Beschluss vom Bundesfinanzhof (10. Senat) - X B 184/10
Tatbestand
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I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) haben im Streitjahr 1995 u.a. Einkünfte aus gewerblichen Mitunternehmerschaften erzielt. In dem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen erstmaligen Einkommensteuerbescheid 1995 gewährte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) die Tarifbegrenzung nach § 32c des Einkommensteuergesetzes in der damals geltenden Fassung (EStG a.F.) wegen eines Veranlagungsfehlers für die gesamten gewerblichen Beteiligungseinkünfte (seinerzeit 1.596.903 DM).
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Mit einem auf § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) gestützten Änderungsbescheid vom 4. Dezember 2001 korrigierte das FA den Fehler und gewährte die Tarifbegrenzung nur noch für einen Teilbetrag von 424.683 DM. Ferner nahm es zahlreiche weitere Änderungen der Steuerfestsetzung vor. Insgesamt ergab sich eine Einkommensteuer-Nachzahlung von 89.292 DM, wovon unstreitig ca. 68.000 DM auf die Korrektur des Veranlagungsfehlers entfielen. Zugleich setzte das FA --bezogen auf den gesamten Nachzahlungsbetrag-- Zinsen nach § 233a AO in Höhe von 24.976 DM nach einem Zinslauf von 56 Monaten fest. Die Kläger hatten nach ihrer Darstellung ihre freien Geldmittel in der Zeit von 1997 bis 2001 mit einem Zinssatz von durchschnittlich ca. 3 % angelegt und die Zinserträge zum jeweils geltenden Spitzensteuersatz versteuert. Einspruch und Klage gegen die Zinsfestsetzung blieben ohne Erfolg.
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Nach Abschluss des Rechtsmittelverfahrens gegen die Zinsfestsetzung stellten die Kläger den im vorliegenden Verfahren streitgegenständlichen Antrag auf Erlass der Nachforderungszinsen aus sachlichen Billigkeitsgründen. Der Antrag blieb --ebenso wie nachfolgend Einspruch und Klage-- ohne Erfolg. Das Finanzgericht führte aus, sowohl der gesetzlich typisierte Zinssatz von 6 % als auch die Steuerpflicht der aus der zwischenzeitlichen Geldanlage erzielten Guthabenzinsen und die steuerliche Nichtabziehbarkeit der Nachforderungszinsen entsprächen dem Willen des Gesetzgebers, was eine sachliche Unbilligkeit ausschließe. Zinsen nach § 233a AO seien als Gegenleistung für die Möglichkeit zur Kapitalnutzung anzusehen; auf die Ursache der eingetretenen Verzögerung der Steuerfestsetzung komme es --selbst bei langer Verfahrensdauer oder Fehlern des FA-- nicht an.
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Mit ihrer Beschwerde begehren die Kläger die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache.
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Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist unbegründet.
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Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung
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a) Die Kläger halten die Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam, ob das kumulierte Auftreten von Einzelaspekten, die nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei isolierter Betrachtung in der Regel noch keine sachliche Unbilligkeit begründen, insbesondere das kumulierte Auftreten der Aspekte
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- Diskrepanz zwischen dem beim Steuerpflichtigen eingetretenen Liquiditätsvorteil und dem vom FA abgeschöpften Betrag,
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- einseitiges Verschulden des FA an der verspäteten Steuerfestsetzung,
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- fehlende Erkennbarkeit des Fehlers der ursprünglichen Steuerfestsetzung für den Steuerpflichtigen und
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- erhebliche Dauer des Zinslaufs
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dazu führen kann, dass die Erhebung von Nachforderungszinsen nicht mehr mit dem Zweck des § 233a AO vereinbar ist und die Zinsen deshalb nach § 227 AO zu erlassen sind.
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Sie weisen hierzu darauf hin, dass das FA nicht nur die 6 % Nachforderungszinsen, sondern auch noch 50 % Einkommensteuer auf den zwischenzeitlich erzielten Zinsertrag von 3 %, insgesamt also einen Satz von jährlich 7,5 % des angelegten Kapitals abgeschöpft habe. Da sie tatsächlich nur einen Zinssatz von 3 % hätten erzielen können, hätten sie zur Begleichung dieser 7,5 % den Differenzbetrag von 4,5 % des Kapitals aus versteuertem Einkommen dazulegen müssen. Im Rahmen der Versteuerung dieses zusätzlich erforderlichen Einkommens hätten sie --bezogen auf den ursprünglichen Kapitalbetrag-- weitere 4,5 % Einkommensteuer zahlen müssen. Insgesamt hätten sie an den Fiskus daher jährlich 12 % (7,5 % + 4,5 %) des angelegten Kapitals zu entrichten gehabt; dem stehe ein Netto-Zinsertrag von lediglich 1,5 % gegenüber. Die Belastung durch Zinsen und Steuern liege daher bei 800 % des Kapitalertrags. Dies sei unverhältnismäßig.
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b) Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das (abstrakte) Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Außerdem muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärungsfähig sein (BFH-Beschluss vom 14. November 2005 II B 51/05, BFH/NV 2006, 305, unter II.1.).
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Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.
