Stattgebender Kammerbeschluss vom Bundesverfassungsgericht (2. Senat 2. Kammer) - 2 BvR 1856/13
Tenor
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Der Beschluss des Landgerichts Braunschweig vom 7. August 2013 - 50 StVK 601/13 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
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Die Sache wird zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits an das Landgericht Braunschweig zurückverwiesen.
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Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe
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Die Verfassungsbeschwerde des strafgefangenen Beschwerdeführers betrifft die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Vollziehung einer Disziplinarmaßnahme wegen Gewährung von Schreibhilfe.
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I.
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1. Der Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel. Mit Schriftsatz vom 30. Juli 2013 stellte er beim Landgericht Braunschweig einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Die Justizvollzugsanstalt habe ihm untersagt, Schreiben von anderen Gefangenen anzunehmen, zu lesen oder Schreibhilfe zu leisten. Nunmehr werfe ihm die Anstalt vor, er habe gegen die Untersagung verstoßen, und habe ihn am 30. Juli 2013 daher mit einer Disziplinarmaßnahme belegt (getrennte Unterbringung während der Freizeit und Ausschluss von der Teilnahme an gemeinschaftlichen Veranstaltungen in der Zeit vom 2. bis 4. August 2013). Für die Untersagung fehle es bereits an einer rechtlichen Grundlage; er habe aber auch nicht gegen die Untersagung verstoßen. Er beantrage, die Disziplinarmaßnahme im Wege der einstweiligen Anordnung auszusetzen; in der Hauptsache beantrage er die Feststellung, dass die verhängte Disziplinarmaßnahme rechtswidrig gewesen sei.
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2. Mit angegriffenem Beschluss vom 7. August 2013 wies das Gericht den Antrag zurück. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung sei gemäß § 114 Abs. 2 Satz 2 StVollzG in Verbindung mit § 102 NJVollzG abzulehnen gewesen. Eine einstweilige Anordnung dürfe die Hauptsache nicht vorwegnehmen. Etwas anderes gelte nur dann, wenn dem Verurteilten durch die von der Justizvollzugsanstalt vorgesehene Maßnahme ein schwerer, unzumutbarer, nicht anders abwendbarer Nachteil entstünde, der durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht beseitigt werden könne. Eine Eilentscheidung in diesem Sinne sei geboten, wenn irreparable, über den belastenden Charakter der Maßnahme selbst hinausgehende Nachteile drohten oder wenn die Maßnahme offenkundig rechtswidrig sei. Beides sei vorliegend nicht der Fall. Eine Genehmigung der Justizvollzugsanstalt für die Annahme oder das Verbringen von Schreiben anderer Gefangener in die Zelle, in der sich das elektronische Schreib- und Lesegerät befinde, liege nicht vor. Die Annahme und der Besitz von Schreiben anderer Gefangener, um Schreibhilfe zu leisten, stelle einen Verstoß gemäß § 76 Abs. 1 NJVollzG dar. Anhaltspunkte für die Verfassungswidrigkeit der Regelung bestünden nicht.
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II.
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1. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1 und Art. 104 Abs. 1 GG.
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Die Verfassungsbeschwerde betreffe die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes sowie die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Feststellung des Sachverhalts bei der gerichtlichen Überprüfung von Disziplinarmaßnahmen im Strafvollzug. Die Kammer habe erst sieben Tage nach Antragstellung über seinen Eilantrag entschieden, so dass die Disziplinarmaßnahme bereits vollstreckt gewesen sei. Die Annahme, er begehre eine Vorwegnahme der Hauptsache, stelle einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG dar. Bei der vorübergehenden Aussetzung einer belastenden Maßnahme nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG könne es sich nicht um eine Vorwegnahme der Hauptsache handeln. Zudem habe das Landgericht einen völlig anderen Grund für die Verhängung der Disziplinarmaßnahme angenommen als die Justizvollzugsanstalt. Die Justizvollzugsanstalt behaupte, dass ein Schreiben aufgefallen sei, das offensichtlich mit seinem elektronischen Schreibgerät verfasst worden sei; ein solches Schreiben liege aber nicht vor. Auch habe die Justizvollzugsanstalt keine Angaben dazu machen können, um was für ein Schreiben es sich gehandelt habe, an wen es gerichtet gewesen sei und was für einen Inhalt es gehabt habe. Die Kammer führe lediglich aus, dass eine Genehmigung nicht vorgelegen habe und er Schreiben anderer Gefangener mit in seine Zelle genommen habe; dieser Vorwurf sei ihm jedoch gar nicht gemacht worden. Daher habe die Kammer auch - anders als es ihr oblegen hätte - den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt. Gerade im Rahmen eines Disziplinarverfahrens komme der Sachverhaltsdarstellung jedoch besondere Bedeutung zu.
