Entscheidung vom Finanzgericht Baden-Württemberg - 14 K 221/03

Tatbestand

 
Streitig ist, ob das Kindergeld für die Tochter M für die Monate November und Dezember 2002 in Höhe von insgesamt 308 EUR dem Kläger oder seiner früheren Ehefrau zusteht.
Der im Jahr 1960 geborene Kläger war seit 10. Oktober 1996 mit Frau B, geborene R, aus O verheiratet. Aus der Ehe ist die am 16. November 1996 in O geborene Tochter M hervorgegangen.
Im Oktober 2001 zog die Ehefrau mit ihrer am 29. Mai 1993 geborenen Tochter JS aus der gemeinsamen Wohnung in O aus. Die Tochter M wohnte nach kurzem Aufenthalt bei ihrer Mutter weiterhin beim Kläger. Am 20. Oktober 2002 wurde sie nach einem Besuch bei ihrer Mutter von dieser nicht zu ihm zurückgebracht.
Durch Beschluss vom 11. November 2002 übertrug das zuständige Amtsgericht (Familiengericht) im Wege einer einstweiligen Anordnung dem Kläger das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für seine Tochter M. Wegen der Einzelheiten wird auf den genannten Beschluss des Amtsgerichts Bezug genommen (Gerichtsakte Blatt 4 bis 7). Daraufhin vereinbarten der Kläger und seine frühere Ehefrau, dass ihm die Tochter am 20. November 2002 (wenige Tage nach ihrem sechsten Geburtstag) im Anschluss an den Besuch des Kindergartens in Anwesenheit der Kindergärtnerin und eines für das Kind bestellten Verfahrenspflegers übergeben werden sollte. Die Übergabe scheiterte jedoch daran, dass die Tochter sich weigerte, mit dem Kläger mitzugehen und "heim zu ihrer Mama" wollte. Nach Einschätzung des Verfahrenspflegers hätte die Übergabe an den Kläger körperliche Gewalt erfordert und wäre dem Kindeswohl nicht förderlich gewesen. Unter diesen Umständen lehnte er die Übergabe an den Kläger ab, womit dieser nicht einverstanden war. Der Verfahrenspfleger war der Ansicht, eine Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Mutter sei dem Kindeswohl am förderlichsten. Wegen der Einzelheiten wird auf seine gegenüber dem Familiengericht abgegebene Stellungnahme vom 20. November 2002 Bezug genommen (Gerichtsakte Blatt 15 und 16).
Nach Einholung eines psychologischen Sachverständigengutachtens übertrug das Familiengericht durch Beschluss vom 24. April 2003 das alleinige Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter M auf deren Mutter, da dies dem Wohl des Kindes am besten entspreche. Das Sorgerecht im Übrigen sprach das Gericht beiden Elternteilen gemeinsam zu. Wegen der Einzelheiten wird auf den genannten Beschluss des Familiengerichts Bezug genommen (Gerichtsakte Blatt 8 bis 13).
Nachdem die beklagte Agentur für Arbeit von diesem Beschluss Kenntnis erlangt hatte, hob sie mit Bescheid vom 13. Mai 2003 unter Hinweis auf § 64 Abs. 2 Satz 3 Einkommensteuergesetz (EStG) die Kindergeldfestsetzung für die Tochter M gegenüber dem Kläger rückwirkend ab November 2002 auf und forderte das an ihn ausbezahlte Kindergeld für die Monate November und Dezember 2002 in Höhe von insgesamt 308 EUR zurück.
Dagegen legte der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 2. Juni 2003 Einspruch ein, den die beklagte Agentur für Arbeit mit Einspruchsentscheidung vom 29. Oktober 2003 als unbegründet zurückwies, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird (Kindergeldakte Blatt 68 bis 70).
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers erhob dagegen mit Schreiben vom 19. November 2003 Klage, die am 20. November 2003 bei Gericht einging. Zur Begründung trägt er vor, durch Beschluss des Familiengerichts vom 11. November 2002 sei das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter M im Wege einer einstweiligen Anordnung auf den Kläger übertragen worden. Dieser sei daher vorrangiger Berechtigter des Kindergeldes. Zwar habe sich seine Tochter M seit 20. Oktober 2002 bei ihrer Mutter aufgehalten. Dabei habe es sich um einen rechtswidrigen Zustand gehandelt. Der Kläger habe davon ausgehen können, dass die Mutter den Beschluss des Amtsgerichts vom 11. November 2002 beachten und die Tochter M an ihn herausgeben werde. Die rechtswidrige Missachtung dieses Beschlusses durch die Mutter des Kindes könne nicht dazu führen, dass diese das staatliche Kindergeld erhalte und der Kläger das Kindergeld zurückzahlen müsse. Das Kinderzimmer der Tochter M in der Wohnung des Klägers sei in den Monaten November und Dezember 2002 noch vorhanden gewesen und habe der Tochter zur Verfügung gestanden. Der Kläger habe davon ausgehen können, dass sie zu ihm zurückkehren werde, zumal sie mehr als ein Jahr bei ihm gelebt habe. Die Haushaltszugehörigkeit werde nicht durch längere auswärtige Aufenthalte unterbrochen, solange die Rückkehr in den gemeinsamen Haushalt beabsichtigt sei.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt, den Bescheid der beklagten Agenturen für Arbeit vom 13. Mai 2003 in der Form der Einspruchsentscheidung vom 29. Oktober 2003 aufzuheben.
10 
Die Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit beantragt, die Klage abzuweisen.
11 
Sie hält an der in der Einspruchsentscheidung vertretenen Auffassung fest.
12 
Dem Gericht haben die für den Kläger geführten Kindergeldakten vorgelegen.

