Beschluss vom Bundesfinanzhof (11. Senat) - XI B 97/10

Tatbestand

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I. Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) legte am 7. August 2009 zunächst gegen die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide für das I. bis IV. Quartal 1993 sowie gegen die Festsetzung von Verspätungszuschlägen zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für das IV. Quartal 1993 Einspruch ein. Unter dem 27. Oktober 2009 legte er auch gegen den Umsatzsteuerbescheid für 1993 Einspruch ein. Zur Begründung führte er aus, die Bescheide seien ihm (seinerzeit) nicht wirksam zugegangen. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) verwarf die Einsprüche als unzulässig.

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Das Finanzgericht (FG) gab der Klage antragsgemäß statt und hob den Umsatzsteuerbescheid für 1993 sowie die Bescheide über Verspätungszuschläge zur Umsatzsteuer-Vorauszahlung für das IV. Quartal 1993 sowie zur Umsatzsteuer für 1993 "zur Beseitigung des Rechtsscheins" auf. Das FA habe nicht nachgewiesen, dass die Bescheide ordnungsgemäß bekanntgegeben worden seien. Es sei wegen der fehlenden Steuerakten nicht mehr überprüfbar, ob das FA eine Zustellung der Steuerbescheide an den Kläger unter dem vom Postamt mitgeteilten Postfach versucht habe. Das FG sei daher nicht davon überzeugt, dass die Voraussetzungen einer wirksamen öffentlichen Zustellung eingehalten worden seien.

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Das FA macht mit seiner Beschwerde geltend, die Revision sei zuzulassen wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--), zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) und weil ein Verfahrensfehler vorliege, auf dem die Vorentscheidung beruhen könne (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist teilweise unzulässig und teilweise unbegründet, so dass sie insgesamt als unbegründet zurückzuweisen ist (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26. September 2005 XI B 57/04, BFH/NV 2006, 517; vom 26. Oktober 2011 IV B 139/10, BFH/NV 2012, 263).

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1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

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a) Wird die Beschwerde mit der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache begründet (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), so muss zur Erfüllung der Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO in der Beschwerdebegründung eine bestimmte --abstrakte-- klärungsbedürftige und in dem angestrebten Revisionsverfahren auch klärbare Rechtsfrage herausgestellt und --unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Literatur-- deren Bedeutung für die Allgemeinheit substantiiert dargetan werden (Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 116 Rz 26, 32, m.w.N.). Dazu gehört auch, dass sich der Beschwerdeführer mit der bereits vorhandenen höchstrichterlichen Rechtsprechung auseinandersetzt und substantiiert darlegt, weshalb nach seiner Ansicht diese Rechtsprechung keine Klärung herbeigeführt habe (vgl. z.B. Gräber/Ruban, a.a.O., § 116 Rz 32, 33, m.w.N. aus der Rechtsprechung des BFH).

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b) Das FA hält für grundsätzlich klärungsbedürftig, "welche Anforderungen an den Beweis über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine öffentliche Zustellung nach Vernichtung der Steuerakten aufgrund des Ablaufs der Aufbewahrungspflichten zu stellen sind". Es verweist in diesem Zusammenhang u.a. darauf, mit der Angelegenheit seien der Landtag und Ministerien der Landesregierung sowie die Oberfinanzdirektion befasst gewesen, ohne dass vom Kläger oder sonst irgendjemand geltend gemacht worden sei, es fehle an einer wirksamen öffentlichen Zustellung.

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Das FA hat nicht entsprechend § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO dargetan, dass sich die vorgetragene Rechtsfrage nicht auf der Grundlage der bereits ergangenen Rechtsprechung klären ließe. Soweit es sich im Wesentlichen auf die --außergewöhnlichen-- Umstände des Streitfalls bezieht, betreffen diese einen konkreten Einzelfall und sind als solche nicht geeignet zu begründen, dass die Klärung der Rechtsfrage im Interesse der Allgemeinheit liegt (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 23. August 2011 IX B 63/11, BFH/NV 2012, 53, unter 1.; vom 10. November 2011 V B 6/11, BFH/NV 2012, 459, unter II.a).

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2. Das FA hat ferner nicht dargetan, dass wegen einer Divergenz die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des BFH erfordere (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO).

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a) Zur Zulässigkeit einer auf Divergenz gestützten Nichtzulassungsbeschwerde muss der Beschwerdeführer dartun, dass das vorinstanzliche Gericht bei einem gleichen oder vergleichbaren Sachverhalt in einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage dem angefochtenen Urteil einen abstrakten Rechtssatz zugrunde gelegt hat, der von einem --ebenfalls tragenden-- abstrakten Rechtssatz einer Entscheidung des BFH abweicht. Das setzt voraus, dass der Beschwerdeführer die betreffenden Rechtssätze der Vorentscheidung und des BFH so genau bezeichnet, dass die behauptete Abweichung erkennbar wird (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 48 ff. und § 116 Rz 42 f.). Ein Abweichen in der Würdigung von Tatsachen oder eine fehlerhafte Umsetzung von Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Besonderheiten des Einzelfalls oder bloße Subsumtionsfehler des FG geltend zu machen, genügt nicht (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 25. Oktober 2004 III B 131/03, BFH/NV 2005, 339; vom 18. Mai 2011 XI B 57/10, BFH/NV 2011, 1704).

