Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (2. Wehrdienstsenat) - 2 WD 9/15

Tatbestand

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Der 19.. geborene Berufssoldat, dessen Dienstzeit regulär 20.. endet, wurde im Januar 20.. zum Hauptfeldwebel ernannt. Nach einem später wieder aufgehobenen Verbot der Dienstausübung nach § 22 SG aus dem Februar 20.. wurde der Soldat im Februar 20.. gemäß § 126 Abs. 1 WDO vorläufig des Dienstes enthoben; mit Beschluss des Truppendienstgerichts Nord vom 2. April 20.. wurde die Höhe der einbehaltenen Bezüge auf 25 v.H. gesenkt.

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Auf der Grundlage der Anschuldigungsschrift vom 13. September 20.. sowie von vier Nachtragsanschuldigungsschriften vom 14. Januar 20.., 19. März 20.., 29. April 20.. sowie 12. Mai 20.., in denen ihm Handlungen aus dem Zeitraum November 20.. bis Mai 20.. vorgeworfen wurden, wurde der Soldat mit Urteil der 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord vom 8. Juli 2014 wegen eines Dienstvergehens aus dem Dienstverhältnis entfernt. Vorangegangen waren dem Urteil zwölf Hauptverhandlungstage (14. Januar 20.., 15. Januar 20.., 5. Februar 20.., 25. Februar 20.., 18. März 20.., 7. April 20.., 28. April 20.., 15. Mai 20.., 26. Mai 20.., 16. Juni 20.., 7. Juli 20.. und 8. Juli 20..).

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Das vollständige schriftliche Urteil gelangte am 30. September 20.. zur Geschäftsstelle der 6. Kammer. Unter dem 8. September 20.. ist vom Vorsitzenden Richter dieser Kammer vermerkt, dass er sich am 14. Juli 20.., 21. Juli 20.., 4. bis 19. August 20.. und am 22. August 20.. urlaubsbedingt nicht im Dienst befunden hat.

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Der Soldat hat gegen das ihm am 15. Oktober 20.. zugestellte Urteil am 13. November 20.. Berufung einlegen und sie hinsichtlich bestimmter Anschuldigungspunkte auf die Anfechtung der Maßnahmebemessung beschränken lassen.

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Unter dem 5. August 20.. sind die Beteiligten vom Bundesverwaltungsgericht darauf hingewiesen worden, dass das Urteil des Truppendienstgerichts wohl verspätet zur Geschäftsstelle gelangt sei und eine Zurückverweisung in Betracht komme. Der Bundeswehrdisziplinaranwalt hat sich gegen eine Zurückverweisung ausgesprochen, der Soldat hat sich dazu nicht geäußert.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung (§ 115 Abs. 1 Satz 1, § 116 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 WDO) führt zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kammer des Truppendienstgerichts Nord zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung, weil ein schwerer Mangel des Verfahrens vorliegt (§ 120 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 WDO). Die Entscheidung ergeht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 120 Abs. 1 WDO) in der Besetzung mit drei Richtern (§ 80 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 2 WDO). Den Beteiligten ist gemäß § 120 Abs. 2 WDO Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden.

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1. Die Berufung ist in vollem Umfang eingelegt worden. Zwar hat der Soldat erklären lassen, er beschränke die Berufung hinsichtlich der Anschuldigungspunkte 1a, 1b und 2 der (1.) Nachtragsanschuldigungsschrift vom 14. Januar 2013 auf den Rechtsfolgenausspruch. Darin liegt aber keine wirksame Beschränkung der Berufung auf die Maßnahmebemessung (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2006 - 2 WD 1.06 - juris Rn. 31 und 32).

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2. Da das Rechtsmittel in vollem Umfang eingelegt worden ist, hat der Senat uneingeschränkt zu prüfen, ob das Verfahren Mängel im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 Alt. 2 WDO aufweist; dies ist der Fall, weil die Frist des gem. § 91 WDO anwendbaren § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht gewahrt ist.

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a) Das am 8. Juli 20.. verkündete Urteil gelangte am 30. September 20.. zur Geschäftsstelle der 6. Kammer des Truppendienstgerichts Nord, sodass gegen den gemäß § 91 WDO entsprechend anwendbarem § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO verstoßen worden ist. Er sieht vor, dass das mit Gründen versehene Urteil spätestens fünf Wochen nach seiner Verkündung zu den Akten zu bringen ist (1. Halbsatz), wobei sich die Frist um zwei Wochen verlängert, wenn die Hauptverhandlung länger als drei Tage gedauert hat, und um weitere zwei Wochen für jeden begonnenen Abschnitt von zehn Hauptverhandlungstagen (2. Halbsatz; zur Fristberechnung: BGH, Beschluss vom 12. April 1988 - 5 StR 94/88 -, BGHSt 35, 259 f. - juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 275 Rn. 8). Da vorliegend an zwölf Tagen verhandelt wurde, folgt daraus eine Gesamtabsetzungsfrist von neun Wochen, so dass das Urteil spätestens am 9. September 20.. zu den Akten hätte gelangen müssen. Nachdem es auf der Geschäftsstelle jedoch erst am 30. September 20.. einging, wurde die Frist um 21 Tage, mithin um drei Wochen, überschritten.

