Stattgebender Kammerbeschluss vom Bundesverfassungsgericht (1. Senat 1. Kammer) - 1 BvR 1246/19

Tenor

1. Die Beschlüsse des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Mai 2019 - L 2 SO 1402/19 ER-B - und des Sozialgerichts Stuttgart vom 8. April 2019 - S 20 SO 959/19 ER - verletzen den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz, soweit darin die Beschwerde gegen die ablehnende Prozesskostenhilfeentscheidung zurückgewiesen und der Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt werden.

Der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg wird aufgehoben, soweit darin die Beschwerde gegen die ablehnende Prozesskostenhilfeentscheidung zurückgewiesen wird. Insoweit wird die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.

2. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen im Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.

3. Damit erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren.

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 25.000 Euro (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung von Prozesskostenhilfe für ein sozialgerichtliches Eilverfahren zu der Frage, ob ein in der Bundesrepublik Deutschland lebender, mittelloser griechischer Staatsangehöriger einen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII hatte.

I.

2

1. Der 1963 geborene Beschwerdeführer reiste im Jahr 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Nachdem er einige Monate einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen war, erhielt er von August bis Dezember 2018 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Den Weiterbewilligungsantrag lehnte das Jobcenter ab. Der Beschwerdeführer habe ab Januar 2019 ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitsuche nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2b, § 8 Abs. 2 SGB II.

3

2. Ein deswegen vor dem Sozialgericht Stuttgart geführtes Eilverfahren (S 24 AS 7110/18 ER) blieb erfolglos. Auf die Beschwerde verpflichtete das Landessozialgericht Baden-Württemberg den beigeladenen Sozialhilfeträger, dem Beschwerdeführer vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII für die Zeit vom 1. Januar 2019 bis zum 28. Februar 2019 zu gewä;hren (L 9 AS 210/19 ER-B). Im Eilverfahren könne nicht abschließend geklärt werden, ob der Beschwerdeführer die Voraussetzungen der Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII erfülle, insbesondere ob Reiseunfähigkeit bestehe. Die deshalb vorzunehmende Folgenabwägung falle zu Gunsten des Beschwerdeführers aus.

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3. Einer im Folgenden ergangenen Aufforderung des Jobcenters, sich amtsärztlich untersuchen zu lassen, kam der Beschwerdeführer mit der Begründung nicht nach, dass für eine amtsärztliche Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit keine Veranlassung bestehe, weil er nicht ausreisepflichtig sei.

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4. Im Februar 2019 beantragte der Beschwerdeführer beim Sozialhilfeträger Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII für die Zeit ab 1. März 2019. Zudem suchte er Eilrechtsschutz vor dem Sozialgericht und beantragte, den Sozialhilfeträger vorläufig zu verpflichten, ihm Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII ab März 2019 zu gewähren. Zugleich beantragte er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Eilverfahren.

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5. Mit angegriffenem Beschluss vom 8. April 2019 lehnte das Sozialgericht den Eilantrag und den Prozesskostenhilfeantrag ab. Zur Begrü;ndung führte das Gericht insbesondere aus, der Beschwerdeführer sei gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen, da er allenfalls über ein Aufenthaltsrecht zum Zwecke der Arbeitsuche verfüge. Einen Anspruch aufgrund der Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII wegen Reiseunfähigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht. Die Kammer habe nicht unberücksichtigt lassen können, dass er den Termin zur gesundheitlichen Begutachtung nicht wahrgenommen habe.

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6. Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Landessozialgericht mit angegriffenem Beschluss vom 6. Mai 2019 aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück. Der Senat habe ebenso wie andere Landessozialgerichte keine Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII. Die Beschwerde gegen den ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss wies das Landessozialgericht ebenfalls zurück.

II.

8

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG durch die Ablehnung von Prozesskostenhilfe. Dies verletze sein Grundrecht auf Rechtsschutzgleichheit. Denn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage, ob ein nicht erwerbstätiger, nicht ausreisepflichtige Unionsbürger ohne Ausreisewillen einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen nach dem SGB XII habe, sei schwierig und ungeklärt.

9

Das Land Baden-Württemberg hatte Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Kammer hat die maßgeblichen Akten des Sozialgerichts und des Landessozialgerichts beigezogen.

III.

10

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.>).

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1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Dem steht nicht entgegen, dass das Verfahren in der Hauptsache bereits rechtskräftig abgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 81, 347 <355>). Auch nach Erledigung der Hauptsache kann ein Prozesskostenhilfeantrag erfolgreich sein, wenn er zuvor ‒ wie vorliegend ‒ bewilligungsreif gewesen ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. April 2019 - 1 BvR 2111/17 -, Rn. 25).

12

2. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

13

a) Das Grundgesetz gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Dies ergibt sich aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgrundsatz, der in Art. 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegt ist und für den Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt in Art. 19 Abs. 4 GG seinen besonderen Ausdruck findet (vgl. BVerfGE 78, 104 <117 f.>; 81, 347 <357>; 117, 163 <187>). Es ist dabei verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>).

