Beschluss vom Bundessozialgericht (3. Senat) - B 3 KR 17/12 R

Tenor

Der Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 619 759 Euro festgesetzt.

Der Streitwert für das Klageverfahren wird unter Änderung des Beschlusses des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. Dezember 2011 auf 619 759 Euro festgesetzt.

Gründe

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I. Neben zahlreichen anderen Krankenhausträgern stritt auch die Klägerin als Trägerin des Städtischen Klinikums B. mit dem beklagten Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) über die Heraufsetzung der Mindestmenge der jährlich in Perinatalzentren der obersten Kategorie (Level 1) zu behandelnden Frühgeburten von 14 auf 30 ab 1.1.2011. Das LSG hat "festgestellt, dass der Beschluss des Beklagten vom 17.6.2010 insoweit rechtswidrig und damit nichtig ist, als er unter I. Nr. 1 die Mindestmenge für Perinatalzentren des Level 1 (Versorgung von Früh- und Neugeborenen mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1250g) mit Wirkung ab 1.1.2011 von 14 auf 30 Fälle erhöht" (Teilurteil vom 21.12.2011). Nachdem der 1. Senat des BSG in einem Parallelverfahren die Entscheidung des LSG im Ergebnis bestätigt hat (Urteil vom 18.12.2012 - B 1 KR 34/12 R - SozR 4-2500 § 137 Nr 2), hat der Beklagte die Revision im vorliegenden Rechtsstreit zurückgenommen (Schriftsatz vom 16.5.2013).

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II. Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt der Beklagte gemäß § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 155 Abs 2 VwGO, weil er das Rechtsmittel zurückgenommen hat.

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III. 1. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 63 Abs 2 und 3, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 S 1 GKG idF des Art 1 des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5.5.2004 (BGBl I 718). Nach diesen Vorschriften hat das Prozessgericht den Streitwert von Amts wegen festzusetzen, weil es sich vorliegend um ein Verfahren handelt, das nach dem 1.1.2002 rechtshängig geworden ist und in dem weder die Klägerin noch der Beklagte zu dem in § 183 SGG genannten kostenmäßig privilegierten Personenkreis gehören. Die Revision ist nach dem 1.7.2004 eingelegt worden. Deshalb ist der Streitwert gemäß § 1 Abs 2 Nr 3 iVm § 52 Abs 1 GKG nach der sich aus dem Antrag der Klägerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen, soweit in § 52 Abs 2 bis 7 GKG und weiteren Vorschriften des GKG nichts anderes geregelt ist. Insbesondere ergibt sich hier nichts Abweichendes aus dem Umstand, dass nicht die Klägerin Rechtsmittelführerin ist, sondern der Beklagte die Revision eingelegt hat. Im Rechtsmittelverfahren bestimmt sich der Streitwert zwar nach den Anträgen des Rechtsmittelführers (§ 47 Abs 1 S 1 GKG), es bleibt aber bei der Streitwertberechnung nach § 52 GKG entsprechend der Bedeutung der Sache für die klagende Partei, wenn - wie hier - der Streitgegenstand im gesamten Verfahren unverändert geblieben ist und der Beklagte als Rechtsmittelführer nach wie vor die Abweisung der Klage beantragt (Hartmann, Kostengesetze, 42. Aufl 2012, § 47 GKG RdNr 3 mwN). Dabei beruht die Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren auf § 63 Abs 2 S 1 GKG und die Änderung der Streitwertfestsetzung für das Klageverfahren auf § 63 Abs 3 S 1 GKG. Die Festsetzung des Streitwerts für das Klageverfahren durch das LSG auf nur 80 000 Euro (Beschluss vom 21.12.2011) ist deutlich zu niedrig und wird der wirtschaftlichen Bedeutung für die Klägerin nicht gerecht.

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2. Die Wertfestsetzung nach Ermessen ist hier eröffnet, weil es für Streitigkeiten über Beschlüsse des GBA zur Qualitätssicherung planbarer Krankenhausleistungen nach § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V keine im GKG festgelegten pauschalen Streitwerte gibt und es insbesondere nicht um eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt geht (§ 52 Abs 3 GKG). Der Streitwert darf dabei einen Betrag von 2 500 000 Euro nicht überschreiten (§ 52 Abs 4 GKG) und wäre auf 5000 Euro (Auffangstreitwert) festzusetzen, wenn der Sach- und Streitstand für eine abweichende Bestimmung des Streitwerts keine genügenden Anhaltspunkte bietet (§ 52 Abs 2 GKG).