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Umstände im Sinne des § 275 Abs. 1 Satz 4 StPO, die ausnahmsweise ein Überschreiten der Frist zulassen würden, liegen nicht vor. Insbesondere war der Vorsitzende Richter in den neun Wochen nach der Urteilsverkündung nicht unvorhersehbar verhindert, z.B. arbeitsunfähig erkrankt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2013 - 2 WD 23.12 - juris Rn. 34). Urlaubsbedingte Abwesenheiten des zur Urteilsabsetzung berufenen Richters sind wegen ihrer Planbarkeit voraussehbar und rechtfertigen die Fristüberschreitung daher nicht (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 21. Februar 2007 - 2 Ss 46/07 - juris). Dies gilt vorliegend umso mehr, als der Vorsitzende Richter nach Verkündung des Urteils sich nicht durchgehend im Urlaub befand und ab dem 25. August 20.., somit gut zwei Wochen vor Ablauf der Urteilsabsetzungsfrist, wieder im Dienst war. Somit wäre es ihm unabhängig vom Urlaub möglich gewesen, das Urteil noch fristgerecht abzusetzen, zumal er allein zur Absetzung des Urteils berufen war (§ 111 Abs. 1 Alt. 1 WDO) und für ihn deshalb auch kein Abstimmungsbedarf mit anderen Mitgliedern des Spruchkörpers bestand.

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b) Der Verfahrensmangel ist schwer im Sinne des § 120 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 Alt. 2 WDO, weil gegen eine gesetzlich zwingende Regelung verstoßen wurde. Sie ist von der Erwägung getragen, ein so spät nach der Verkündung abgesetztes Urteil biete keine Gewähr mehr dafür, dass die schriftlichen Urteilsgründe mit dem Ergebnis der Hauptverhandlung und Beratung übereinstimmen (BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2013 - 2 WD 23.12 - juris Rn. 35 m.w.N.).

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3. Trotz des schweren Verfahrensmangels ist der Senat zwar nicht gezwungen, die Sache zurückzuverweisen, weil er darüber gemäß § 120 Abs. 1 WDO nach pflichtgemäßem Ermessen zu befinden hat; er übt sein Ermessen jedoch im Sinne einer Zurückverweisung aus.

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Abzuwägen ist auf der einen Seite das - von dem Bundeswehrdisziplinaranwalt betonte und vom Gesetzgeber in § 17 Abs. 1 WDO als Beschleunigungsgebot normierte - Interesse des Dienstherrn und grundsätzlich auch des Soldaten an einer das gerichtliche Disziplinarverfahren zeitnah endgültig abschließenden Entscheidung und auf der anderen Seite das Recht vor allem des Soldaten, dass Wehrdienstgerichte über Disziplinarmaßnahmen unter Beachtung der gesetzlichen, auch seinem Interesse dienenden Verfahrensregelungen befinden (BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn 14).

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a) Zwar hat der Soldat in vollem Umfang Berufung eingelegt, sodass der Senat eigene Tatsachen- und Schuldfeststellungen treffen könnte. Dadurch unterscheidet sich das disziplinargerichtliche Berufungsverfahren von einem strafgerichtlichen Revisionsverfahren, bei dem der Verstoß gegen § 275 Abs. 1 StPO gemäß § 338 Nr. 7 Alt. 2 StPO deshalb ein absoluter Revisionsgrund ist, weil das Revisionsgericht ansonsten auf der Grundlage seiner Prüfung entzogener Tat- und Schuldfeststellungen eine Entscheidung treffen müsste, obwohl sie wegen der verfristeten Niederlegung der Urteilsgründe dubios erscheinen. Aber der Gesetzgeber hat mit § 120 WDO für das gerichtliche Wehrdisziplinarverfahren eine spezielle Regelung geschaffen, die dem Berufungsgericht gerade die Möglichkeit einräumt, den Fehler durch das erstinstanzliche Gericht beheben zu lassen und damit dem betroffenen Soldaten zwei verfahrensfehlerfreie Rechtszüge zu gewähren (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn. 15 m.w.N.).