14

Prozesskostenhilfe darf der unbemittelten Partei aber von Verfassungs wegen insbesondere dann nicht versagt werden, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt. Denn dadurch würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. ausführlich BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 16. April 2019 - 1 BvR 2111/17 -, Rn. 22 m.w.N.).

15

b) Nach diesen Grundsätzen verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Die angegriffenen Beschlüsse überspannen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung und verfehlen dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, weil sich die im Verfahren zu Lasten des Beschwerdeführers beantwortete Rechtsfrage, ob der Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII in der seit dem 29. Dezember 2016 geltenden Fassung verfassungskonform ist, als ungeklärt und schwierig darstellt.

16

aa) Eine höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu existiert nicht. Eine die Frage des Leistungsausschlusses von nicht ausreisepflichtigen Unionsbürgern ohne materielles Aufenthaltsrecht betreffende Revision ist derzeit vor dem Bundessozialgericht unter dem Aktenzeichen B 8 SO 7/19 R anhängig.

17

bb) In der Rechtsprechung der Landessozialgerichte werden hierzu unterschiedliche Auffassungen vertreten.

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(1) Mehrheitlich gehen die Landessozialgerichte davon aus, dass § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII nicht ausreisepflichtige Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht in verfassungskonformer Weise von Leistungen nach § 23 Abs. 1 SGB XII ausschließt (so z.B. Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 24. April 2017 - L 8 SO 77/17 B ER -, juris, Rn. 37 ff.; Beschluss vom 2. August 2017 - L 8 SO 130/17 B ER -, juris, Rn. 55 ff; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 3. Dezember 2018 - L 7 SO 4027/18 ER-B -, juris, Rn. 40; Landessozialgericht Hamburg, Beschluss vom 28. September 2017 - L 4 SO 55/17 B ER -, juris, Rn. 9; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 27. März 2019 - L 7 AS 7/19 -, juris, Rn. 5 ff.; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 22. Mai 2018 - L 11 AS 1013/17 B ER -, juris, Rn. 36; 19. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Fe-bruar 2018 - L 19 AS 249/18 B ER -, juris, Rn. 31 f.; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4. Juli 2019 - L 4 AS 246/19 B ER -, juris, Rn. 42 f.; 23. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Januar 2019 - L 23 SO 279/18 B ER -, juris, Rn. 34 ff.).

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19

(2) Andere Landessozialgerichte haben ‒ im Rahmen von Eilverfahren beziehungsweise Prozesskostenhilfeverfahren ‒ die Verfassungskonformität des Leistungsausschlusses bezweifelt und den Eilanträgen beziehungsweise Prozesskostenhilfeanträgen stattgegeben (7. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28. Januar 2018 - L 7 AS 2299/17 B -, juris, Rn. 14 f.; 18. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2019 - L 18 AS 141/19 B ER, L 18 AS 142/19 B ER PKH -, juris, Rn. 5; 15. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. Juni 2017 - L 15 SO 104/17 B ER, L 15 SO 105/17 B ER PKH -, juris, Rn. 20).

20

cc) Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift wurden bereits im Gesetzgebungsverfahren geäußert (vgl. Ausschussdrucksache 18(11)851 - Materialien zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 28. November 2016 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung "Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeit-suchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" - BTDrucks 18/10211, dort insbesondere Devetzi/Janda, S. 32 ff.; Berlit, S. 55 ff.).

21

dd) Auch in der Literatur ist die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII mit dem menschenwürdigen Existenzminimum umstritten (kritisch: Janda, ZRP 2016, S. 152 <153 f.>; Meyer-Höger, info also 2017, S. 99 <104 ff.>; Oberhäuser/Steffen, ZAR 2017, S. 149, <151 f.>; Schreiber, SR 2018, S. 181 <194>; Siefert, in: Coseriu/Eicher/Siefert (Hg.), juris-PK SGB XII, Stand 29.1.2019, § 23 Rn. 102, 107 sowie Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 6. Aufl. 2018, § 23 Rn. 3 ff; a.A.: Ulmer, ZRP 2016, 224 <225 f.>; Birk, in: Harder/Conradis/Thie, SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 23 Rn. 55; Greiser/Ascher, VSSR 2016, S. 61 <110>; Schlette, in: Hauck/Noftz SGB XII, Stand 6/2019, § 23 Rn. 1).

22

ee) Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsausschlusses für nicht erwerbstätige, nicht ausreisepflichtige Unionsbürger ist danach eine ungeklärte Rechtsfrage. Sie ist auch als "schwierig" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einzustufen, da sich die Frage nicht ohne Weiteres aus der hierzu vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere aus der Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10 u.a. - (BVerfGE 132, 134 ff.) beantworten lässt. Sowohl die Auffassung, der Leistungsausschluss sei verfassungskonform, als auch die Gegenauffassung berufen sich mit jeweils nicht von vornherein unvertretbaren Argumenten auf diese Rechtsprechung.

23

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung ergibt sich aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Der Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten für das Verfassungsbeschwerdeverfahren erledigt sich, weil das Land Baden-Württemberg zur Kostenerstattung verpflichtet wird (vgl. BVerfGE 105, 239 <252>).

24

Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

25

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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