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3. Zur Ermittlung des wirtschaftlichen Interesses eines Klägers bzw einer Klägerin an der erstrebten Entscheidung und ihren Auswirkungen hat der für vertragsärztliche, vertragszahnärztliche und vertragspsychotherapeutische Zulassungsangelegenheiten zuständige 6. Senat des BSG in allen nach dem 1.1.2002 rechtshängig gewordenen Zulassungsverfahren das Einkommen (Umsatz abzüglich Praxiskosten) von drei Jahren zugrunde gelegt und zur Begründung insbesondere auf die Regelung des § 42 Abs 3 GKG (seit dem 1.9.2009: § 42 Abs 2 GKG idF des FGG-Reformgesetzes vom 17.12.2008, BGBl I 2586) verwiesen, wonach beim Streit um wiederkehrende Leistungen aus einem öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnis und um andere wiederkehrende Leistungen (auch) vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit der dreifache Jahresbetrag der wiederkehrenden Leistungen für den Streitwert maßgebend sei (vgl Beschluss vom 1.9.2005 - B 6 KA 41/04 R - SozR 4-1920 § 52 Nr 1, stRspr). Diese Streitwertberechnung gilt grundsätzlich unabhängig davon, ob eine Zulassung zur Versorgung von Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung erst angestrebt wird oder ob sich ein Betroffener gegen eine angeordnete Entziehung der Zulassung wendet. Dem hat sich der erkennende 3. Senat im Interesse der Einheitlichkeit der gerichtlichen Wertfestsetzung angeschlossen; er geht für Zulassungsstreitigkeiten aus dem Bereich der Krankenhäuser, der Rehabilitationseinrichtungen und der nichtärztlichen Leistungserbringer ebenfalls davon aus, dass als Streitwert der angestrebte Jahresgewinn (Überschuss aus dem Gesamtumsatz abzüglich der Personal- und Betriebskosten) aus drei Jahren maßgebend ist (vgl Beschluss vom 10.11.2005 - B 3 KR 36/05 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 2). Dabei gilt die Dreijahresfrist allerdings nur für solche Verfahren, in denen die Zulassung für mindestens drei Jahre streitig ist. Bezieht sich der Anspruch auf einen Zeitraum von weniger als drei Jahren, ist ein entsprechender Abschlag vorzunehmen (so bereits BSG SozR 3-1930 § 8 Nr 4).

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4. Der Fall der Zulassungsentziehung bei Vertragsärzten, Krankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen und nichtärztlichen Leistungserbringern ist in wirtschaftlicher Hinsicht mit der Lage eines Krankenhauses vergleichbar, das wegen der erstmaligen Festsetzung bzw - so hier - wegen der Heraufsetzung der Mindestmenge einer im Kalenderjahr zu erbringenden bestimmten stationären Leistung durch einen entsprechenden Beschluss des GBA (§ 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V) einem "Leistungserbringungsverbot" unterliegt, wenn diese Mindestmenge nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre voraussichtlich auch künftig nicht erreicht werden kann. Diese Rechtsfolge ergibt sich aus § 137 Abs 3 S 2 SGB V: "Wenn die nach Satz 1 Nr. 2 erforderliche Mindestmenge bei planbaren Leistungen voraussichtlich nicht erreicht wird, dürfen entsprechende Leistungen nicht erbracht werden". Die Regelung schränkt die Berufsausübungsfreiheit des Krankenhausträgers ein und beeinträchtigt die Umsatzentwicklung und die Möglichkeiten zur Erzielung angemessener Gewinne (Art 12 Abs 1 GG); es wirkt damit - wenn auch begrenzt auf einen Teilbereich des im Krankenhaus angebotenen Leistungsspektrums - in wirtschaftlicher Hinsicht ähnlich wie eine Zulassungsentziehung. Es ist deshalb gerechtfertigt, dass sich auch in solchen Fällen der Streitwert grundsätzlich am dreifachen Jahresgewinn des Krankenhauses orientiert.

