsächlich dem „real risk“ aussetzen, dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren; insoweit ist es für die Anwendung von Art. 4 GRCh gleichgültig, ob die betreffende Person zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren. Dabei fallen sowohl systemische oder allgemeine als auch bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur ab einer besonders hohen Schwelle der Erheblichkeit unter Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie in der EMRK verliehen wird. Ob dies der Fall ist, hängt von sämtlichen Umständen des Falles ab. Die Erheblichkeitsschwelle ist nur dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (kurz: Fehlen von „Bett, Brot, Seife“, vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 11; Senatsurteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, Juris Rn. 40, bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 02.12.2019 - 1 B 75.19 -, Juris).
25 
Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 und C-541/17 [Hamed u.a.] -, Juris Rn. 35 ff.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 17.06.2020 - 1 C 35.19 -, Juris Rn. 23 ff.). Zugleich weist der EuGH allerdings darauf hin, dass unterschieden werden muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits, für die diese „harte Linie“ gilt, sowie Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit, also Vulnerablen, andererseits, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist (EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 [Jawo] -, Juris Rn. 95, und - C-297/17 u.a. [Ibrahim] -, Juris Rn. 93; vgl. auch Senatsurteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, Juris Rn. 41).
26 
II. Hier können trotz der vom EuGH vorgegebenen „harten Linie“ ausnahmsweise derartige besondere Umstände angenommen werden, die die hinreichende Gefahr begründen, dass der Kläger sich bei einer Rückführung nach Italien in einer Situation befände, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichzustellen wäre.
27 
1. Zwar geht der angefochtene Bescheid im Grundsatz zutreffend vom Maßstab von „Bett, Brot, Seife“ sowie davon aus, dass der 1980 geborene Kläger im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig und damit selbst als nicht vulnerabel anzusehen ist.
28 
2. Der Senat nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass bei Zugrundelegung der „harten“ Maßstäbe des EuGH gesunde und arbeitsfähige Antragsteller in Italien derzeit weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach - im Regelfall ohne weitere Prüfung zu unterstellender - Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem „real risk“ einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt werden, sondern - trotz eines angespannten Arbeitsmarktes - für ihren Lebensunterhalt sorgen können, so dass sie ihre vom EuGH allein in den Fokus genommenen elementarsten Bedürfnisse - „Bett, Brot, Seife“ - befriedigen können (zuletzt Beschluss vom 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 -, Juris Rn. 8, m.w.N.).
29 
An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch im Lichte der aktuellen Erkenntnismittellage fest. Zwar stellt sich die Lebenssituation in Italien für anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausweislich der jüngsten Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vom 29.04.2022 an VG Karlsruhe), des von AIDA herausgegebenen „Country Report: Italy (2021 Update)“ vom 18.05.2022 und der „Länderinformation der Staatendokumentation Italien“ des Österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (Version 3 vom 10.03.2022) nach wie vor als problematisch dar. Auch den aktuellen Erkenntnismitteln aber lässt sich nicht entnehmen, dass sich die Verhältnisse dergestalt zum Negativen verändert haben könnten, dass nunmehr, entgegen der Ausführungen im Senatsbeschluss vom 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 -, die für junge und gesunde Männer zu stellenden Mindestanforderungen an eine Schlafgelegenheit wie auch an die Versorgung mit den für die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse erforderlichen Gütern beachtlich wahrscheinlich nicht erfüllt wären.
30 
3. Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat jedoch der Überzeugung, dass vorliegend nicht die Rückkehrsituation allein des Klägers in den Blick zu nehmen, sondern davon auszugehen ist, er zusammen mit seiner Familie, insbesondere mit den beiden 2013 und 2015 in Italien geborenen Kindern zurückkehren wird.
31 
a. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Umstand, dass der Kläger in Deutschland mit seiner Kernfamilie zusammenlebt, in dieser Konstellation nicht allein bei der Frage eines einer Abschiebung möglicherweise entgegenstehenden innerstaatlichen Vollstreckungshindernisses von Relevanz, sondern bereits bei der Prüfung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh sowie § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu berücksichtigen.
32 
aa. Zwar trifft es zu, dass im Rahmen von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG grundsätzlich auch bei Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen ist, ob in seiner Person ein nationales Abschiebungsverbot besteht. Gefahren, die Dritten drohen - und seien es Mitglieder der Kernfamilie -, sind in diesem Zusammenhang im Grundsatz unerheblich, denn das nationale Recht kennt keine Gewährung von „Familienabschiebeschutz“ (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, Juris Rn. 14).
33 
bb. Allerdings ist nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (grundlegend Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, Juris) für die Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, bei - zwar notwendig hypothetischer, aber doch - realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt, und zwar auch dann, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (ebd. Rn. 15 ff.). In der Konsequenz ist, so das Bundesverwaltungsgericht, in die Gefahrenprognose das Existenzminimum aller Mitglieder der Kernfamilie einzustellen. Die Fähigkeit, seine eigene Versorgung zu sichern, verliert der Sekundärmigrant, um dessen Rückführung es geht, zwar durch das Hinzutreten weiterer zurückkehrender Familienangehöriger nicht. Diese Rückkehr auch der Familienangehörigen verändert gleichwohl die für die Gefahrenprognose maßgeblichen Umstände. Denn kann er nicht auch das Existenzminimum seiner Familienangehörigen sichern, handelt es sich mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK um mehr als einen nur mittelbar auf ihn einwirkenden Umstand (ebd. Rn. 25, 27). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie (auch) als Solidar-, Betreuungs- und Unterstützungsverband. Eine familiäre Lebensgemeinschaft ist eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft. Dies gilt namentlich für die familiäre Lebensgemeinschaft mit besonders schutzbedürftigen minderjährigen Kindern; Eltern sind zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder nicht nur berechtigt, sondern zugleich auch verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), und haben für einen angemessenen Unterhalt der Kinder zu sorgen, zumindest aber deren Existenz - auch finanziell - sicherzustellen, soweit und solange sie hierzu in der Lage sind (ebd. Rn. 26, m.w.N.).
34 
Diese aus Art. 6 GG folgenden Unterhalts- und Unterstützungs„obliegenheiten“, die in der konkret erwartbaren Rückkehrsituation ein Familienmitglied treffen und deren Erfüllung sich notwendig - positiv wie negativ - auf den gesamten Familienverband auswirkt (z.B. Anforderung an „familientaugliche“ Unterkunftsverhältnisse, Versorgungsprobleme, geringere räumliche Flexibilität), prägen zumindest normativ die Rückkehrsituation. Bei einer Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, würde dieses vor die Alternative gestellt, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig die eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch „Teilen“ mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder Freiheit der eigenen Person führt (ebd. Rn. 27, m.w.N.).