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aa) Soweit sich die Kläger --mittelbar-- gegen die gesetzlichen Regelungen wenden, nach denen die gemäß § 233a AO festzusetzenden Zinsen monatlich 0,5 % betragen (§ 238 Abs. 1 Satz 1 AO) und damit den in den Jahren 1997 bis 2001 erzielbaren Anlagezinssatz übersteigen, und einerseits zwar die erzielten Guthabenzinsen einkommensteuerpflichtig sind (§ 20 Abs. 1 Nr. 7 EStG), andererseits aber die gezahlten Nachforderungszinsen einkommensteuerrechtlich nicht abziehbar sind (§ 12 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG), fehlt es an der Klärungsbedürftigkeit der hiermit in Zusammenhang stehenden Fragen in einem künftigen Revisionsverfahren im Streitfall, der sich auf ein --vom Zinsfestsetzungsverfahren zu trennendes-- Billigkeitsverfahren beschränkt.
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Denn die Einwendungen der Kläger betreffen --ungeachtet des Umstands, dass sie dies ausdrücklich außer Streit stellen wollen-- im Kern die Verfassungsmäßigkeit der dargestellten gesetzlichen Regelungen, insbesondere die Fragen, ob der in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO genannte Prozentsatz sich noch innerhalb der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers bewegt, und ob das für Nachforderungszinsen geltende Abzugsverbot bei gleichzeitiger Steuerpflicht von Guthabenzinsen mit dem verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz vereinbar ist. Diese Fragen stellen sich aber nicht allein in wenigen atypischen Einzelfällen, sondern bei nahezu jeder Festsetzung von Nachforderungszinsen.
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Nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) als auch des BFH dürfen Billigkeitsmaßnahmen jedoch nicht die einem gesetzlichen Steuertatbestand innewohnende Wertung des Gesetzgebers generell durchbrechen oder korrigieren, sondern nur einem ungewollten Überhang des gesetzlichen Steuertatbestandes abhelfen. Daraus folgt, dass mit verfassungsrechtlich gebotenen Billigkeitsmaßnahmen nicht die Geltung des Gesetzes unterlaufen werden kann. Müssten solche Maßnahmen ein Ausmaß erreichen, dass sie die allgemeine Geltung des Gesetzes aufhöben, wäre das Gesetz als solches verfassungswidrig (vgl. zum Ganzen BVerfG-Beschlüsse vom 5. April 1978 1 BvR 117/73, BVerfGE 48, 102, unter C.II.3., und vom 3. September 2009 1 BvR 2539/07, BFH/NV 2009, 2115, unter III.2.a; BFH-Urteil vom 25. November 1997 IX R 28/96, BFHE 185, 94, BStBl II 1998, 550, unter II.1.b).
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Die genannten Fragen könnten daher nur Gegenstand eines Rechtsmittelverfahrens gegen die Zinsfestsetzung als solche sein (vgl. hierzu auch das von den Klägern angeführte Revisionsverfahren I R 80/10), sind aber nicht im hier zu beurteilenden Billigkeitsverfahren klärungsfähig.
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bb) Die weitere Frage, ob eine Kumulation von Einzelaspekten dazu führen kann, dass die Festsetzung von Nachforderungszinsen im jeweiligen Einzelfall als sachlich unbillig zu beurteilen ist, ist nicht klärungsbedürftig. Denn es liegt auf der Hand, dass sich die Wertung eines bestimmten Ergebnisses als "unbillig" auch aus einer Kumulation von Einzelaspekten ergeben kann (vgl. hierzu auch die Sachverhaltsgestaltung, die dem von den Klägern selbst angeführten BFH-Urteil in BFHE 185, 94, BStBl II 1998, 550 zugrunde lag und durch eine Kumulation von drei Einzelaspekten --Fehler des FA, sofortiger Hinweis des Steuerpflichtigen an das FA, zinsloses Vorhalten des Nachzahlungsbetrags auf dem Girokonto-- gekennzeichnet war).
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Ob jedoch im jeweiligen Einzelfall eine solche Wertung verschiedener Aspekte als "bei kumulativer Betrachtung unbillig" vorzunehmen ist, ist als Würdigung tatsächlicher Art grundsätzlich der Beurteilung durch die jeweilige Tatsacheninstanz zugewiesen. Diese Frage hat daher keine grundsätzliche Bedeutung, zumal abstrakte Kriterien für die von der Tatsacheninstanz vorzunehmende Gewichtung einer --prinzipiell unbegrenzten-- Vielzahl einzubeziehender Einzelaspekte nicht aufgestellt werden können. Ob im konkreten Fall --wie die Kläger meinen--- eine andere Würdigung nahegelegen hätte, ist eine Frage der Richtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, die die Zulassung der Revision nicht rechtfertigt.
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Referenzen
- 1 BvR 117/73 1x (nicht zugeordnet)
- § 238 Abs. 1 Satz 1 AO 2x (nicht zugeordnet)
- Urteil vom Bundesfinanzhof (1. Senat) - I R 80/10 1x
- 1997 IX R 28/96 1x (nicht zugeordnet)
- EStG § 20 1x
- § 233a AO 4x (nicht zugeordnet)
- 1 BvR 2539/07 1x (nicht zugeordnet)
- § 227 AO 1x (nicht zugeordnet)
- EStG § 12 1x
- 2005 II B 51/05 1x (nicht zugeordnet)