Beschluss vom Bundessozialgericht (14. Senat) - B 14 AS 90/12 B

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. November 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

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I. Die Klägerin hat am 27.11.2009 Untätigkeitsklage zum Sozialgericht (SG) Köln erhoben und (zum wiederholten Mal) die Überprüfung von Bewilligungsbescheiden vom 22.3.2006, 5.10.2006, 19.3.2007, 12.9.2007 und 26.8.2008 über laufende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch verlangt. Nach Erlass eines die Überprüfung ablehnenden Bescheides durch den Beklagten vom 23.12.2009 hat sie den Rechtsstreit nicht für erledigt erklärt und höhere Leistungen in der Sache verlangt. Ein Widerspruchsverfahren sei nicht mehr durchzuführen. Es werde daher kein Widerspruch eingelegt. Das SG hat das Vorbringen der Klägerin als Feststellungsklage ausgelegt und die Klage nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 30.8.2010 abgewiesen, weil sie unzulässig sei.

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Im laufenden Berufungsverfahren hat die Klägerin am 7.1.2011 mitgeteilt, ihren Wohnsitz zum 31.1.2011 nach Lettland zu verlegen. Auf Anfrage des Gerichts, ob Einverständnis mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung bestehe, hat sie per E-Mail am 6.4.2011 geantwortet, dass sie diese Anfrage als Anfrage iS des § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ansehe und mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne mündliche Verhandlung nicht einverstanden sei. Sie sei allerdings damit einverstanden, dass in ihrer Abwesenheit entschieden werde, denn sie könne nicht für 3 Tage zu einer Verhandlung anreisen. Am 20.7.2011 hat sie mitgeteilt, dass sie sich wieder in Deutschland (in einer Wohnung in D.) aufhalte, und am 7.10.2011 nach dem Stand der Sache gefragt und um eine Entscheidung gebeten. Am 30.11.2011 hat das Landessozialgericht (LSG) ohne mündliche Verhandlung entschieden und die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG "Dortmund" zurückgewiesen.

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Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil richtet sich die Beschwerde der Klägerin. Sie rügt neben der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache unter anderem als wesentlichen Verfahrensmangel die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz , § 62 SGG). Entgegen ihren klaren Angaben und Anträgen habe das LSG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden und dadurch § 105 Abs 2 Satz 3 SGG verletzt. Wenn das LSG aus ihren Erläuterungen in der E-Mail vom 6.4.2011 ableite, sie - die Klägerin - habe sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt, so entspreche dies schlichtweg nicht den Tatsachen. Sie habe in der Berufungsschrift eine mündliche Verhandlung beantragt. Es sei für sie nicht ersichtlich gewesen, dass das LSG nach seiner Anfrage durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden gedachte. Das LSG gehe in seiner Begründung ferner davon aus, dass sie die erstinstanzlichen Ausführungen nicht verstanden habe. Dann wäre das Gericht aber gehalten gewesen, eine mündliche Verhandlung zur Klärung durchzuführen.

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II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig. Sie ist nach Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fristgerecht erhoben und genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die Klägerin rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs und nennt als verletzte Rechtsnormen Art 103 Abs 1 GG iVm § 62 SGG. Zwar nimmt sie wegen des Vorgehens des LSG lediglich § 105 Abs 2 Satz 3 SGG in Bezug, der als Vorschrift, die nur für das Klageverfahren gilt (vgl § 153 Abs 1 SGG), nicht in Rede steht. Das LSG hat seine Befugnis zur Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung auf § 124 Abs 2 SGG gestützt. Die Darstellung des Sachverhalts und die rechtliche Würdigung im Übrigen lassen den gerügten Verfahrensverstoß aber ausreichend deutlich werden. Die Klägerin stellt ausdrücklich dar, dass die Entscheidung des LSG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung wegen ihres fehlenden Einverständnisses als verfahrensfehlerhaft gerügt wird und darauf die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Gehörs beruht.

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Der geltend gemachte Verstoß liegt auch vor. Dabei kann der Senat offen lassen, ob weitergehende Formerfordernisse für die Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 SGG bestehen und diese durch eine E-Mail, die den Anforderungen an die elektronische Kommunikation nach § 65a SGG nicht entspricht, eingehalten werden konnten (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl 2012, § 124 RdNr 3e mwN zum Streitstand wegen eines telefonisch erklärten Einverständnisses). Es kann auch offen bleiben, ob die Erklärung im Zeitpunkt des Eingangs der E-Mail als wirksam erklärtes Einverständnis angesehen werden konnte, insbesondere ob damit darauf verzichtet werden sollte, sich auf eine Ladung hin im Verfahren vertreten zu lassen.

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Jedenfalls war die Erklärung im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG prozessual überholt, nachdem die Klägerin zwischenzeitlich mitgeteilt hatte, sich wieder dauerhaft in Deutschland aufzuhalten und ggf einen Anwalt beauftragen zu wollen. Die Tatsachengrundlage, auf der die Klägerin erklärt hatte, persönlich nicht an einer Verhandlung teilnehmen zu können, lag bei dauerhaftem Aufenthalt in Deutschland - und zwar im Zuständigkeitsbereich des LSG - nicht mehr vor. Es war für das LSG offensichtlich, dass die Klägerin an einer mündlichen Verhandlung teilnehmen wollte und sie sich zuvor lediglich durch die Entfernung zum Wohnort im Ausland an einer Teilnahme gehindert gesehen hat. Die Erklärung hatte sich mit der Rückkehr nach Deutschland damit ohne Weiteres erledigt. Auf eine Einverständniserklärung, die im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts erkennbar und unzweifelhaft nicht gelten soll, darf das Gericht einen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung aber nicht stützen. Eines ausdrücklichen Widerrufs bedarf es in diesen Fällen nicht (vgl Keller, aaO, § 124 RdNr 3e mit weiteren Beispielen zu Fällen bei Änderung der Prozesslage).

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Zwar stellt es keinen absoluten Revisionsgrund dar, wenn ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ohne dass das dafür erforderliche Einverständnis aller Beteiligten vorliegt (vgl BSGE 53, 83, 85 f = SozR 1500 § 124 Nr 7 S 15, jeweils mwN). Wegen des besonderen Rechtswerts der mündlichen Verhandlung lässt sich das Beruhenkönnen der Entscheidung auf der fehlenden Mündlichkeit in der Regel nicht verneinen (vgl BSG Beschluss vom 9.6.2004 - B 12 KR 16/02 B; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62). Dies gilt hier deshalb in besonderem Maße, weil eine mündliche Verhandlung in der ersten Instanz nicht stattgefunden hatte (vgl Art 6 Abs 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten).

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Unter diesen Umständen kann es dahinstehen, ob auch die weitere Verfahrensrüge der Klägerin durchgreift. Ebenso kann offen bleiben, ob die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat. Es wäre in jedem Fall zu erwarten, dass ein Revisionsverfahren zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht führen würde (vgl dazu BSG Beschlüsse vom 23.5.2006 - B 13 RJ 253/05 B - und vom 30.4.2003 - B 11 AL 203/02 B), sodass der Senat von der Möglichkeit Gebrauch macht, in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, § 160a Abs 5 SGG.

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Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits unter Beachtung des Ausgangs der Nichtzulassungsbeschwerde zu befinden haben.

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