35 
cc. Ausdrücklich entschieden hat das Bundesverwaltungsgericht die Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie als Grundlage der Verfolgungs- und Gefahrenprognose zwar bislang nur für die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für den Fall einer in Rede stehenden Rückkehr ins Heimatland. Diese Rechtsprechung ist jedoch auf die vorliegende Konstellation der Rückführung eines in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Flüchtling oder subsidiär schutzberechtigt Anerkannten in diesen Staat dem Grunde nach ohne weiteres übertragbar. Denn die Regelvermutung ist Ausfluss der grund- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 GG / Art. 8 EMRK, die einer Trennung der in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie im Regelfall entgegenstehen - was regelmäßig zur Prognose einer Rückkehr im Familienverband führt - und die die Entscheidung eines Elternteils schützen, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn (erst) damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh unvereinbare Lage herbeigeführt wird. Der grund- und konventionsrechtliche Schutz eines bestehenden Kernfamilienverbandes aber gilt unabhängig davon, ob es sich bei dem Staat, in den ein Mitglied der Kernfamilie abgeschoben werden soll, um den Herkunfts- oder einen EU-Mitgliedstaat handelt.
36 
Er prägt damit im Grundsatz eine Rückkehr auch im Rahmen des Dublin-Systems bzw. in den internationalen Schutz gewährenden EU-Mitgliedstaat im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Gerade im Zusammenhang mit Dublin-Verfahren kommt im Übrigen die große Bedeutung, die dem Schutz von Ehe und Familie beigemessen wird, in der Verfahrensausgestaltung verschiedentlich zum Tragen (vgl. Erwägungsgründe 14-17 sowie Art. 8-11 Dublin III-VO). Der - soweit ersichtlich vereinzelt gebliebenen - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Würzburg (Urteil vom 29.01.2021 - W 9 K 20.30260 -, Juris Rn. 32), wonach die im Herkunftsland drohenden Gefahren mit der Rückkehr in einen anderen europäischen Staat „nicht vergleichbar“ seien, folgt der Senat vor diesem Hintergrund nicht. Vielmehr ist im Rahmen der vom Bundesamt zu treffenden realitätsnahen Prognose mit Blick auf die im Zielstaat der Abschiebung drohenden Gefahren das im Regelfall aus Art. 6 GG / Art. 8 EMRK folgende Trennungsverbot der Kernfamilie auch dann zu berücksichtigen, wenn eine Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat in Rede steht (so i.Erg. auch OVG B.-B., Urteil vom 22.09.2020 - 3 B 33.19 -, Juris Rn. 43 f.; in diese Richtung deutend OVG NRW, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A -, Juris Rn. 207; wohl auch Sächs. OVG, Urteil vom 15.06.2020 - 5 A 382/18 -, Juris Rn. 32 ff.).
37 
Gerade bei Verfahren betreffend die Rückführung von Sekundärmigranten in einen anderen EU-Mitgliedstaat ist allerdings der realitätsnahen Betrachtung der Rückkehrsituation besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Fehlt es an einem Bezug der Mitglieder der Kernfamilie des Sekundärmigranten zu dem jeweiligen EU-Mitgliedstaat, kann sich im Einzelfall auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG / Art. 8 EMRK ein dortiger gemeinsamer Verbleib der Familie als nicht wahrscheinlich darstellen und realitätsnah daher eine alleinige Rückkehr des Sekundärmigranten in den anderen Mitgliedstaat sein; dies hätte dann zur Konsequenz, dass auch für die Frage einer gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung nur seine Situation in den Blick zu nehmen ist (Sächs. OVG, Urteil vom 15.06.2020 - 5 A 384/18.A -, Juris Rn. 38).
38 
b. Vorliegend haben die Ehefrau und die beiden gemeinsamen Kinder jedoch einen klaren Bezug zu Italien, denn Letztere wurden dort geboren und alle drei sind bzw. waren im Besitz italienischer Aufenthaltsdokumente. Unter Berücksichtigung von Art. 6 GG / Art. 8 EMRK ist unter diesen Voraussetzungen bei realitätsnaher Betrachtung davon auszugehen, dass die gesamte Familie einschließlich der Frau und der minderjährigen Kinder des Klägers entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam nach Italien zurückkehrt.
39 
4. Wie der Senat in seinem Urteil vom 29.07.2019 (- A 4 S 749/19 -, Juris Rn. 41) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH (Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 [Jawo] -, Juris Rn. 95, und - C-297/17 u.a. [Ibrahim] -, Juris Rn. 93) entschieden hat, gilt bei der Frage, inwieweit eine Rückführung von Sekundärmigranten nach Italien rechtlich zulässig ist, bei vulnerablen Asylantragstellern mit Blick auf deren erhöhte Verletzlichkeit anderes als bei gesunden und arbeitsfähigen Antragstellern.
40 
a. Während gesunde und arbeitsfähige Antragsteller, wie dargelegt, derzeit in Italien grundsätzlich nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem „real risk“ einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt werden, kann bei vulnerablen Menschen im Einzelfall anderes gelten. Denn vulnerable Asylantragsteller, zu denen etwa Kinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere und erheblich kranke oder behinderte Menschen gehören, haben einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf. Sie geraten wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in eine Art. 4 GRCh / Art. 3 EMRK widersprechende Situation extremer Not; der EGMR spricht gerade im Zusammenhang mit Kindern zu Recht von „extremer Verletzlichkeit“ und davon, dass sie spezielle Bedürfnisse hätten und eines besonderen Schutzes bedürften, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu vermeiden (Urteil vom 04.11.2014 - „Tarakhel“ v. Switzerland, Nr. 29217/12 -, HUDOC Rn. 129).
41 
Der Senat hält angesichts der Gesamtsituation von Asylbewerbern in Italien auch weiterhin an seiner auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 04.11.2014 - „Tarakhel“ v. Switzerland, Nr. 29217/12 -, HUDOC Rn. 122) und des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 31.07.2018 - 2 BvR 714/18 - und vom 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 -, beide Juris) gegründeten Auffassung fest, dass wegen dieser besonderen Bedürfnisse und Schutzbedürftigkeit von Kindern die EU-Mitgliedstaaten zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh vor der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien durch Kooperation mit den italienischen Behörden sicherstellen müssen, dass bei einer Rücküberstellung dorthin ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen wird, damit garantiert werden kann, dass der besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist. Von einer Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh Rechnung tragenden Kooperation ist jedenfalls bei Vorliegen einer hinreichend belastbaren Versorgungszusicherung der italienischen Behörden regelmäßig auszugehen.
42 
b. Soweit in der Rechtsprechung mitunter unter Berufung auf das Urteil „M.T.“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vom 18.03.2021 - M.T. v. Netherlands, Nr. 46595/19 -, HUDOC) vertreten wird, einer derartigen Kooperation bedürfe es mit Blick auf die erfolgten Rechtsänderungen nicht mehr (so etwa Sächs. OVG, Urteil vom 22.03.2022 - 4 A 389/20.A -, Juris), folgt dem der Senat nicht.