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2. Das Justizministerium des Landes Niedersachsen hat von einer Stellungnahme abgesehen.
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3. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens wurden beigezogen.
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III.
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Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und in einem die Kammerzuständigkeit begründenden Sinne offensichtlich begründet.
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1. Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Landgerichts keine Anhörungsrüge erhoben hat. Diese wäre aussichtslos gewesen; sie zu erheben oblag dem Beschwerdeführer daher nicht (vgl. BVerfGE 126, 1 <18>; BVerfGK 7, 115 <116>; 7, 403 <407>; 9, 390 <394>). Die Verfassungsbeschwerde bezeichnet zwar eingangs auch Art. 103 GG als verletzt. Die nachfolgende Begründung greift dies aber nicht wieder auf. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist auch ansonsten nicht ersichtlich.
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2. Der angegriffene Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.
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a) Für die Gerichte ergeben sich aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen auch für den vorläufigen Rechtsschutz. Die Auslegung und Anwendung der jeweiligen gesetzlichen Bestimmungen muss darauf ausgerichtet sein, dass der Rechtsschutz sich auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpft, sondern zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führt (vgl. BVerfGE 49, 220 <226>; 77, 275 <284>; BVerfGK 1, 201 <204 f.>; 11, 54 <60>; hierzu und zum Folgenden zuletzt auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai 2012 - 2 BvR 2355/10, 2 BvR 1443/11 -, juris, Rn. 13 ff.). Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn die Gewährung von Eilrechtsschutz zu Unrecht mit der entscheidungstragenden Begründung abgelehnt wird, sie komme wegen Nichtvorliegens der besonderen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache nicht in Betracht (vgl. BVerfGK 1, 201 <204 f.>; 7, 403 <409>; 11, 54 <60 f.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 24. März 2009 - 2 BvR 2347/08 -, juris, Rn. 12). Eine - allein in Ausnahmefällen zulässige - Vorwegnahme der Hauptsache liegt nur dann vor, wenn die begehrte vorläufige Entscheidung faktisch keine vorläufige wäre, sondern einer endgültigen gleichkäme. Dies ist nicht der Fall, wenn die einstweilige Aussetzung einer Maßnahme begehrt wird, die bei entsprechendem Ausgang des Hauptsacheverfahrens wieder in Geltung gesetzt werden kann. Die bloße Tatsache, dass die vorübergehende Aussetzung als solche nicht wieder rückgängig gemacht werden kann, macht die vorläufige Regelung nicht zu einer faktisch endgültigen. Die vorläufige Aussetzung ist vielmehr, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade der typische, vom Gesetzgeber vorgesehene Regelungsgehalt des vorläufigen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen (vgl. BVerfG, jew. a.a.O.).
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b) Danach steht der angegriffene Beschluss mit den Anforderungen effektiven Eilrechtsschutzes nicht in Einklang. Begehrt ein Gefangener Eilrechtsschutz gegen eine Disziplinarmaßnahme, so geht es um die vorläufige Aussetzung einer ihn belastenden Maßnahme; eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt darin nicht (vgl. BVerfGK 1, 201 <201 f., 206>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. März 2014 - 2 BvR 2598/13 -, juris, Rn. 10). Die Strafvollstreckungskammer hätte daher, ohne insoweit durch den Gesichtspunkt einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache gebunden zu sein, prüfen müssen, ob die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Beschwerdeführers vereitelt oder wesentlich erschwert wird, und ob der Aussetzung ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht. Dabei kann auch eine Rolle spielen, ob nach einer summarischen Prüfung der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben wird (vgl. Arloth, StVollzG, 3. Aufl. 2011, § 114 Rn. 3). Indem das Gericht die danach erforderliche Interessenabwägung unterlassen hat, ist es den verfassungsrechtlichen Anforderungen an einen effektiven vorläufigen Rechtsschutz nicht gerecht geworden.