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Der vom Bundeswehrdisziplinaranwalt betonte Umstand, dass der Senat bei einer uneingeschränkt eingelegten Berufung eigene Tat- und Schuldfeststellungen treffen könnte, leitet die Ermessensausübung nicht dahingehend, von einer Zurückverweisung regelmäßig abzusehen. Dies hätte zur Folge, dass Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens weitgehend bedeutungslos würden. Dadurch drohte nicht nur, dass zwingende gesetzliche Vorgaben - wie die des § 275 Abs. 1 StPO, aber auch des Art. 101 Abs. 1 GG - wie schlichte Ordnungsvorschriften behandelt würden; vor allem widerspräche dies der in § 120 Abs. 1, § 121 Abs. 2 WDO zum Ausdruck kommenden legislativen Wertung, dass das erstinstanzliche Verfahren trotz umfassender Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts weiterhin auf (schwere) Verfahrensmängel zu überprüfen ist und sie von solchem Gewicht sein können, dass eine Zurückverweisung geboten ist. Sowohl der angeschuldigte Soldat wie auch die Wehrdisziplinaranwaltschaft haben einen Anspruch darauf, dass bereits im ersten Rechtszug nach Maßgabe der prozessrechtlichen Vorschriften nicht nur alle erforderlichen Maßnahmen zur hinreichenden Aufklärung der Sach- und Rechtslage ordnungsgemäß getroffen und die erhobenen Beweise nachvollziehbar gewürdigt werden, sondern auch, dass das Ergebnis der Beweiswürdigung in den Urteilsgründen authentisch niedergelegt wird. Bei einer Überschreitung der Frist des § 275 Abs. 1 StPO ist Letzteres nach der gesetzgeberischen Vermutung grundsätzlich nicht mehr gewährleistet. Als Berufungsführer hat der Soldat Anspruch darauf, dass der Gegenstand seines Rechtsmittels in den Entscheidungsgründen das Ergebnis der Beratung authentisch dokumentiert (BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn. 15 f.).

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b) Die Dauer des disziplinargerichtlichen Verfahrens ist allerdings auch bei einem Gesetzesverstoß der vorliegenden Art grundsätzlich geeignet, die gerichtliche Abwägungsentscheidung dahingehend zu beeinflussen, von einer Zurückverweisung abzusehen. Das Beschleunigungsgebot ist nicht nur in § 17 Abs. 1 WDO einfachgesetzlich verankert. Der Gesetzgeber hat dort sowohl dem Interesse des Dienstherrn an einer möglichst zeitnahen und damit wirkungsvollen disziplinarischen Ahndung von Dienstvergehen als auch dem Interesse des Soldaten an einer zügigen und für ihn somit möglichst schonenden Klärung der gegen ihn erhobenen Anschuldigung in einer Weise Rechnung getragen, die das aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Gebot effektiver Rechtsschutzgewährleistung konkretisiert. Auch dieser abwägungsrelevante Aspekt ist damit verfassungsrechtlich verankert und von hoher Bedeutung (BVerwG, Beschluss vom 19. Juli 2013 - 2 WD 34.12 - juris Rn. 16). Der Senat nimmt daher mit in den Blick, dass die angeschuldigten Geschehnisse sich teilweise bereits im November 2010 ereignet haben sollen und das disziplinargerichtliche Verfahren bereits seit September 2011 rechtshängig ist.

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c) Vorliegend führt jedoch eine Zurückverweisung an die Vorinstanz noch nicht zu einer unangemessenen Verzögerung einer Sachentscheidung, auch wenn der Senat nicht verkennt, dass außergewöhnlich umfangreiche Beweiserhebungen mit hohem Zeitaufwand zu wiederholen sein könnten. Sowohl das konkrete Gewicht des Gesetzesverstoßes als auch die im Raum stehende Disziplinarmaßnahme sprechen dafür. Dies gilt umso mehr, als der durch das gerichtliche Disziplinarverfahren belastete Soldat sich gegen eine Zurückverweisung nicht dezidiert ausgesprochen hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2012 - BVerwG 2 WD 5.11 - Buchholz 450.2 § 121 WDO 2002 Nr. 2 Rn. 23), die zahlreichen Nachtragsanschuldigungsschriften der Wehrdisziplinaranwaltschaft eine zeitnähere Entscheidung des Truppendienstgerichts verhindert haben und dieses das erstinstanzliche Verfahren annähernd ein Jahr ausgesetzt hat. Vor allem aber ist die Überschreitung der gemäß § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zu wahrenden Absetzungsfrist von ohnehin bereits neun Wochen um mehr als drei Wochen keiner Heilung zugänglich und auch nicht - wie vom Bundeswehrdisziplinaranwalt angenommen - geringfügig (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Juli 2013 - 2 WD 34.12 - Rn. 18). Im Raum steht darüber hinaus die Entfernung aus dem Dienstverhältnis als schwerste disziplinargerichtliche Maßnahme (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn. 19). Bei einer derart gravierenden Sanktion kommt der rechtsstaatlich einwandfreien Durchführung des Verfahrens besondere Bedeutung zu.

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Ob die mit einer Zurückverweisung verbundene (weitere) finanzielle Belastung des Bundes einen abwägungserheblichen Gesichtspunkt begründet, kann dahingestellt bleiben (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2013 - 2 WD 19.12 - juris Rn. 19). Selbst wenn dem so wäre, ist dem durch Einbehalt von 25 v.H. der Dienstbezüge des Soldaten ausreichend Rechnung getragen worden.

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4. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens und die Erstattung der dem Soldaten darin erwachsenen notwendigen Auslagen bleibt der endgültigen Entscheidung in der Sache vorbehalten (§ 141 Abs. 1 und 2 WDO).

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