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b) Soweit sich das FA in diesem Zusammenhang auf den BFH-Beschluss vom 30. Januar 2009 VII B 235/08 (BFH/NV 2009, 1077) beruft, fehlt es bereits an einem vergleichbaren Sachverhalt, weil das FG dort zu der Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) gelangt war, dass sich die wirksame Bekanntgabe der Steuerbescheide aus den dortigen Vollstreckungsakten hinreichend sicher ergab. Davon war im vorliegenden Streitfall das FG hingegen nicht überzeugt. Überdies fehlt in der Beschwerdeschrift die erforderliche Gegenüberstellung divergierender Rechtssätze (Beschwerdeschrift, S. 8).

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c) Eine Divergenz in dem vorbezeichneten Sinne besteht auch nicht zu der vom FA genannten Entscheidung des 15. Senats des Niedersächsischen FG vom 9. März 2010  15 V 428/09 zu einer im Streitfall ergangenen Pfändungs- und Einziehungsverfügung. Denn die Entscheidung des 15. Senats des Niedersächsischen FG erging in einem summarischen Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung, bei dem in der Regel auf der Grundlage einer eingeschränkten Sachverhaltsermittlung entschieden wird (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 22. Januar 1985 VIII R 43/84, BFHE 144, 533, BStBl II 1986, 136, unter 3., m.w.N.; Gräber/Koch, a.a.O., § 69 Rz 120 ff.).

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Das FA führt in der Beschwerdeschrift selbst aus, der 15. Senat des Niedersächsischen FG habe in dem bezeichneten Beschluss entschieden, dass "nach summarischer Prüfung" keine Zweifel an der wirksamen Bekanntgabe der Bescheide bestünden (Beschwerdeschrift, S. 9).

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3. Die Revision ist schließlich auch nicht wegen eines Verfahrensfehlers des FG zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

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a) Das FA trägt hierzu zum einen vor, das FG habe bei seiner Überzeugungsbildung nach den vorgelegten Akten klar feststehende Tatsachen unberücksichtigt gelassen. Denn aus den Adressen auf den noch vorhandenen Rückstandsanzeigen in der dem FG vorgelegten Vollstreckungsakte sei ersichtlich, dass das FA zunächst das vom Postamt mitgeteilte Postfach "edv-mäßig gespeichert" habe; aus der später (am 18. Oktober 1995) vorgenommenen Änderung der Speicherung in "unbekannt verzogen" ergebe sich der einzig denkbare Schluss, dass man vor dieser Änderung unter der Adresse des Postfachs offensichtlich einen vergeblichen Zustellungsversuch unternommen habe.

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Damit hat das FA jedoch keinen Verfahrensfehler dargelegt, auf dem das FG-Urteil i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO "beruhen" könnte. Denn es macht insoweit nur geltend, das FG habe aus dem Akteninhalt nicht die --nach Auffassung des FA-- zwingende Schlussfolgerung gezogen und seine Entscheidung sei daher inhaltlich falsch. Mit derartigen Einwendungen gegen die materielle Richtigkeit der Vorentscheidung einschließlich der Tatsachen- und Beweiswürdigung macht das FA indes keinen Grund für die Zulassung der Revision geltend (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 2. Oktober 2007 IX B 24/07, BFH/NV 2008, 92; vom 28. November 2008 VIII B 206/07, BFH/NV 2009, 601).

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b) Zum anderen sieht das FA einen Verfahrensfehler darin, dass das FG nicht auch über die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide für das I. bis IV. Quartal 1993 entschieden habe. Diese Bescheide seien gleichfalls Gegenstand des Klageverfahrens gewesen. Sie wären nach dem BFH-Urteil vom 15. Juni 1999 VII R 3/97 (BFHE 189, 14, BStBl II 2000, 46) nur dann durch einen Umsatzsteuer-Jahresbescheid --auf andere Weise-- erledigt worden, wenn auf die Vorauszahlungsbescheide tatsächlich ein Umsatzsteuer-Jahresbescheid gefolgt sei. Nach dem Urteil des FG sei aber --mangels ordnungsgemäßer Zustellung-- gerade kein derartiger wirksamer Jahresbescheid nachgefolgt. Das FG habe die Sache somit verfahrensfehlerhaft nur unvollständig erledigt.

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Die Beschwerde ist insoweit aber unbegründet. Denn ausweislich der einleitenden Bemerkung des FG in seinem Urteil haben die Beteiligten nur darüber gestritten, "ob der Umsatzsteuerbescheid 1993 sowie Verspätungszuschläge betreffend die 4. Vorauszahlung zur Umsatzsteuer bestandskräftig gegenüber dem Kläger festgesetzt wurden". Von den Vorauszahlungsbescheiden für das I. bis IV. Quartal 1993 war danach keine Rede. Sie waren auch nicht Gegenstand des insoweit maßgeblichen Klageantrags (vgl. BFH-Beschluss vom 29. August 2011 II B 86/10, BFH/NV 2012, 286, unter 1.a bb) des Klägers. Deshalb bestand für das FG keine Veranlassung, sich zu diesen Bescheiden zu äußern.

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