Urteil vom Bundessozialgericht (8. Senat) - B 8 SO 12/08 R

Tatbestand

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Im Streit ist die Heranziehung der Klägerin für Kosten der Eingliederungshilfe seit April 2003.

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Die 1982 geborene Klägerin lebt seit 1994 in einem Heim und arbeitet seit dem 26.8.2004 im Werkstattbereich dieses Heims; insoweit wurden die Kosten vom Beklagten im Wege der Eingliederungshilfe für Behinderte übernommen, zuletzt mit bestandskräftigem Bescheid vom 6.8.2002. In diesem Bescheid ist ausgeführt, dass die Klägerin zu den Kosten nicht herangezogen werde. Nachdem die Klägerin im August 2004 in den Werkstattbereich aufgenommen worden war, verwies der Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 1.12.2004 auf eine "grundsätzliche" Verpflichtung der Klägerin, sich aus dem Werkstatteinkommen an den Kosten zu beteiligen. Hinsichtlich des Kostenbeitrags bezog er sich - ohne genaue Beträge zu benennen - auf ein vereinbartes Verfahren, das dann zur Anwendung kam.

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Nachdem der Vater der Klägerin im Mai 2005 mitgeteilt hatte, dass er der Klägerin aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs rückwirkend für die Zeit von April 2003 bis März 2004 3052,20 Euro einmaligen Unterhalt erbracht habe und ab April 2004 laufend Unterhaltszahlungen in Höhe von 282,10 Euro monatlich erbringe, forderte der Beklagte von der Klägerin zusätzliche Kostenbeiträge für die Zeit von April 2003 bis März 2004 in Höhe von 3052,20 Euro sowie ab April 2004 in Höhe von 282,10 Euro monatlich (Bescheid vom 14.6.2005; Widerspruchsbescheid vom 22.2.2006) .

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Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts Köln vom 22.8.2006; Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20.6.2007) . Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG im Wesentlichen darauf abgestellt, dass die Heranziehung zu dem Kostenbeitrag rechtmäßig sei; die Voraussetzungen des § 85 Abs 1 Nr 3 Satz 2 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bzw des § 88 Abs 1 Nr 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) hierfür seien erfüllt.

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Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, der Beklagte habe bei der Festsetzung des zu erbringenden Kostenbeitrags sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Die Höhe des Kostenbeitrags dürfe monatlich 26 Euro nicht übersteigen, weil ihr Vater aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Regelung auch nur in dieser Höhe zu den Kosten hätte herangezogen werden dürfen, wenn er keinen Unterhalt gezahlt hätte.

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Die Klägerin beantragt,

die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid vom 14.6.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.2.2006 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

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Die Revision ist begründet. Der Heranziehungsbescheid des Beklagten vom 14.6.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.2.2006 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz ) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil die Voraussetzungen für die Rücknahme der bestandskräftigen Verfügung des Bescheids vom 1.12.2004 nicht vorliegen.

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Das Vorgehen des Beklagten misst sich - da § 47 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) offensichtlich nicht zur Anwendung kommt - an § 45 SGB X, obwohl eine Rücknahme nicht ausdrücklich ausgesprochen wurde. Nach Abs 1 dieser Vorschrift darf ein unanfechtbarer rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt unter bestimmten weiteren Voraussetzungen ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Durch das Wort "darf" wird der Behörde Rücknahmeermessen eingeräumt (BSGE 66, 204 ff = SozR 3-1300 § 45 Nr 1 mwN; Schütze in von Wulffen, SGB X, 6. Aufl 2008, § 45 RdNr 88; Waschull in LPK-SGB X, 2. Aufl 2007, § 45 RdNr 57) .

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Der (teilweise) zurückzunehmende Verwaltungsakt ist die bestandskräftige Regelung, keinen höheren Kostenbeitrag zu verlangen, als den aus dem Werkstatteinkommen. Diese Verfügung (§ 31 SGB X) ist bei Auslegung nach dem Empfängerhorizont (vgl dazu grundlegend BSGE 67, 104, 110 mwN = SozR 3-1300 § 32 Nr 2 S 11 f) unter Berücksichtigung aller mit der Leistungsgewährung zusammenhängenden Umstände dem Bescheid vom 1.12.2004 zu entnehmen.