43 
So spricht bereits der Umstand, dass das Urteil in der Sache „Tarakhel“ von der Großen Kammer erlassen wurde, während es sich beim Urteil „M.T.“ um die Entscheidung einer 7er-Kammer (4. Sektion) handelt, dagegen, Letzterer ein zu großes Gewicht beizumessen. Hauptaufgabe der Großen Kammer, die gemäß Art. 26 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 24 Abs. 1 VerfO aus 17 Richtern besteht, ist die Sicherung von Kohärenz und Konsistenz der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Um diese Einheitlichkeit der Rechtsprechung und damit ein hohes Maß an Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Gleichheit vor dem Recht zu bewahren und ein Auseinanderlaufen der Kammerrechtsprechung zu verhindern, ist eine Kammer, wenn die Entscheidung einer ihr vorliegenden Frage zu einer Abweichung von einem früheren Urteil der Großen Kammer führen kann, - vorbehaltlich eines noch möglichen Widerspruchs einer Partei - nach Art. 30 EMRK, Art. 72 Abs. 2 VerfO zur Abgabe des Verfahrens an die Große Kammer verpflichtet (vgl. dazu Meyer-Ladewig/Albrecht, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 30 Rn. 3, m.w.N.). Bereits der Umstand, dass die Kammer das Verfahren nicht abgegeben hat, spricht dafür, dass sie ihre Entscheidung „M.T.“ als Anwendung der „Tarakhel“-Rechtsprechung der Großen Kammer auf den konkreten Einzelfall verstanden wissen will und nicht als Abkehr von den dort formulierten Grundsätzen.
44 
Aber auch inhaltlich vermag der Senat eine prinzipielle Abkehr des EGMR von „Tarakhel“ durch die Entscheidung „M.T.“ nicht zu erkennen. Zwar hat der EGMR in der genannten Entscheidung festgestellt, dass für Vulnerable im Einzelfall ein Aufnahmeanspruch in einer Aufnahmeeinrichtung des SAI-Systems bzw. einem CAS-Zentrum bestehen könne (Urteils-Rn. 53 f.). Bereits der weitere Zusammenhang des Urteils stützt jedoch nicht die Auffassung, der EGMR habe seine „Tarakhel“-Rechtsprechung mit diesem Urteil grundsätzlich aufgeben wollen. Der Gerichtshof ist vielmehr im konkreten Einzelfall unter Verweis auf in den Akten befindliche, nicht näher ausgeführte individuelle Umstände davon ausgegangen, dass die niederländischen Behörden die Behörden in Italien - entsprechend der „Tarakhel“-Rechtsprechung - rechtzeitig und hinreichend darüber informieren, wann genau Mutter und Kinder überstellt werden und wie sich die familiäre Situation sowie eventuelle medizinische Notwendigkeiten darstellen, sodass, so der EGMR, (in diesem Einzelfall) die weitere Versorgung in Italien sichergestellt ist (Urteils-Rn. 56). Die Kammer hat aber auch in dieser Entscheidung ausdrücklich auf die „Tarakhel“-Rechtsprechung verwiesen und insoweit keinen Zweifel daran gelassen, dass bei Vulnerablen auch weiterhin vor ihrer Rücküberstellung in behördlicher Kooperation sichergestellt werden muss, dass deren besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist (vgl. Urteils-Rn. 49). Das Urteil „M.T.“ wurde vom EGMR zudem nicht aus dem Englischen weiterübersetzt oder mit einer Presseerklärung veröffentlicht (vgl. https://hudoc.echr.coe.int). Der Senat hält eine dahingehende Interpretation dieses Urteils, nun könnten alle Vulnerablen unabhängig von den ganz konkreten Umständen des Einzelfalls jederzeit sowie ohne weitere Vorkehrungen nach Italien abgeschoben werden, deshalb auch aus inhaltlichen Gründen für eine unzutreffende Überinterpretation.
45 
Dies gilt umso mehr, als der EGMR nur wenige Tage nach Ergehen des „M.T.“-Urteils in einer Entscheidung der 2. Sektion (vom 20.04.2021 - A.B. v. Finnland, Nr. 41100/19 -, BeckRS 2021, 11980 Rn. 38) offenbar vom Erfordernis individueller oder spezifischer Garantien ausgegangen ist, es jedoch im konkreten Einzelfall mangels konkreter Hinweise in den Akten nicht als erwiesen angesehen hat, dass die Kläger nicht in der Lage wären, solche Garantien vor ihrer Abschiebung nach Italien zu erhalten. Allein diese beiden Entscheidungen mit unterschiedlichem Fokus illustrieren, dass jeweils allein eine Anwendung der in der Rechtssache „Tarakhel“ aufgestellten Rechtsgrundsätze auf den entsprechenden konkreten, aus den Akten ersichtlichen Einzelfall vorgenommen wurde, jedoch keine grundsätzliche „Neujustierung“ der „Tarakhel“-Rechtsprechung erfolgt ist.
46 
5. Vorliegend fehlt es im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) an jeglicher Kooperation zwischen den deutschen und italienischen Behörden mit Blick auf eine Rückführung des Klägers und seiner Kernfamilie nach Italien.
47 
Es ist daher momentan nicht hinreichend sichergestellt, dass bei einer Rückkehr des Klägers nach Italien zusammen mit seiner Kernfamilie deren besonderer, sich bereits aus dem Alter der 2013 und 2015 geborenen Kinder ergebender Versorgungsbedarf gedeckt ist. Insbesondere erscheint nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet, dass bei einer Rückkehr verfügbarer und erreichbarer Wohnraum bestünde, der Obdachlosigkeit, die jedenfalls bei kleineren Kindern auch nicht vorübergehend hinnehmbar ist (vgl. Art. 24 Abs. 2 GRCh), verhindert und so beschaffen ist, dass er den besonderen Anforderungen von Kindern entspricht und im Sinne der „Tarakhel“-Rechtsprechung sicherstellt, dass sie nicht - etwa mangels jeglicher Privatsphäre - in Situationen von unzumutbarem Stress und Sorge mit der Gefahr traumatischer Folgen geraten.
48 
Damit sind jedenfalls die besonders zu schützenden Kinder zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei einer Rückkehr nach Italien dem „real risk“ einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt.
49 
Zwar hat der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, es sei „kategorisch ausgeschlossen“, dass Familien mit Kindern bei einer Rückführung nach Italien obdachlos würden, weil bereits im Vorfeld der Abschiebung durch die italienischen Behörden sichergestellt sei, dass eine unmittelbar erreichbare Unterkunft vorhanden sei. Diese Erkenntnisse basierten, so der Beklagtenvertreter, auf der Auskunft eines Liaisonbeamten in Italien an das Sächsische Oberverwaltungsgericht im Verfahren 4 A 341/20.A.
