Urteil vom Bundesfinanzhof (3. Senat) - III R 45/08

Tatbestand

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I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war Inhaber eines Betriebs zur Herstellung von ...-Maschinen (Betrieb A) und eines Großhandelsbetriebs (Betrieb B). Für beide Betriebe waren unterschiedliche Steuernummern vergeben.

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Der Kläger führte vor dem Finanzgericht (FG) einen Rechtsstreit, in dem er die Herabsetzung des Gewerbesteuermessbetrages 1990 für den Betrieb B begehrte, dem die Steuernummer Y zugeteilt war. Der Messbescheid war nach einer Außenprüfung ergangen. In einem Erörterungstermin vom 8. Juli 2003 schlug die Berichterstatterin eine tatsächliche Verständigung und die Erledigung der Hauptsache vor. Die Beteiligten stimmten dem Vorschlag zu, aufgrund dessen der Gewerbesteuermessbetrag für den Betrieb B zu mindern gewesen wäre. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erließ einen geänderten Gewerbesteuermessbescheid 1990 vom 26. August 2003, der dem Ergebnis des Erörterungstermins Rechnung tragen sollte. Allerdings verwechselte das FA die beiden Betriebe des Klägers. Es verminderte die Besteuerungsgrundlagen für den Betrieb A, für den im Jahr 1997 ein einheitlicher Messbetrag 1990 von 581.187 DM bestandskräftig festgesetzt worden war, und setzte nunmehr einen einheitlichen Messbetrag von 247.635,02 € (entspricht 484.332 DM) fest. Es vermerkte in dem Bescheid die Steuernummer für den Betrieb A (X). Die Angabe der jeweiligen Steuernummer war in den Gewerbesteuermessbescheiden für die beiden Betriebe das einzige Unterscheidungsmerkmal. Der Bescheid vom 26. August 2003 ging im September 2003 dem Klägervertreter zu. Dieser erklärte mit Schreiben vom 16. September 2003 den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt.

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Im Jahr 2005 bemerkte das FA nach einem Hinweis der Stadt S die Verwechslung. Unter dem Datum des 29. April 2005 erließ es einen nach § 129 der Abgabenordnung (AO) berichtigten Bescheid, durch den der Gewebesteuermessbetrag 1990 für den Betrieb A wieder auf den ursprünglichen Betrag von 297.156,19 € (entspricht 581.187 DM) heraufgesetzt wurde. Außerdem erließ es auch für den Betrieb B einen geänderten Bescheid und verminderte den Messbetrag auf 4.250,37 € (entspricht 8.313 DM).

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Gegen den Bescheid vom 29. April 2005 für den Betrieb A wandte sich der Kläger ohne Erfolg mit Einspruch (Einspruchsentscheidung vom 9. August 2006).

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Das FG wies die anschließend erhobene Klage ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger sei verpflichtet gewesen, an der Umsetzung der tatsächlichen Verständigung vom 8. Juli 2003 mitzuwirken. Obwohl dem Klägervertreter die Fehlerhaftigkeit des Bescheids vom 26. August 2003 aufgefallen sei, habe er den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Wegen der für den Betrieb A eingetretenen Festsetzungsverjährung hätte das FA weder den Bescheid vom 26. August 2003 noch den vom 29. April 2005 erlassen dürfen. Hätte der Kläger bzw. sein Prozessvertreter den Messbescheid für den Betrieb A unmittelbar nach dessen Zugang beanstandet, so wäre der Fehler korrigiert worden und es wäre nicht zu der Steuerminderung für beide Einzelfirmen gekommen. Vor diesem Hintergrund könne der Kläger nicht seine Zustimmung zu einer Änderung des fehlerhaften Bescheids vom 26. August 2003 verweigern, ohne gegen den Grundsatz von Treu und Glauben zu verstoßen.

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Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 172 Abs. 1 AO. Die Rechtsprechung, die das FG zur Begründung seiner Entscheidung herangezogen habe, sei zu § 94 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsabgabenordnung entwickelt worden. Aufgrund der mit Inkrafttreten der AO 1977 vollzogenen Neuregelung der verfahrensrechtlichen Änderungsvorschriften sei diesen Rechtsgrundsätzen der Boden entzogen worden. Der Gesetzgeber habe den Konflikt zwischen materieller Rechtmäßigkeit einer Steuerfestsetzung und Rechtssicherheit abschließend geregelt. Unabhängig hiervon sei der angefochtene Gewerbesteuermessbescheid auch deshalb rechtswidrig, weil zum Zeitpunkt seines Erlasses bereits Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Selbst wenn er, der Kläger, die Zustimmung zu einer Änderung erteilt hätte, hätte der Bescheid nicht ergehen dürfen.

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Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil und den Gewerbesteuermessbescheid 1990 vom 29. April 2005 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 9. August 2006 aufzuheben.

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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

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Der Kläger sei aufgrund der Einigung im Erörterungstermin verpflichtet gewesen, an deren Umsetzung mitzuwirken. Seinem Prozessvertreter sei die Fehlerhaftigkeit des Bescheids aufgefallen, gleichwohl habe er den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass der fehlerhafte Gewerbesteuermessbescheid vom 26. August 2003 am 12. März 2004 durch die Stadt S zur Post gegeben und erst danach bekanntgegeben worden sei. Der innerhalb der Jahresfrist des § 171 Abs. 2 AO im März 2005 von der Stadt S gestellte Antrag auf Aufhebung des fehlerhaften Bescheids führe nach § 171 Abs. 3 AO dazu, dass bei Erlass des angefochtenen Bescheids vom 29. April 2005 die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen gewesen sei.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Bescheids vom 29. April 2005 sowie der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 9. August 2006 (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FA durfte den angefochtenen Gewerbesteuermessbescheid 1990 vom 29. April 2005 für den Betrieb A nicht erlassen, da die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen war.