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Mit Bescheid vom 6.8.2002 hatte der Beklagte - wie schon zuvor - Eingliederungshilfe gewährt, wobei nach Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ein Kostenbeitrag zu den entstehenden Aufwendungen nicht erhoben worden war. Nach Eintritt der Klägerin in den Werkstattbereich der Einrichtung "Haus S" stellte der Beklagte mit Bescheid vom 1.12.2004 zum Betreff "Festsetzung des Kostenbeitrags aus dem Werkstatt-Einkommen" später jedoch die grundsätzliche Verpflichtung fest, einen Kostenbeitrag zu leisten; die Abrechnung werde - unter Berücksichtigung bestimmter Freigrenzen - entsprechend dem mit dem Beklagten vereinbarten Verfahren vorgenommen. Bei der Werkstatt für behinderte Menschen bestehe jederzeit die Möglichkeit, Auskünfte über die Höhe des Kostenbeitrags und die Art der Berechnung zu erhalten. Damit hat der Beklagte den Bescheid vom 6.8.2002 iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X aufgehoben, soweit dieser die Klägerin von einem Kostenbeitrag freigestellt hatte; denn er stellt ausdrücklich auf die geänderten tatsächlichen Verhältnisse ab. Einkünfte der Klägerin außerhalb des Werkstattbereichs werden von dem Bescheid indes nicht erfasst. Solche Einkünfte in Gestalt des ab 1.4.2003 geleisteten väterlichen Unterhalts werden - zum Betreff "Kostenbeitragsforderung aufgrund zusätzlichen Einkommens" - erst im Bescheid vom 14.6.2005 angesprochen. Dieser Bescheid stellt isoliert - ohne Berücksichtigung der Einkünfte aus Werkstatteinkommen und des insoweit bereits festgesetzten Kostenbeitrags - (allein) auf den vom Vater geleisteten Unterhalt ab, in dessen Höhe (Einmalzahlung für April 2003 bis März 2004 in Höhe von 3052,20 Euro und laufende monatliche Leistungen ab April 2004 in Höhe von 282,10 Euro) er einen "zusätzlichen" Kostenbeitrag fordert. Dieser Bescheid ändert also durch eine höhere Belastung den früheren, bestandskräftigen Bescheid vom 1.12.2004; dieser begünstigte die Klägerin insoweit, als er das zu diesem Zeitpunkt bereits gewährte Einkommen aus den väterlichen Unterhaltszahlungen nicht berücksichtigt und - anders als der nachfolgende angefochtene Bescheid vom 14.6.2005 - nur ihre Heranziehung zu den Eingliederungshilfekosten aus Werkstatteinkommen vorsah.

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Die Voraussetzungen für seine Rücknahme nach § 45 Abs 1 SGB X sind indes nicht erfüllt. Entweder war die weitere Heranziehung von vornherein unzulässig, weil der Bescheid vom 1.12.2004 insoweit rechtmäßig war; dann scheidet eine Aufhebung dieses Bescheids ohnedies aus, weil § 45 SGB X nur rechtswidrige Verwaltungsakte erfasst. Oder die Klägerin hätte schon mit dem Bescheid vom 1.12.2004 zu einem höheren Kostenbeitrag herangezogen werden müssen, weil der Vater laufenden Unterhalt bereits ab April 2004 und für das vorangegangene Jahr nachträglich einen Betrag von 3052,20 Euro gezahlt hatte. Dann wäre der Bescheid vom 1.12.2004 rechtswidrig, weil kein Ermessen ausgeübt worden ist. Der Beklagte hat nämlich überhaupt nicht erkannt, dass bei der Heranziehung zu weiteren Kosten eine (Teil-)Rücknahme des Bescheids vom 1.12.2004 erforderlich gewesen wäre. Ob nicht deshalb eine Umdeutung (§ 43 SGB X) erforderlich gewesen wäre, bedarf keiner Entscheidung; ihre Voraussetzungen liegen ohnedies nicht vor.

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Unerheblich ist, ob die Klägerin den Beklagten vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht über die zwischenzeitlich erfolgten Unterhaltszahlungen ihres Vaters informiert hat. Dies wäre allein dafür von Bedeutung, ob der ändernde Bescheid mit Wirkung für die Vergangenheit oder erst mit Wirkung für die Zukunft hätte erlassen werden dürfen (§ 45 Abs 1 letzter Halbsatz, Abs 2 Satz 3 Nr 2, Abs 4 Satz 1 SGB X) .

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Auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob ihre Inanspruchnahme hinsichtlich eines 26 Euro übersteigenden Kostenbeitrags gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz verstößt, kommt es damit ebenso wenig an wie darauf, ob der Beklagte die Klägerin mit Rücksicht auf das Zuflussprinzip (vgl nur BSG SozR 4-3500 § 82 Nr 5 RdNr 14 mwN) für die Zeit vor der ersten Zahlung (Einmalbetrag) überhaupt hätte heranziehen dürfen. Allerdings weist der Senat darauf hin, dass der betragsmäßig begrenzte, von Gesetzes wegen übergegangene Unterhaltsanspruch (§ 91 Abs 2 BSHG - bis 31.12.2004 - bzw § 94 Abs 2 SGB XII - ab 1.1.2005) nicht mit dem tatsächlich geleisteten - höheren - Unterhalt vergleichbar ist. In welcher Höhe von den Eltern, die keinen oder einen zu geringen Unterhalt zahlen, vom Sozialhilfeträger Unterhalt verlangt werden kann, und wie tatsächliche Unterhaltszahlungen als Einkommen bei der Klägerin zu berücksichtigen sind (§§ 76 ff BSHG bzw §§ 82 ff SGB XII; ab 7.12.2006 auch § 92a Abs 2 SGB XII) , bestimmt sich nach unterschiedlichen Kriterien (vgl nur: BSGE 99, 137 ff RdNr 23 = SozR 4-1300 § 44 Nr 11; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 2. Aufl 2008, § 43 SGB XII RdNr 9 mwN) .

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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