50 
Derartige Aussagen aber können die Anforderungen, die die „Tarakhel“-Rechtsprechung an die Sicherstellung familiengerechter Unterbringung unmittelbar nach Rücküberstellung stellt, nicht erfüllen. Zwar hält es der Senat für möglich, dass die „Tarakhel“-Anforderungen nicht nur durch eine im Einzelfall erfolgende Kooperation zwischen den Behörden - insbesondere individuelle Zusicherungen - erfüllt werden, sondern gegebenenfalls auch durch eine allgemeine Erklärung der zuständigen italienischen Behörden. Voraussetzung hierfür wäre jedoch, dass sich aus einer solchen Erklärung hinreichend klar ergibt, dass die Zurverfügungstellung von geeignetem Wohnraum unmittelbar nach Rückkehr garantiert wird. Eine Einschränkung dahingehend, dass Wohnraum im Rahmen vorhandener Kapazitäten zur Verfügung gestellt wird, würde dem nicht gerecht. Vielmehr muss sich der Erklärung hinreichend klar entnehmen lassen, dass dieser Wohnraum tatsächlich und bedingungslos gewährt wird und die Zusage insbesondere nicht unter Finanzierungs- oder Kapazitätsvorbehalten steht, und dass die Überstellung zwingend unterbleibt, soweit diese Voraussetzungen nicht vollumfänglich erfüllt sind.
51 
Vorliegend fehlt es indes derzeit auch an einer solchen verifizierbaren Erklärung der italienischen Behörden. Die durch den Beklagtenvertreter erfolgte Wiedergabe dem Senat nicht schriftlich vorliegender Äußerungen eines Liaisonbeamten zu den ihm weitergegebenen, ebenfalls nicht schriftlich vorliegenden Informationen zum angeblichen Vorgehen der italienischen Behörden genügt diesen Anforderungen nicht. Zwar hat der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung betont, dass die Angaben des Liaisonbeamten in dienstlicher Eigenschaft in einem gerichtlichen Verfahren erfolgt seien. Bereits der genaue Inhalt dieser Angaben ist dem Senat jedoch nicht bekannt, weil sie offenbar weder von der Beklagten als Erkenntnismittel in die üblichen Datenbanken eingestellt noch in dieses Verfahren eingeführt noch in das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14.03.2022 - 4 A 341/20.A - aufgenommen wurden. Unklar ist des Weiteren, von wem der Liaisonbeamte seine Informationen hat. Damit ist es auch nicht möglich, diesen Angaben mit anderen Schilderungen der Überstellungspraxis abzugleichen.
52 
Für den Senat hat kein Anlass bestanden, diesen offenen Fragen durch eigene Anhörung des Liaisonbeamten weiter nachzugehen. Denn ein unmittelbarer und unbedingt gewährter Anspruch von Familien mit Schutzstatus auf zeitgerechte Zurverfügungstellung von familiengerechtem Wohnraum bei einer Rückkehr nach Italien ist nicht erkennbar. So sieht etwa das Gesetz 173/2020 zwar substantielle Verbesserungen der Aufnahmesituation von Personen mit einem internationalen Schutzstatus vor. Die neuen Maßnahmen werden jedoch offenbar nur im Rahmen der personellen, finanziellen und instrumentellen Ressourcen umgesetzt; so erfolgt der Zugang zu den Unterkünften allein im Rahmen der verfügbaren Plätze (BAMF, Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets v. 15.07.2021; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien - aktuelle Entwicklungen v. 10.06.2021). Auch bei dem am 08.02.2021 vom italienischen Innenministerium an alle Dublin-Units versandten Rundschreiben, in dem es u.a. heißt, Familien würden im Einklang mit der „Tarakhel“-Rechtsprechung untergebracht, handelt es sich um eine Absichtserklärung, der nicht entnommen werden kann, dass die notwendigen Voraussetzungen für familiengerechte Unterbringungen in jedem Einzelfall vorliegen (Romer, Asylmagazin 6/2021, 209). Dem entspricht es, dass die Beklagte noch in ihrer Berufungserwiderung vom 09.03.2022 ausgeführt hat, die Situation von Schutzberechtigten in Italien sei insgesamt im Vergleich zu vorherigen Jahren unverändert (S. 3).
53 
III. Infolge der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung kann auch die im Bescheid enthaltene Feststellung über das Fehlen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG keinen Bestand haben. Die Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich Italiens rechtswidrig, weil der Asylantrag des Klägers nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte. Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
54 
IV. Nachdem die Klage somit bereits mit ihrem Hauptantrag Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung über den Hilfsantrag.
55 
V. Die Kostenentscheidung beruht auf den § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
56 
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund vorliegt (§ 132 Abs. 2 VwGO). Denn seit Zulassung der Berufung durch den Senat haben weitere Gerichte erster und zweiter Instanz entschieden, dass die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - zur Grundlage der Rückkehrprognose (Juris Rn. 16 ff.) auf sogenannte Drittstaatenfälle zu übertragen sind (vgl. OVG Nds., Urteil vom 07.12.2021 - 10 LB 257/20 -, Juris Rn. 20; VG Ansbach, Urteil vom 28.12.2021 - AN 17 K 19.50679 -, Juris Rn. 45; VG Aachen, Urteil vom 07.03.2022 - 5 K 1494/18.A -, Juris Rn. 65 ff.; wohl auch VG Sigmaringen, Urteil vom 21.02.2022 - A 7 K 10488/17 -, Juris Rn. 53). Aufgrund der mithin weiter verfestigten und einheitlichen Rechtsprechung hält der Senat die im Zulassungsbeschluss aufgeworfene Frage nicht länger für klärungsbedürftig. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen daher nicht vor.

Gründe

 
19 
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht begründete Berufung des Klägers hat Erfolg. Denn seine Klage ist zulässig und begründet.
20 
A. Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist die Anfechtungsklage, gerichtet auf die mit dem Hauptantrag begehrte alleinige Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1 des Bescheids), statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 26.02.2019 - 1 C 30.17 -, Juris Rn. 12).
21 
B. Die Anfechtungsklage ist auch begründet, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 21.01.2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22 
Im Ausgangspunkt zu Recht hat die Beklagte ihren ablehnenden Bescheid auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt, weil Italien dem Kläger subsidiären Schutz zuerkannt hat. Die Unzulässigkeitsentscheidung ist jedoch im Ergebnis nicht mit Unionsrecht vereinbar.
23 
I. Nach der grundlegend in den Rechtssachen „Jawo“ und „Ibrahim“ (EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 [Jawo] -, Juris Rn. 76 ff., und - C-297/17 u.a. [Ibrahim] -, Juris Rn. 81 ff.) entwickelten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die vom Senat geteilt wird (vgl. grundlegend: Urteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, Juris), darf sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Asylverfahrens-RL 2013/32/EU - dem § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entspricht - berufen, wenn ein Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der ihm internationalen Schutz gewährt hat, der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort erwarteten, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh zu erfahren. Zwar kann angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz gewährt hat, nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungs-Richtlinie 2011/95/EU gerecht werden, nicht dazu führen, dass die Ausübung der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Asylverfahrens-Richtlinie vorgesehenen Befugnis eingeschränkt wird, sofern die Schwelle der Erheblichkeit des Art. 4 GRCh nicht erreicht ist.
