Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (1. Senat) - 1 B 7/12

Gründe

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Die Beschwerde, die ausschließlich auf den Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO) gestützt ist, hat keinen Erfolg.

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Die Klägerin wurde 1989 in Deutschland geboren. Ihr Vater war mit seiner Ehefrau und mehreren Kindern 1985 nach Deutschland eingereist und hatte erfolglos einen Asylantrag mit der Behauptung gestellt, ihm drohe im Libanon Verfolgung als staatenloser Kurde. Aufgrund einer niedersächsischen Bleiberechtsregelung wurden der Klägerin seit 1992 befristete Aufenthaltstitel erteilt. Im September 2007 beantragte sie die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Der Beklagte lehnte dies ab, weil die Klägerin die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nicht erfüllt habe, obwohl sich inzwischen herausgestellt habe, dass sie wie ihr Vater türkische Staatsangehörige sei und einen Pass deshalb erlangen könne. Das Verwaltungsgericht verpflichtete den Beklagten zur Neubescheidung des Antrags, das Oberverwaltungsgericht wies die Klage unter Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung ab.

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Mit ihrer Beschwerde rügt die Klägerin die Verletzung ihres Rechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO). Das Oberverwaltungsgericht habe sich für seine Feststellungen zur Identität und Staatsangehörigkeit der Klägerin und ihres Vaters auf tatsächliche Erkenntnisse gestützt, die nicht ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden seien und zu denen sie deshalb vor Erlass des Urteils nicht habe Stellung nehmen können. Es habe für seine Annahme, die Klägerin gehöre wie ihr Vater einer kurdisch-arabischen Großfamilie an, deren Mitglieder mit unzutreffenden Behauptungen ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erlangt hätten, im angegriffenen Urteil lediglich eine Reihe von Senatsentscheidungen benannt, ohne ihr diese zuvor zugänglich gemacht zu haben.

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Mit dieser Rüge ist jedoch ein Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, der zur Zulassung der Revision führen könnte, nicht dargetan. Denn die Berufungsentscheidung beruht nicht auf dem von der Beschwerde zutreffend benannten Verstoß gegen § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG. Vielmehr hat das Oberverwaltungsgericht seine Annahme, die Klägerin sei nicht staatenlos, sondern türkische Staatsangehörige, entscheidungstragend auf die Angaben der Klägerin zu ihrem Vater und Großvater gestützt: Danach steht fest, dass der Großvater der Klägerin die türkische Staatsangehörigkeit besessen hat und dass der Vater der Klägerin und seine Familie zu der jedenfalls ursprünglich im Gebiet um Ückavack angesiedelten Großfamilie Tek gehören. Gegen diese beiden tatsächlichen Feststellungen - die u.a. auch die Annahme beinhalten, dass der Großvater der Klägerin nach seiner Übersiedlung nicht ausgebürgert worden ist - hat die Klägerin Verfahrensrügen nicht vorgebracht, so dass der Senat an sie gebunden ist (§ 137 Abs. 2 VwGO). Auch gegen die weitere tatsächliche Feststellung, dass die Klägerin ebenso wie ihr Vater die türkische Staatsangehörigkeit in einer derartigen Situation nach türkischem Recht erlangt hat, sind Verfahrensrügen nicht erhoben worden. Allein auf diese Feststellungen hat das Berufungsgericht seine Entscheidung gestützt, der Klägerin stehe ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis wegen Verstoßes gegen die Passpflicht (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG) nicht zu, weil sie als türkische Staatsangehörige ohne Weiteres die Ausstellung entsprechender Papiere erreichen könne (UA S. 10 ff.).

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Demgegenüber hat das Berufungsgericht den Namen und die Identität des Großvaters der Klägerin letztlich offengelassen, weil es für den Rechtsstreit nicht hierauf, sondern allein auf den Umstand ankomme, dass der Großvater die türkische Staatsangehörigkeit besessen habe (UA S. 10, 13). Aus den tatsächlichen Feststellungen, die in den von der Beschwerde in Bezug genommenen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2009, 10. Juni 2008 und 27. September 2007 enthalten sind, leitet das Berufungsgericht für die Staatsangehörigkeit der Klägerin, ihres Vaters und Großvaters nichts ab. Sie sollen lediglich die Annahme des Gerichts stützen, dass es zwischen 1985 und 1990 zahlreiche Fälle gegeben habe, in denen Angehörige arabisch-kurdischer Großfamilien in Deutschland mit der unzutreffenden Behauptung, staatenlos zu sein, um Asyl nachgesucht hätten, um ein Bleiberecht zu erlangen (UA S. 11 f.). Diese Annahme zu einem typischen Geschehensablauf wäre zwar geeignet, die Plausibilität der entscheidungstragenden Feststellungen über die - zur Überzeugung des Berufungsgerichts ohnehin feststehenden - Staatsangehörigkeit der Klägerin und ihres Vaters zu stützen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die von der Beschwerde benannten tatsächlichen Feststellungen in den vom Berufungsgericht zitierten Entscheidungen für die Feststellung der Staatsangehörigkeit der Klägerin nicht erheblich sind, sondern diese lediglich ergänzen.