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1. Nach § 169 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO sind die Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist; ebenso unzulässig ist nach Ablauf der Frist eine Berichtigung wegen offenbarer Unrichtigkeit (§ 129 AO). Dies gilt auch für Gewerbesteuermessbescheide (§ 184 Abs. 1 Satz 3 AO). Nach den nicht mit Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) war die Festsetzungsfrist für einen den Betrieb A betreffenden Gewerbesteuermessbescheid 1990 spätestens im Jahr 1998 abgelaufen. Trotz Verjährung erließ das FA aufgrund einer Verwechslung für den Betrieb A den Bescheid vom 26. August 2003, der zwar rechtswidrig, aber rechtlich existent und nicht etwa nichtig i.S. von § 125 AO ist (Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 6. Mai 1994 V B 28/94, BFH/NV 1995, 275; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, vor § 169 AO Rz 2; Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 169 Rz 46).

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2. Eine Möglichkeit, den Bescheid vom 26. August 2003 nach § 129 AO zu berichtigen, bestand nicht.

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a) Zwar hat der Senat mit Urteil vom 14. Juni 1991 III R 64/89 (BFHE 165, 438, BStBl II 1992, 52) entschieden, dass ein Berichtigungsbescheid nach § 129 AO i.V.m. § 171 Abs. 2 AO auch dann noch erlassen werden kann, wenn der zu berichtigende Bescheid erst nach Ablauf der Festsetzungsverjährung ergangen ist (a.A. Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 171 AO Rz 7; Pahlke/ Koenig/Cöster, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 171 Rz 18; FG Hamburg, Urteil vom 17. Dezember 1993 V 178/91, Entscheidungen der Finanzgerichte 1994, 642; offen gelassen im BFH-Urteil vom 9. November 1994 XI R 12/94, BFH/NV 1995, 563).

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b) Jedoch konnte im Streitfall auch unter Zugrundelegung dieser Rechtsansicht ein Berichtigungsbescheid nicht mehr ergehen, da die Jahresfrist des § 171 Abs. 2 AO abgelaufen war. Der Bescheid vom 26. August 2003 ging im September 2003 dem Klägervertreter zu, nicht erst im März 2004, als die Stadt S den Bescheid übersandte. Auch wenn die Bekanntgabe oder Zustellung von Gewerbesteuermessbescheiden in Nordrhein-Westfalen den hebeberechtigten Gemeinden übertragen ist, war das FA dennoch berechtigt, den Messbescheid selbst bekanntzugeben (§ 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Zuständigkeit für die Festsetzung und Erhebung der Realsteuern vom 16. Dezember 1981, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1981, 732). Zu dem Zeitpunkt, als der Berichtigungsbescheid vom 29. April 2005 dem Kläger bekanntgegeben wurde, war die Jahresfrist nach § 171 Abs. 2 AO bereits verstrichen.

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3. Eine sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches) ergebende Verpflichtung des Klägers, dem Erlass eines Aufhebungsbescheids nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO zuzustimmen, würde keine Aufhebungsmöglichkeit eröffnen. Eine Aufhebung des Gewerbesteuermessbescheids 1990 vom 26. August 2003 wäre wegen des Eintritts der Festsetzungsverjährung auch mit Zustimmung des Klägers nicht möglich.

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4. Zutreffend hat das FG eine Aufhebung des Berichtigungsbescheids wegen widerstreitender Festsetzungen abgelehnt. Nachdem das FA nach Entdeckung der Verwechslung auch den Gewerbesteuermessbetrag für den Betrieb B korrigiert hatte, lagen zwar widerstreitende Steuerfestsetzungen vor. Die Voraussetzungen für eine Änderung nach § 174 AO sind jedoch nicht erfüllt. Gemäß § 174 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 AO ist ein fehlerhafter Bescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern, wenn ein bestimmter Sachverhalt in unvereinbarer Weise in mehreren Bescheiden zugunsten eines Steuerpflichtigen berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. In sinngemäßer Anwendung des § 174 Abs. 1 Satz 2 AO kann der fehlerhafte Bescheid trotz Festsetzungsverjährung und ohne Antrag (§ 174 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 AO) noch bis zum Ablauf eines Jahres, nachdem der letzte der betroffenen Steuerbescheide unanfechtbar geworden ist, aufgehoben oder geändert werden (Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 27). Der fehlerhafte Bescheid darf nach § 174 Abs. 2 Satz 2 AO allerdings nur dann geändert werden, wenn die Berücksichtigung des Sachverhalts auf einen Antrag oder eine Erklärung des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist. Der Steuerpflichtige muss selbst, allein oder überwiegend, die fehlerhafte Berücksichtigung verursacht haben (BFH-Urteile vom 6. September 1995 XI R 37/95, BFHE 179, 196, BStBl II 1996, 148; vom 13. November 1996 XI R 61/96, BFHE 181, 408, BStBl II 1997, 170; BFH-Beschluss vom 24. Juni 2004 XI B 63/02, BFH/NV 2005, 1; Forchhammer in Leopold, Madle, Rader, AO, § 174 Rz 23). Dies ist hier zu verneinen. Der Erlass des fehlerhaften Bescheids vom 26. August 2003 für den Betrieb A war nicht auf einen Antrag oder eine Erklärung des Klägers zurückzuführen, sondern beruhte auf einem Versehen des FA.

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