24 
Anders verhält es sich jedoch, wenn das Gemeinsame Europäische Asylsystem in der Praxis in diesem Mitgliedstaat auf größere Funktionsstörungen trifft, die so schwerwiegend sind, dass sie diese Schwelle übersteigen und den Antragsteller tatsächlich dem „real risk“ aussetzen, dort eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren; insoweit ist es für die Anwendung von Art. 4 GRCh gleichgültig, ob die betreffende Person zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren. Dabei fallen sowohl systemische oder allgemeine als auch bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen nur ab einer besonders hohen Schwelle der Erheblichkeit unter Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie in der EMRK verliehen wird. Ob dies der Fall ist, hängt von sämtlichen Umständen des Falles ab. Die Erheblichkeitsschwelle ist nur dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (kurz: Fehlen von „Bett, Brot, Seife“, vgl. Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 11; Senatsurteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, Juris Rn. 40, bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 02.12.2019 - 1 B 75.19 -, Juris).
25 
Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, Beschluss vom 13.11.2019 - C-540/17 und C-541/17 [Hamed u.a.] -, Juris Rn. 35 ff.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 17.06.2020 - 1 C 35.19 -, Juris Rn. 23 ff.). Zugleich weist der EuGH allerdings darauf hin, dass unterschieden werden muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits, für die diese „harte Linie“ gilt, sowie Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit, also Vulnerablen, andererseits, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist (EuGH, Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 [Jawo] -, Juris Rn. 95, und - C-297/17 u.a. [Ibrahim] -, Juris Rn. 93; vgl. auch Senatsurteil vom 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, Juris Rn. 41).
26 
II. Hier können trotz der vom EuGH vorgegebenen „harten Linie“ ausnahmsweise derartige besondere Umstände angenommen werden, die die hinreichende Gefahr begründen, dass der Kläger sich bei einer Rückführung nach Italien in einer Situation befände, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichzustellen wäre.
27 
1. Zwar geht der angefochtene Bescheid im Grundsatz zutreffend vom Maßstab von „Bett, Brot, Seife“ sowie davon aus, dass der 1980 geborene Kläger im Wesentlichen gesund und arbeitsfähig und damit selbst als nicht vulnerabel anzusehen ist.
28 
2. Der Senat nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass bei Zugrundelegung der „harten“ Maßstäbe des EuGH gesunde und arbeitsfähige Antragsteller in Italien derzeit weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach - im Regelfall ohne weitere Prüfung zu unterstellender - Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem „real risk“ einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt werden, sondern - trotz eines angespannten Arbeitsmarktes - für ihren Lebensunterhalt sorgen können, so dass sie ihre vom EuGH allein in den Fokus genommenen elementarsten Bedürfnisse - „Bett, Brot, Seife“ - befriedigen können (zuletzt Beschluss vom 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 -, Juris Rn. 8, m.w.N.).
29 
An dieser Rechtsprechung hält der Senat auch im Lichte der aktuellen Erkenntnismittellage fest. Zwar stellt sich die Lebenssituation in Italien für anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte ausweislich der jüngsten Stellungnahme der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (vom 29.04.2022 an VG Karlsruhe), des von AIDA herausgegebenen „Country Report: Italy (2021 Update)“ vom 18.05.2022 und der „Länderinformation der Staatendokumentation Italien“ des Österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (Version 3 vom 10.03.2022) nach wie vor als problematisch dar. Auch den aktuellen Erkenntnismitteln aber lässt sich nicht entnehmen, dass sich die Verhältnisse dergestalt zum Negativen verändert haben könnten, dass nunmehr, entgegen der Ausführungen im Senatsbeschluss vom 08.11.2021 - A 4 S 2850/21 -, die für junge und gesunde Männer zu stellenden Mindestanforderungen an eine Schlafgelegenheit wie auch an die Versorgung mit den für die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse erforderlichen Gütern beachtlich wahrscheinlich nicht erfüllt wären.
30 
3. Anders als das Verwaltungsgericht ist der Senat jedoch der Überzeugung, dass vorliegend nicht die Rückkehrsituation allein des Klägers in den Blick zu nehmen, sondern davon auszugehen ist, er zusammen mit seiner Familie, insbesondere mit den beiden 2013 und 2015 in Italien geborenen Kindern zurückkehren wird.
31 
a. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Umstand, dass der Kläger in Deutschland mit seiner Kernfamilie zusammenlebt, in dieser Konstellation nicht allein bei der Frage eines einer Abschiebung möglicherweise entgegenstehenden innerstaatlichen Vollstreckungshindernisses von Relevanz, sondern bereits bei der Prüfung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh sowie § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu berücksichtigen.
32 
aa. Zwar trifft es zu, dass im Rahmen von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG grundsätzlich auch bei Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft für jedes Familienmitglied gesondert zu prüfen ist, ob in seiner Person ein nationales Abschiebungsverbot besteht. Gefahren, die Dritten drohen - und seien es Mitglieder der Kernfamilie -, sind in diesem Zusammenhang im Grundsatz unerheblich, denn das nationale Recht kennt keine Gewährung von „Familienabschiebeschutz“ (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, Juris Rn. 14).
33 
bb. Allerdings ist nach der überzeugenden Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (grundlegend Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 -, Juris) für die Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, bei - zwar notwendig hypothetischer, aber doch - realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation im Regelfall davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie (Eltern und minderjährige Kinder) im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehrt, und zwar auch dann, wenn einzelnen Familienmitgliedern bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für sie ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (ebd. Rn. 15 ff.). In der Konsequenz ist, so das Bundesverwaltungsgericht, in die Gefahrenprognose das Existenzminimum aller Mitglieder der Kernfamilie einzustellen. Die Fähigkeit, seine eigene Versorgung zu sichern, verliert der Sekundärmigrant, um dessen Rückführung es geht, zwar durch das Hinzutreten weiterer zurückkehrender Familienangehöriger nicht. Diese Rückkehr auch der Familienangehörigen verändert gleichwohl die für die Gefahrenprognose maßgeblichen Umstände. Denn kann er nicht auch das Existenzminimum seiner Familienangehörigen sichern, handelt es sich mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK um mehr als einen nur mittelbar auf ihn einwirkenden Umstand (ebd. Rn. 25, 27). Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Familie (auch) als Solidar-, Betreuungs- und Unterstützungsverband. Eine familiäre Lebensgemeinschaft ist eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft. Dies gilt namentlich für die familiäre Lebensgemeinschaft mit besonders schutzbedürftigen minderjährigen Kindern; Eltern sind zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder nicht nur berechtigt, sondern zugleich auch verpflichtet (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), und haben für einen angemessenen Unterhalt der Kinder zu sorgen, zumindest aber deren Existenz - auch finanziell - sicherzustellen, soweit und solange sie hierzu in der Lage sind (ebd. Rn. 26, m.w.N.).