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c) Der Ausfall der notwendigen Prüfung als Folge unzutreffend unterstellter Vorwegnahme der Hauptsache ist auch nicht deshalb unschädlich, weil das Gericht zur Begründung seiner Entscheidung zusätzlich angeführt hat, ein drohender schwerer Nachteil des Beschwerdeführers sei nicht ersichtlich und die Maßnahme sei nicht offenkundig rechtswidrig; diese Erwägungen sind nicht geeignet, den Beschluss zu tragen.
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Unabhängig davon, dass in der nach § 114 Abs. 2 Satz 1 StVollzG zu beurteilenden Konstellation, in der eine den Betroffenen beeinträchtigende Maßnahme unmittelbar vor dem Vollzug steht, die Notwendigkeit sofortigen richterlichen Handelns zur Abwehr eines Eingriffs in dessen Rechtsposition regelmäßig auf der Hand liegt, begegnet auch die Annahme des Gerichts, die verhängte Disziplinarmaßnahme sei nicht offenkundig rechtswidrig, Bedenken. Der Beschwerdeführer bestreitet den ihm von der Justizvollzugsanstalt vorgeworfenen Pflichtverstoß. Zwar ist die abschließende Aufklärung des Sachverhalts nicht Sache des Eilverfahrens. Allerdings geht das Gericht - ohne nähere Begründung - vom Vorwurf der Annahme und des Besitzes eines Schreibens eines anderen Gefangenen zum Zweck der Gewährung von Schreibhilfe aus, während die Justizvollzugsanstalt gerade die Abgabe des Schreibens als Pflichtverstoß gewertet hatte. Wenn die Strafvollstreckungskammer schon nicht befugt ist, eine Disziplinarmaßnahme unter Auswechselung der von der Anstalt angeführten Gründe für die angenommene Pflichtwidrigkeit des sanktionierten Verhaltens als rechtmäßig zu bestätigen (vgl. BVerfGK 9, 390 <397>), so muss dies erst recht gelten, wenn sie schon die zugrundeliegende sanktionierte Handlung faktisch auswechselt.
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Schließlich fehlt es auch an einer die summarische Rechtmäßigkeitsprüfung flankierenden Interessenabwägung. Das Gericht stellt lediglich fest, dass es an einem irreparablen, über den belastenden Charakter der Maßnahme selbst hinausgehenden Nachteil fehle. Die erforderliche Abwägung der Aufschubinteressen des Beschwerdeführers mit den gegenläufigen öffentlichen Interessen hat das Gericht dagegen nicht vorgenommen (vgl. zu einer Konstellation, in der die Vorwegnahme der Hauptsache zu Unrecht angenommen worden war, der Beschluss darauf aber nicht beruhte, weil die in Aussetzungskonstellationen erforderliche Interessenabwägung gleichwohl vertretbar vorgenommen worden war, BVerfGK 8, 64 ff.).
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d) Ob der angegriffene Beschluss den Beschwerdeführer darüber hinaus auch deshalb in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt, weil er nicht auf zureichender Aufklärung des zugrundliegenden Sachverhalts beruht und weil er erst nach Vollziehung der Disziplinarmaßnahme ergangen ist, kann angesichts des bereits festgestellten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG offenbleiben.
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IV.
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Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95 Abs. 2 BVerfGG. Nachdem nach Vollziehung der Disziplinarmaßnahme Erledigung eingetreten ist und im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Fortsetzungsfeststellungsentscheidung nicht in Betracht kommt (vgl. Arloth, StVollzG, 3. Aufl. 2011, § 115 Rn. 11, m.w.N.), erfolgt die Zurückverweisung nur noch zur erneuten Entscheidung über die Kosten. Die Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren sind dem Beschwerdeführer gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.
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Referenzen
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- BVerfGG § 93c 1x
- § 102 NJVollzG 1x (nicht zugeordnet)
- BVerfGG § 95 1x
- BVerfGG § 34a 1x
- 2 BvR 2355/10 1x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 2598/13 1x (nicht zugeordnet)
- StVollzG § 114 Aussetzung der Maßnahme 3x
- 2 BvR 1443/11 1x (nicht zugeordnet)
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