Beschluss vom Bundesfinanzhof (5. Senat) - V B 103/18

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 1. November 2018 11 K 237/17 aufgehoben und das Verfahren bis zum Ergehen einer Entscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache Peters C-700/17 (Aktenzeichen des Bundesfinanzhofs: XI R 23/15) ausgesetzt.

Tatbestand

I.

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Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betrieb im Streitjahr 2009 ein medizinisches Labor. Die Klägerin untersuchte biologisches Probenmaterial (Blutproben oder Serum), das ihr von Ärzten und Heilpraktikern zugesandt wurde. Sie untersuchte diese Proben labortechnisch zur Bestimmung von IgG-Antikörpern beim Nachweis von Nahrungsmittelallergien.

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Ihre Aufträge erhielt die Klägerin von den jeweiligen Patienten, gegenüber denen sie ihre Leistungen auch abrechnete. Die Klägerin beschäftigte in ihrem Labor durchschnittlich vier Arbeitnehmer, von denen zwei die Berufsausbildung zur technischen Assistentin in der Medizin hatten. Die "Befundung" der Laborergebnisse wurde seitens der Klägerin durch einen Doktor der Biologie und einen Doktor der Chemie vorgenommen. Das Labor stand unter Leitung eines Allgemeinmediziners, der die Analytik der Testverfahren und auffällige Befunde kontrollierte.

3

Im Anschluss an eine Außenprüfung ging der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt) davon aus, dass die Leistungen der Klägerin steuerpflichtig seien und erließ einen entsprechenden Änderungsbescheid, der im Einspruchsverfahren geändert wurde. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

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Demgegenüber gab das Finanzgericht (FG) der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2016, 1825 veröffentlichten Urteil statt. Danach sind die Leistungen nach § 4 Nr. 14 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) i.d.F. des Streitjahres (2009) steuerfrei. Unter Berücksichtigung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des Bundesfinanzhofs (BFH) komme es für die Steuerfreiheit nicht auf ein zwischen dem Behandelnden und dem Patienten bestehendes Vertrauensverhältnis an.

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Der erkennende Senat hob das Urteil des FG mit Urteil vom 24. August 2017 V R 25/16 (BFHE 259, 171) auf und verwies die Sache an das FG zurück. Nach dem BFH-Urteil können medizinische Analysen, die von einem in privatrechtlicher Form organisierten Labor außerhalb der Praxisräume des praktischen Arztes durchgeführt werden, der sie angeordnet hat, nicht gemäß § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG, sondern nur nach § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG steuerfrei sein. Im zweiten Rechtsgang sollte das FG hierzu weitere Feststellungen treffen.

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Im Nachgang zum BFH-Urteil in BFHE 259, 171 legte der XI. Senat des BFH dem EuGH mit Beschluss vom 11. Oktober 2017 XI R 23/15 (BFHE 259, 567, BStBl II 2018, 109) insbesondere die Frage zur Vorabentscheidung vor:

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Beurteilt sich die Steuerfreiheit von Heilbehandlungen eines Facharztes für klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik im Bereich der Humanmedizin unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL oder nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL?

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Hierüber hat der EuGH in der Rechtssache Peters C-700/17 zu entscheiden.

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Im zweiten Rechtsgang machte die Klägerin geltend, dass das finanzgerichtliche Verfahren bis zum Ergehen eines EuGH-Urteils in der Rechtssache Peters nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auszusetzen sei. Im Streitfall sei ebenso wie in der Rechtssache Peters über die Steuerfreiheit medizinischer Laborleistungen zu entscheiden. Sollte der EuGH dabei in der Rechtssache Peters die Anwendung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL bejahen, seien ihre Leistungen entgegen dem Senatsurteil in BFHE 259, 171 nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG steuerfrei. Daher sei eine Aussetzung geboten.

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Demgegenüber lehnte das FG die Verfahrensaussetzung bis zum Abschluss der Rechtssache Peters ab. Auf den Ausgang des EuGH-Verfahrens komme es im Hinblick auf die im zweiten Rechtsgang nach § 126 Abs. 5 FGO bestehende Bindung nicht an.

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Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde. § 126 Abs. 5 FGO stehe der Verfahrensaussetzung nicht entgegen. Diese Bindungswirkung entfalle, wenn es zwischenzeitlich zu einer Rechtsprechungsänderung gekommen sei. Eine derartige Rechtsprechungsänderung sei im Hinblick auf die Rechtssache Peters möglich.