34 
Diese aus Art. 6 GG folgenden Unterhalts- und Unterstützungs„obliegenheiten“, die in der konkret erwartbaren Rückkehrsituation ein Familienmitglied treffen und deren Erfüllung sich notwendig - positiv wie negativ - auf den gesamten Familienverband auswirkt (z.B. Anforderung an „familientaugliche“ Unterkunftsverhältnisse, Versorgungsprobleme, geringere räumliche Flexibilität), prägen zumindest normativ die Rückkehrsituation. Bei einer Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, würde dieses vor die Alternative gestellt, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig die eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch „Teilen“ mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder Freiheit der eigenen Person führt (ebd. Rn. 27, m.w.N.).
35 
cc. Ausdrücklich entschieden hat das Bundesverwaltungsgericht die Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr der Kernfamilie als Grundlage der Verfolgungs- und Gefahrenprognose zwar bislang nur für die Prüfung von § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für den Fall einer in Rede stehenden Rückkehr ins Heimatland. Diese Rechtsprechung ist jedoch auf die vorliegende Konstellation der Rückführung eines in einem anderen EU-Mitgliedstaat als Flüchtling oder subsidiär schutzberechtigt Anerkannten in diesen Staat dem Grunde nach ohne weiteres übertragbar. Denn die Regelvermutung ist Ausfluss der grund- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 GG / Art. 8 EMRK, die einer Trennung der in familiärer Gemeinschaft lebenden Kernfamilie im Regelfall entgegenstehen - was regelmäßig zur Prognose einer Rückkehr im Familienverband führt - und die die Entscheidung eines Elternteils schützen, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn (erst) damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh unvereinbare Lage herbeigeführt wird. Der grund- und konventionsrechtliche Schutz eines bestehenden Kernfamilienverbandes aber gilt unabhängig davon, ob es sich bei dem Staat, in den ein Mitglied der Kernfamilie abgeschoben werden soll, um den Herkunfts- oder einen EU-Mitgliedstaat handelt.
36 
Er prägt damit im Grundsatz eine Rückkehr auch im Rahmen des Dublin-Systems bzw. in den internationalen Schutz gewährenden EU-Mitgliedstaat im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Gerade im Zusammenhang mit Dublin-Verfahren kommt im Übrigen die große Bedeutung, die dem Schutz von Ehe und Familie beigemessen wird, in der Verfahrensausgestaltung verschiedentlich zum Tragen (vgl. Erwägungsgründe 14-17 sowie Art. 8-11 Dublin III-VO). Der - soweit ersichtlich vereinzelt gebliebenen - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Würzburg (Urteil vom 29.01.2021 - W 9 K 20.30260 -, Juris Rn. 32), wonach die im Herkunftsland drohenden Gefahren mit der Rückkehr in einen anderen europäischen Staat „nicht vergleichbar“ seien, folgt der Senat vor diesem Hintergrund nicht. Vielmehr ist im Rahmen der vom Bundesamt zu treffenden realitätsnahen Prognose mit Blick auf die im Zielstaat der Abschiebung drohenden Gefahren das im Regelfall aus Art. 6 GG / Art. 8 EMRK folgende Trennungsverbot der Kernfamilie auch dann zu berücksichtigen, wenn eine Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat in Rede steht (so i.Erg. auch OVG B.-B., Urteil vom 22.09.2020 - 3 B 33.19 -, Juris Rn. 43 f.; in diese Richtung deutend OVG NRW, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A -, Juris Rn. 207; wohl auch Sächs. OVG, Urteil vom 15.06.2020 - 5 A 382/18 -, Juris Rn. 32 ff.).
37 
Gerade bei Verfahren betreffend die Rückführung von Sekundärmigranten in einen anderen EU-Mitgliedstaat ist allerdings der realitätsnahen Betrachtung der Rückkehrsituation besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Fehlt es an einem Bezug der Mitglieder der Kernfamilie des Sekundärmigranten zu dem jeweiligen EU-Mitgliedstaat, kann sich im Einzelfall auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG / Art. 8 EMRK ein dortiger gemeinsamer Verbleib der Familie als nicht wahrscheinlich darstellen und realitätsnah daher eine alleinige Rückkehr des Sekundärmigranten in den anderen Mitgliedstaat sein; dies hätte dann zur Konsequenz, dass auch für die Frage einer gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung nur seine Situation in den Blick zu nehmen ist (Sächs. OVG, Urteil vom 15.06.2020 - 5 A 384/18.A -, Juris Rn. 38).
38 
b. Vorliegend haben die Ehefrau und die beiden gemeinsamen Kinder jedoch einen klaren Bezug zu Italien, denn Letztere wurden dort geboren und alle drei sind bzw. waren im Besitz italienischer Aufenthaltsdokumente. Unter Berücksichtigung von Art. 6 GG / Art. 8 EMRK ist unter diesen Voraussetzungen bei realitätsnaher Betrachtung davon auszugehen, dass die gesamte Familie einschließlich der Frau und der minderjährigen Kinder des Klägers entweder insgesamt nicht oder nur gemeinsam nach Italien zurückkehrt.
39 
4. Wie der Senat in seinem Urteil vom 29.07.2019 (- A 4 S 749/19 -, Juris Rn. 41) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH (Urteile vom 19.03.2019 - C-163/17 [Jawo] -, Juris Rn. 95, und - C-297/17 u.a. [Ibrahim] -, Juris Rn. 93) entschieden hat, gilt bei der Frage, inwieweit eine Rückführung von Sekundärmigranten nach Italien rechtlich zulässig ist, bei vulnerablen Asylantragstellern mit Blick auf deren erhöhte Verletzlichkeit anderes als bei gesunden und arbeitsfähigen Antragstellern.
40 
a. Während gesunde und arbeitsfähige Antragsteller, wie dargelegt, derzeit in Italien grundsätzlich nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen durch systemische Schwachstellen gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem „real risk“ einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt werden, kann bei vulnerablen Menschen im Einzelfall anderes gelten. Denn vulnerable Asylantragsteller, zu denen etwa Kinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere und erheblich kranke oder behinderte Menschen gehören, haben einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf. Sie geraten wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in eine Art. 4 GRCh / Art. 3 EMRK widersprechende Situation extremer Not; der EGMR spricht gerade im Zusammenhang mit Kindern zu Recht von „extremer Verletzlichkeit“ und davon, dass sie spezielle Bedürfnisse hätten und eines besonderen Schutzes bedürften, um eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu vermeiden (Urteil vom 04.11.2014 - „Tarakhel“ v. Switzerland, Nr. 29217/12 -, HUDOC Rn. 129).
