Beschluss vom Bundesgerichtshof (2. Strafsenat) - 2 StR 377/15

Tenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Erfurt vom 1. April 2015 im Strafausspruch aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen aufrechterhalten.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

1

Das Landgericht hatte den Angeklagten in einem ersten Urteil wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in zwei tateinheitlichen Fällen, sexueller Nötigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern sowie sexuellen Missbrauchs von Kindern in 26 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, das Verfahren hinsichtlich einiger Tatvorwürfe eingestellt bzw. den Angeklagten freigesprochen. Auf dessen Revision hat der Senat die landgerichtliche Entscheidung im Strafausspruch aufgehoben und das Rechtsmittel im Übrigen verworfen. Nunmehr hat das Landgericht den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten führt erneut zur Aufhebung des Strafausspruchs.

2

1. Der Strafausspruch hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

3

Das Landgericht hat bei seiner Strafrahmenwahl wie auch bei der konkreten Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt, „dass die Taten inzwischen 14 bis 23 Jahre zurückliegen, wenngleich dem langen Zeitraum zwischen Tat und Urteil bei Fällen des sexuellen Missbrauchs oder sexuellen Nötigungen von Kindern nicht eine gleich hohe Bedeutung zukommt wie in anderen Fällen“. Dies gelte - so das Landgericht - insbesondere in den Fällen, in denen, wie hier, ein Kind vom im selben Familienverband lebenden Stiefvater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Hierzu hat es sich auf eine Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs berufen (Beschluss vom 8. Februar 2006 - 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393).

4

Dies hält nach der Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofs in Strafsachen vom 12. Juni 2017 - GSSt 2/17, mit der dieser die Rechtsprechung zur Frage des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil bei Taten, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, modifiziert hat, rechtlicher Nachprüfung nicht (mehr) stand. Der Große Senat hat beschlossen, dass dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil auch bei den genannten Straftaten die gleiche Bedeutung zukommt wie bei anderen Straftaten. Danach kann entgegen der früheren Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nicht mehr generell davon ausgegangen werden, dass der Zeitablauf zwischen Tat und Urteil in Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern eine andere Bedeutung für die Strafzumessung hat, als sie bei anderen Delikten anzunehmen ist.

5

Daran ändert nach Ansicht des Großen Senats für Strafsachen die Regelung des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB nichts, wonach die Verjährung der Strafverfolgung bis zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers bei Straftaten nach den §§ 174 bis 174c, 176 bis 178, 180 Abs. 3, §§ 182, 225, 226a und 237 StGB ruht. Mit dieser verjährungsrechtlichen Regelung soll der besonderen Bedeutung des Anzeige- und Aussageverhaltens von Opfern des sexuellen Missbrauchs im Kindes- oder Jugendalter Rechnung getragen werden, die sich bei der Tatbegehung im sozialen Nahbereich in einer Abhängigkeit vom Täter befinden und dadurch in ihrer Bereitschaft zur Strafanzeige und zur Aussage gegen den Beschuldigten gehemmt sein können. Jedoch wirkt sich die verjährungsrechtliche Regelung nicht ohne Weiteres auf die Bewertung des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung aus. Die Umstände, die das gesetzgeberische Motiv für die besondere Regelung des Ruhens der Verjährung der Strafverfolgung bilden, können zwar auch den Strafzumessungsaspekt des langen Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil beeinflussen. Dies bedarf aber einer Prüfung des Tatgerichts im Einzelfall. Es rechtfertigt nicht die generelle Annahme, dem Zeitablauf komme bei der Strafzumessung in Fällen des sexuellen Missbrauchs nicht die gleiche Bedeutung zu, wie bei anderen Delikten. Danach ist der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung nicht mehr deliktsgruppenspezifisch, sondern einzelfallbezogen zu würdigen (vgl. BGH, Urteil vom 4. Oktober 2017 - 2 StR 219/15, Rn. 16 f.).

6

Das Landgericht hat bei der Strafrahmenwahl wie auch bei der konkreten Strafzumessung die Bedeutung des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil allgemein und deliktsbezogen bestimmt. Es hat sich bei der Gewichtung dieses Strafmilderungsgrundes entgegen den vom Großen Senat für Strafsachen aufgestellten Grundsätzen nicht mit den Umständen des Einzelfalls insbesondere mit Blick auf die Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin sowie auf die durch die Übergriffe hervorgerufenen Folgen für die Nebenklägerin auseinandergesetzt. Auf diesem Rechtsfehler beruht der angegriffene Rechtsfolgenausspruch. Der Senat kann die aufgrund des veränderten Maßstabs erforderliche Würdigung nicht selbst vornehmen und kann daher nicht ausschließen, dass der Tatrichter bei rechtsfehlerfreier Würdigung zu einer anderen Gewichtung des Zeitablaufs zwischen Tat und Urteil und damit auch zu einem für den Angeklagten günstigeren Strafausspruch gelangt wäre. Die Feststellungen sind von dem Rechtsfehler nicht betroffen; sie können bestehen bleiben.

7

2. Einer Kompensation wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bedarf es nicht. Die Dauer des Revisionsverfahrens beruht auf dem Umstand, dass der Senat mit Beschluss vom 12. April 2016 die Beratung der Sache mit Blick auf den Anfragebeschluss des 3. Strafsenats, der zu der oben genannten Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 12. Juni 2017 - GSSt 2/17 geführt hat, zurückgestellt hatte und die Beratung erst nach deren Bekanntmachung Ende September 2017 wieder aufnehmen konnte. Die Durchführung des Vorlageverfahrens zum Großen Senat für Strafsachen ist keine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung, die Anlass zur Kompensation gäbe (vgl. BGH StV 2011, 407).

Appl     

      

Krehl     

      

Eschelbach

      

Grube     

      

Schmidt     

      

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