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5. Bei der Bemessung des wirtschaftlichen Interesses des Krankenhausträgers an der Abwehr einer Mindestmengenregelung des GBA nach § 137 Abs 3 S 1 Nr 2 SGB V anhand des voraussichtlichen Jahresüberschusses aus Gesamtumsatz abzüglich der Personal- und Betriebskosten sind zwei Komponenten ausschlaggebend: Zum einen geht es um den zu erwartenden Gewinn aus der Durchführung der von der Mindestmengenregelung erfassten Leistungen in den nächsten drei Jahren. Dieser Gewinn ist Teil des wirtschaftlichen Gesamtergebnisses des Krankenhauses aus der Durchführung aller dem Versorgungsvertrag (§ 109 SGB V) entsprechenden stationären Leistungen. Zum anderen wird im Falle der gerichtlichen Bestätigung des "Leistungserbringungsverbots" aber auch das nach dem Wegfall der betroffenen Leistungen ohnehin verringerte Gesamtergebnis dadurch weiter beeinträchtigt, dass sich die Personalkosten des Krankenhauses erfahrungsgemäß nicht sofort und in entsprechendem Umfang verringern lassen, wodurch sich die Gestehungskosten bei den verbleibenden Leistungen erhöhen und der dort erzielbare Überschuss verkleinert.

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Bezogen auf den vorliegenden Fall ist daher das besondere Interesse des Krankenhauses an der unveränderten Aufrechterhaltung des Betriebs in der betroffenen Perinatalabteilung zu berücksichtigen, weil durch das Leistungserbringungsverbot im Level 1 eine Leistungsbeschränkung auf Versorgungsformen im Level 2, des perinatalen Schwerpunkts und der Geburtsklinik (vgl die "Vereinbarung des Gemeinsamen Bundesausschusses über Maßnahmen zur Qualitätssicherung der Versorgung von Früh- und Neugeborenen" mit dem dort niedergelegten Stufenkonzept der neonatologischen Versorgung) bewirkt würde, die regelmäßig zu einer mangelnden Auslastung des Perinatalzentrums und damit zu einem erhöhten Personal- und Betriebskostenanteil pro verbleibendem Behandlungsfall führen würde, weil Anpassungsmaßnahmen nur in einem bedingten Maße möglich erscheinen und die Freisetzung von Personal erfahrungsgemäß mit finanziellem Aufwand (zB Abfindungszahlungen) verbunden ist. Neben dem erwarteten Gewinnanteil je Behandlungsfall im Level 1 ist deshalb diese Zusatzbelastung in Ansatz zu bringen, die auf den Krankenhausträger im Falle des "Leistungserbringungsverbots" zukommen würde.

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6. Im vorliegenden Fall ist die Klägerin daran interessiert, Frühgeborene mit einem Geburtsgewicht unter 1250 g im bisher geübten Umfang auch unterhalb der Mindestmengenschwelle von 30 Behandlungsfällen pro Jahr stationär zu versorgen, nachdem das Krankenhaus in den letzten drei Jahren die Mindestmenge jeweils unterschritten hat (2010 20 Fälle, 2011 20 Fälle und 2012 18 Fälle). Der erzielte Gesamtumsatz von 2 479 037 Euro (2010 820 695 Euro, 2011 919 025 Euro und 2012 739 317 Euro) verteilte sich auf insgesamt 58 Behandlungsfälle mit einem durchschnittlichen Umsatz pro Fall von 42 742 Euro. Das Rechtsschutzziel der Klägerin bestand darin, auch im Falle des erneuten Absinkens der Fallzahl auf jährlich weniger als 30 keinem "Leistungserbringungsverbot" zu unterliegen. Bei einem Gesamtumsatz von 2 479 037 Euro als Basis einer Umsatzprognose für die kommenden drei Jahre geht der Senat mangels konkreter anderweitiger Anhaltspunkte von einem bei optimalem Kostenmanagement erzielbaren wirtschaftlichen Vorteil von 25 % des Gesamtumsatzes unter Berücksichtigung aller wirtschaftlichen Nachteile bei Realisierung des "Leistungserbringungsverbots" aus. Angesichts eines bei Vertragsarztpraxen regelmäßig zugrunde gelegten Jahresüberschusses (Gesamtumsatz abzüglich Praxiskosten) von 30 % (vgl zB BSG SozR 4-1920 § 52 Nr 1 RdNr 21) erscheint der Wert von 25 % für Perinatalzentren angemessen, weil die Umsatzrenditen von Krankenhäusern in aller Regel niedriger liegen als bei Vertragsärzten, die Anpassungsschwierigkeiten dafür etwas größer sind. Daraus ergibt sich ein Streitwert von 619 759 Euro (= 2 479 037 : 4). Dieser Streitwert gilt für beide Rechtszüge.

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