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Zur Klarstellung merkt der Senat allerdings an, dass die Praxis des Berufungsgerichts, sich für tatsächliche Feststellungen auf Erkenntnisse "aus einer Vielzahl von Verfahren" zu stützen, ohne diese zuvor ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt zu haben, einen Verstoß gegen § 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG darstellt. Denn die Verfahrensbeteiligten müssen die Möglichkeit haben, alle Erkenntnisquellen, auf die sich das Gericht stützen will, vor der Entscheidung zur Kenntnis zu nehmen, um sich ggf. mit ihnen auseinandersetzen und Einwände anbringen zu können (stRspr, Urteil vom 22. März 1983 - BVerwG 9 C 860.82 - BVerwGE 67, 83). Dies gilt im Hinblick auf die Schwierigkeiten, Tatsachenfeststellungen mit Bezug zu Auslandssachverhalten zu treffen, in besonderem Maße für flüchtlingsrechtliche und ggf. auch für aufenthaltsrechtliche Verfahren. Zu den Erkenntnisquellen in diesem Sinne zählen in erster Linie Gutachten, Länderberichte und ähnliche Dokumente, auf die die Verfahrensbeteiligten üblicherweise durch Aufstellung und Übersendung von Erkenntnismittellisten hingewiesen werden. Will das Gericht Erkenntnisquellen aus anderen Verfahren verwenden, so muss es den Beteiligten auch dies vorab mitteilen und ihnen rechtliches Gehör einräumen, selbst wenn die Verfahren den Beteiligten bekannt sein sollten (Beschluss vom 3. Mai 2002 - BVerwG 4 B 1.02 - juris). Jedenfalls dann, wenn ein Gericht sich für seine tatsächlichen Feststellungen nicht nur auf derartige Quellen stützen, sondern lediglich die Sachverhalte vergleichbarer Fälle, wie sie in Gerichtsentscheidungen als zur Überzeugung des Gerichts feststehend wiedergegeben werden, verwerten und aus ihnen Schlussfolgerungen ableiten will, sind auch diese Sachverhalte und damit die jeweils betroffenen Gerichtsentscheidungen Erkenntnismittel, die den Beteiligten vorab mitgeteilt werden müssen.

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So liegt es hier. Das Berufungsgericht zitiert in dem angegriffenen Urteil insgesamt 19 Entscheidungen, von denen lediglich wenige veröffentlicht sind; auf keine dieser Entscheidungen sind die Beteiligten vorab hingewiesen worden. In diesen Entscheidungen werden - soweit dies bei den drei in der Datenbank juris und auf der Homepage des Berufungsgerichts veröffentlichten Entscheidungen ersichtlich ist - keine Erkenntnisquellen zu tatsächlichen Feststellungen zitiert. Vielmehr leitet das Berufungsgericht aus den Sachverhalten der mitgeteilten Entscheidungen die Schlussfolgerung ab, es habe in der Zeit zwischen 1985 und 1990 einen typischen Geschehensablauf gegeben, nämlich die Zuwanderung von Mitgliedern arabisch-kurdischer Großfamilien nach Deutschland, die mit unzutreffenden Behauptungen ein Bleiberecht erlangt hätten. Den Beteiligten des Verfahrens hätte Gelegenheit gegeben werden müssen, zu diesen ihnen nicht mitgeteilten Entscheidungen vorab Stellung zu nehmen, um dem Eindruck entgegenwirken zu können, der Vater der Klägerin habe sich als Mitglied einer solchen Familie ebenso verhalten. Der damit vorliegende Verstoß gegen das Recht der Klägerin auf rechtliches Gehör hat sich, wie ausgeführt, im vorliegenden Verfahren allerdings nicht ausgewirkt, da die entscheidungstragenden Feststellungen zur Staatsangehörigkeit der Klägerin allein auf deren Angaben zur Staatsangehörigkeit ihres Vaters und Großvaters beruhen.

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Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

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