Entscheidungsgründe

II.

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Die nach § 128 Abs. 1 FGO zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verfahren ist bis zum Ergehen einer Entscheidung durch den EuGH in der Rechtssache Peters auszusetzen.

13

1. Das Verfahren kann gemäß § 74 FGO ausgesetzt werden, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einem Rechtsverhältnis abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist (BFH-Urteil vom 12. Juni 1997 I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38; BFH-Beschluss vom 21. Dezember 2005 III B 145/05, BFH/NV 2006, 1103). Die Aussetzung nach § 74 FGO kommt auch dann in Betracht, wenn die Beantwortung von Rechtsfragen vorgreiflich ist, die der BFH dem EuGH vorgelegt hat (BFH-Beschluss vom 12. Januar 2012 V R 7/11, BFH/NV 2012, 817).

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Die Aussetzung unterliegt dabei dem Ermessen des Gerichts, das prozessökonomische Gesichtspunkte und die Interessen der Verfahrensbeteiligten gegeneinander abzuwägen hat (BFH-Urteil vom 7. November 2002 VII R 37/01, BFHE 200, 444, BStBl II 2003, 145). Der BFH übt im Beschwerdeverfahren eigenes Ermessen aus (BFH-Beschlüsse vom 9. Dezember 2009 IV B 101/09, BFH/NV 2010, 661, und vom 25. Juli 2014 III B 102/13, BFH/NV 2014, 1764). Sprechen im Einzelfall alle Erwägungen ausschließlich oder ganz überwiegend für die Aussetzung des Verfahrens, kann das Ermessen in dem Sinne reduziert sein, dass das Streitverfahren ausgesetzt werden muss (BFH-Beschlüsse vom 28. Februar 2001 I R 41/99, BFHE 194, 317, BStBl II 2001, 416, und in BFH/NV 2010, 661).

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2. Der BFH hat bereits entschieden, dass das FG und der BFH an die dem Urteil des BFH im ersten Rechtsgang zugrunde liegende rechtliche Beurteilung auch dann gebunden sind, wenn die Auslegung von Gemeinschaftsrecht in Frage steht, diese Bindung aber entfällt, wenn sich inzwischen die Rechtsprechung des BFH geändert hat (BFH-Urteil vom 8. November 1983 VII R 141/82, BFHE 140, 11, BStBl II 1984, 317, Leitsatz; ebenso BFH-Urteil vom 8. November 2017 IX R 35/15, BFH/NV 2018, 347, Rz 26).

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3. Bei Ausübung des entsprechend § 74 FGO bestehenden Ermessens ist im Streitfall zu berücksichtigen, dass die vom erkennenden Senat im ersten Rechtsgang verneinte Anwendung von § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG ausdrücklicher Gegenstand der Rechtssache Peters ist. Der hier vorlegende XI. Senat des BFH ersucht den EuGH unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Senatsurteil in BFHE 259, 171 um Klärung, ob "bei medizinischen Analysen die Anwendung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL durch Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL ausgeschlossen ist und dementsprechend medizinische Analysen, die von einem in privatrechtlicher Form organisierten Labor außerhalb der Praxisräume des sie anordnenden praktischen Arztes durchgeführt werden, nur nach § 4 Nr. 14 Buchst. b UStG, Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL, nicht aber auch nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG, Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL steuerfrei sind" (BFH-Beschluss in BFHE 259, 567, BStBl II 2018, 109, Rz 32). Zwar ist es durch diesen Beschluss noch nicht zu einer Änderung der Rechtsprechung gekommen, die die Bindung nach § 126 Abs. 5 FGO entfallen ließe. Aufgrund dieses Beschlusses zeichnet sich aber die ernsthafte Möglichkeit einer derartigen Rechtsprechungsänderung ab. Danach ist jede andere Entscheidung als eine Verfahrensaussetzung ermessensfehlerhaft.

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4. Eine Kostenentscheidung ist in diesem unselbständigen Nebenverfahren nicht zu treffen; über die Kosten des Beschwerdeverfahrens ist im Rahmen der Entscheidung über die Hauptsache zu befinden (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2006, 1103, und in BFH/NV 2010, 661).

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