41 
Der Senat hält angesichts der Gesamtsituation von Asylbewerbern in Italien auch weiterhin an seiner auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 04.11.2014 - „Tarakhel“ v. Switzerland, Nr. 29217/12 -, HUDOC Rn. 122) und des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 31.07.2018 - 2 BvR 714/18 - und vom 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 -, beide Juris) gegründeten Auffassung fest, dass wegen dieser besonderen Bedürfnisse und Schutzbedürftigkeit von Kindern die EU-Mitgliedstaaten zur Vermeidung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh vor der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien durch Kooperation mit den italienischen Behörden sicherstellen müssen, dass bei einer Rücküberstellung dorthin ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen wird, damit garantiert werden kann, dass der besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist. Von einer Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh Rechnung tragenden Kooperation ist jedenfalls bei Vorliegen einer hinreichend belastbaren Versorgungszusicherung der italienischen Behörden regelmäßig auszugehen.
42 
b. Soweit in der Rechtsprechung mitunter unter Berufung auf das Urteil „M.T.“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vom 18.03.2021 - M.T. v. Netherlands, Nr. 46595/19 -, HUDOC) vertreten wird, einer derartigen Kooperation bedürfe es mit Blick auf die erfolgten Rechtsänderungen nicht mehr (so etwa Sächs. OVG, Urteil vom 22.03.2022 - 4 A 389/20.A -, Juris), folgt dem der Senat nicht.
43 
So spricht bereits der Umstand, dass das Urteil in der Sache „Tarakhel“ von der Großen Kammer erlassen wurde, während es sich beim Urteil „M.T.“ um die Entscheidung einer 7er-Kammer (4. Sektion) handelt, dagegen, Letzterer ein zu großes Gewicht beizumessen. Hauptaufgabe der Großen Kammer, die gemäß Art. 26 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 24 Abs. 1 VerfO aus 17 Richtern besteht, ist die Sicherung von Kohärenz und Konsistenz der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Um diese Einheitlichkeit der Rechtsprechung und damit ein hohes Maß an Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Gleichheit vor dem Recht zu bewahren und ein Auseinanderlaufen der Kammerrechtsprechung zu verhindern, ist eine Kammer, wenn die Entscheidung einer ihr vorliegenden Frage zu einer Abweichung von einem früheren Urteil der Großen Kammer führen kann, - vorbehaltlich eines noch möglichen Widerspruchs einer Partei - nach Art. 30 EMRK, Art. 72 Abs. 2 VerfO zur Abgabe des Verfahrens an die Große Kammer verpflichtet (vgl. dazu Meyer-Ladewig/Albrecht, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, 4. Aufl. 2017, Art. 30 Rn. 3, m.w.N.). Bereits der Umstand, dass die Kammer das Verfahren nicht abgegeben hat, spricht dafür, dass sie ihre Entscheidung „M.T.“ als Anwendung der „Tarakhel“-Rechtsprechung der Großen Kammer auf den konkreten Einzelfall verstanden wissen will und nicht als Abkehr von den dort formulierten Grundsätzen.
44 
Aber auch inhaltlich vermag der Senat eine prinzipielle Abkehr des EGMR von „Tarakhel“ durch die Entscheidung „M.T.“ nicht zu erkennen. Zwar hat der EGMR in der genannten Entscheidung festgestellt, dass für Vulnerable im Einzelfall ein Aufnahmeanspruch in einer Aufnahmeeinrichtung des SAI-Systems bzw. einem CAS-Zentrum bestehen könne (Urteils-Rn. 53 f.). Bereits der weitere Zusammenhang des Urteils stützt jedoch nicht die Auffassung, der EGMR habe seine „Tarakhel“-Rechtsprechung mit diesem Urteil grundsätzlich aufgeben wollen. Der Gerichtshof ist vielmehr im konkreten Einzelfall unter Verweis auf in den Akten befindliche, nicht näher ausgeführte individuelle Umstände davon ausgegangen, dass die niederländischen Behörden die Behörden in Italien - entsprechend der „Tarakhel“-Rechtsprechung - rechtzeitig und hinreichend darüber informieren, wann genau Mutter und Kinder überstellt werden und wie sich die familiäre Situation sowie eventuelle medizinische Notwendigkeiten darstellen, sodass, so der EGMR, (in diesem Einzelfall) die weitere Versorgung in Italien sichergestellt ist (Urteils-Rn. 56). Die Kammer hat aber auch in dieser Entscheidung ausdrücklich auf die „Tarakhel“-Rechtsprechung verwiesen und insoweit keinen Zweifel daran gelassen, dass bei Vulnerablen auch weiterhin vor ihrer Rücküberstellung in behördlicher Kooperation sichergestellt werden muss, dass deren besonderer Versorgungsbedarf in Italien gewährleistet ist (vgl. Urteils-Rn. 49). Das Urteil „M.T.“ wurde vom EGMR zudem nicht aus dem Englischen weiterübersetzt oder mit einer Presseerklärung veröffentlicht (vgl. https://hudoc.echr.coe.int). Der Senat hält eine dahingehende Interpretation dieses Urteils, nun könnten alle Vulnerablen unabhängig von den ganz konkreten Umständen des Einzelfalls jederzeit sowie ohne weitere Vorkehrungen nach Italien abgeschoben werden, deshalb auch aus inhaltlichen Gründen für eine unzutreffende Überinterpretation.
45 
Dies gilt umso mehr, als der EGMR nur wenige Tage nach Ergehen des „M.T.“-Urteils in einer Entscheidung der 2. Sektion (vom 20.04.2021 - A.B. v. Finnland, Nr. 41100/19 -, BeckRS 2021, 11980 Rn. 38) offenbar vom Erfordernis individueller oder spezifischer Garantien ausgegangen ist, es jedoch im konkreten Einzelfall mangels konkreter Hinweise in den Akten nicht als erwiesen angesehen hat, dass die Kläger nicht in der Lage wären, solche Garantien vor ihrer Abschiebung nach Italien zu erhalten. Allein diese beiden Entscheidungen mit unterschiedlichem Fokus illustrieren, dass jeweils allein eine Anwendung der in der Rechtssache „Tarakhel“ aufgestellten Rechtsgrundsätze auf den entsprechenden konkreten, aus den Akten ersichtlichen Einzelfall vorgenommen wurde, jedoch keine grundsätzliche „Neujustierung“ der „Tarakhel“-Rechtsprechung erfolgt ist.
46 
5. Vorliegend fehlt es im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) an jeglicher Kooperation zwischen den deutschen und italienischen Behörden mit Blick auf eine Rückführung des Klägers und seiner Kernfamilie nach Italien.
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Es ist daher momentan nicht hinreichend sichergestellt, dass bei einer Rückkehr des Klägers nach Italien zusammen mit seiner Kernfamilie deren besonderer, sich bereits aus dem Alter der 2013 und 2015 geborenen Kinder ergebender Versorgungsbedarf gedeckt ist. Insbesondere erscheint nicht mit der erforderlichen Sicherheit gewährleistet, dass bei einer Rückkehr verfügbarer und erreichbarer Wohnraum bestünde, der Obdachlosigkeit, die jedenfalls bei kleineren Kindern auch nicht vorübergehend hinnehmbar ist (vgl. Art. 24 Abs. 2 GRCh), verhindert und so beschaffen ist, dass er den besonderen Anforderungen von Kindern entspricht und im Sinne der „Tarakhel“-Rechtsprechung sicherstellt, dass sie nicht - etwa mangels jeglicher Privatsphäre - in Situationen von unzumutbarem Stress und Sorge mit der Gefahr traumatischer Folgen geraten.
48 
Damit sind jedenfalls die besonders zu schützenden Kinder zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei einer Rückkehr nach Italien dem „real risk“ einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt.
49 
Zwar hat der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, es sei „kategorisch ausgeschlossen“, dass Familien mit Kindern bei einer Rückführung nach Italien obdachlos würden, weil bereits im Vorfeld der Abschiebung durch die italienischen Behörden sichergestellt sei, dass eine unmittelbar erreichbare Unterkunft vorhanden sei. Diese Erkenntnisse basierten, so der Beklagtenvertreter, auf der Auskunft eines Liaisonbeamten in Italien an das Sächsische Oberverwaltungsgericht im Verfahren 4 A 341/20.A.
50 
Derartige Aussagen aber können die Anforderungen, die die „Tarakhel“-Rechtsprechung an die Sicherstellung familiengerechter Unterbringung unmittelbar nach Rücküberstellung stellt, nicht erfüllen. Zwar hält es der Senat für möglich, dass die „Tarakhel“-Anforderungen nicht nur durch eine im Einzelfall erfolgende Kooperation zwischen den Behörden - insbesondere individuelle Zusicherungen - erfüllt werden, sondern gegebenenfalls auch durch eine allgemeine Erklärung der zuständigen italienischen Behörden. Voraussetzung hierfür wäre jedoch, dass sich aus einer solchen Erklärung hinreichend klar ergibt, dass die Zurverfügungstellung von geeignetem Wohnraum unmittelbar nach Rückkehr garantiert wird. Eine Einschränkung dahingehend, dass Wohnraum im Rahmen vorhandener Kapazitäten zur Verfügung gestellt wird, würde dem nicht gerecht. Vielmehr muss sich der Erklärung hinreichend klar entnehmen lassen, dass dieser Wohnraum tatsächlich und bedingungslos gewährt wird und die Zusage insbesondere nicht unter Finanzierungs- oder Kapazitätsvorbehalten steht, und dass die Überstellung zwingend unterbleibt, soweit diese Voraussetzungen nicht vollumfänglich erfüllt sind.
51 
Vorliegend fehlt es indes derzeit auch an einer solchen verifizierbaren Erklärung der italienischen Behörden. Die durch den Beklagtenvertreter erfolgte Wiedergabe dem Senat nicht schriftlich vorliegender Äußerungen eines Liaisonbeamten zu den ihm weitergegebenen, ebenfalls nicht schriftlich vorliegenden Informationen zum angeblichen Vorgehen der italienischen Behörden genügt diesen Anforderungen nicht. Zwar hat der Beklagtenvertreter in der mündlichen Verhandlung betont, dass die Angaben des Liaisonbeamten in dienstlicher Eigenschaft in einem gerichtlichen Verfahren erfolgt seien. Bereits der genaue Inhalt dieser Angaben ist dem Senat jedoch nicht bekannt, weil sie offenbar weder von der Beklagten als Erkenntnismittel in die üblichen Datenbanken eingestellt noch in dieses Verfahren eingeführt noch in das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 14.03.2022 - 4 A 341/20.A - aufgenommen wurden. Unklar ist des Weiteren, von wem der Liaisonbeamte seine Informationen hat. Damit ist es auch nicht möglich, diesen Angaben mit anderen Schilderungen der Überstellungspraxis abzugleichen.
52 
Für den Senat hat kein Anlass bestanden, diesen offenen Fragen durch eigene Anhörung des Liaisonbeamten weiter nachzugehen. Denn ein unmittelbarer und unbedingt gewährter Anspruch von Familien mit Schutzstatus auf zeitgerechte Zurverfügungstellung von familiengerechtem Wohnraum bei einer Rückkehr nach Italien ist nicht erkennbar. So sieht etwa das Gesetz 173/2020 zwar substantielle Verbesserungen der Aufnahmesituation von Personen mit einem internationalen Schutzstatus vor. Die neuen Maßnahmen werden jedoch offenbar nur im Rahmen der personellen, finanziellen und instrumentellen Ressourcen umgesetzt; so erfolgt der Zugang zu den Unterkünften allein im Rahmen der verfügbaren Plätze (BAMF, Situation des Aufnahmesystems seit der Reform des Salvini-Dekrets v. 15.07.2021; SFH, Aufnahmebedingungen in Italien - aktuelle Entwicklungen v. 10.06.2021). Auch bei dem am 08.02.2021 vom italienischen Innenministerium an alle Dublin-Units versandten Rundschreiben, in dem es u.a. heißt, Familien würden im Einklang mit der „Tarakhel“-Rechtsprechung untergebracht, handelt es sich um eine Absichtserklärung, der nicht entnommen werden kann, dass die notwendigen Voraussetzungen für familiengerechte Unterbringungen in jedem Einzelfall vorliegen (Romer, Asylmagazin 6/2021, 209). Dem entspricht es, dass die Beklagte noch in ihrer Berufungserwiderung vom 09.03.2022 ausgeführt hat, die Situation von Schutzberechtigten in Italien sei insgesamt im Vergleich zu vorherigen Jahren unverändert (S. 3).
53 
III. Infolge der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung kann auch die im Bescheid enthaltene Feststellung über das Fehlen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG keinen Bestand haben. Die Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich Italiens rechtswidrig, weil der Asylantrag des Klägers nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte. Infolgedessen entfällt auch die Grundlage für die Anordnung des auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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IV. Nachdem die Klage somit bereits mit ihrem Hauptantrag Erfolg hat, bedarf es keiner Entscheidung über den Hilfsantrag.
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V. Die Kostenentscheidung beruht auf den § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund vorliegt (§ 132 Abs. 2 VwGO). Denn seit Zulassung der Berufung durch den Senat haben weitere Gerichte erster und zweiter Instanz entschieden, dass die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in seinem Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - zur Grundlage der Rückkehrprognose (Juris Rn. 16 ff.) auf sogenannte Drittstaatenfälle zu übertragen sind (vgl. OVG Nds., Urteil vom 07.12.2021 - 10 LB 257/20 -, Juris Rn. 20; VG Ansbach, Urteil vom 28.12.2021 - AN 17 K 19.50679 -, Juris Rn. 45; VG Aachen, Urteil vom 07.03.2022 - 5 K 1494/18.A -, Juris Rn. 65 ff.; wohl auch VG Sigmaringen, Urteil vom 21.02.2022 - A 7 K 10488/17 -, Juris Rn. 53). Aufgrund der mithin weiter verfestigten und einheitlichen Rechtsprechung hält der Senat die im Zulassungsbeschluss aufgeworfene Frage nicht länger für klärungsbedürftig. Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen daher nicht vor.

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