Entscheidungsgründe

 
13 
Die Klage ist begründet.
14 
Das Kindergeld für die Tochter M für die streitigen Monate November und Dezember 2002 steht dem Kläger zu, da sie bis Ende 2002  i. S. v. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG seinem Haushalt zuzurechnen war.
15 
Gem. § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten (z. B. bei getrennt lebenden Eltern eines Kindes) wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 1 Satz 2 EStG).
16 
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) gehört ein Kind zum Haushalt eines Elternteils, wenn es dort wohnt, versorgt und betreut wird, sodass es sich in der Obhut dieses Elternteils befindet. Formale Gesichtspunkte, z. B. die Sorgerechtsregelung oder die Eintragung in ein Melderegister können bei der Beurteilung in welchem Haushalt das Kind aufgenommen ist, grundsätzlich nur unterstützend herangezogen werden. Eine Haushaltsaufnahme besteht dann nicht, wenn sich das Kind nur für einen begrenzten, kurzfristigen Zeitraum bei einem Elternteil befindet - etwa zu Besuchzwecken oder in den Ferien  (vgl. Urteil des BFH vom 20. Juni 2001, VI R 224/98, BStBl II 2001, 713 m. w. N.).
17 
In den Fällen der Entführung eines Kindes ins Ausland oder seiner rechtswidrigen Festhaltung im Ausland hat der BFH entschieden, dass das Kind seinen bisherigen inländischen Wohnsitz und damit seine Zugehörigkeit zum Haushalt des sorgeberechtigten Elternteils nur dann aufgegeben hat, wenn die Umstände darauf schließen lassen, dass das Kind nicht zurückkehren wird. Leitet der sorgeberechtigten Elternteil umgehend die erforderlichen  Schritte für die Rückführung des Kindes ein, kann zumindest für eine Übergangszeit von sechs Monaten nach Beginn des zwangsweisen Festhaltens des Kindes im Ausland davon ausgegangen werden, dass es in den Haushalt des sorgeberechtigten Elternteils zurückkehrt (Urteile des BFH vom 19. März 2002 VIII R 52/01 und VIII R 62/00, BFH/NV 2002 1146 und 1148 - Entführung der Kinder durch ihren Vater in die Türkei bzw. nach Pakistan; Urteil des BFH vom 30. Oktober 2002, VIII R 86/00,BFH/NV 2003, 464 - Festhalten der Kinder durch ihren Vater in der Türkei).
18 
Das Finanzgericht Düsseldorf hat diese Rechtsprechung auch auf eine inländische Kindesentziehung angewendet und entschieden, dass in diesem Fall der Kindergeldanspruch demjenigen Elternteil zusteht, in dessen Obhut sich das Kind vor der Entziehung befand, wenn dieser umgehend rechtliche Schritte für die Rückführung des Kindes einleitet  (Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 27 August 2004, 18 K 7715/00 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2005, 124).
19 
Der erkennende Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu. Danach steht das Kindergeld für die Tochter M für die Monate November und Dezember 2002 dem Kläger zu. Sie gehörte bis Oktober 2002 unstreitig i. S. v. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG zu seinem Haushalt und hielt sich am 20. Oktober 2002 nur besuchsweise bei ihrer Mutter auf. Nachdem diese das Kind nicht zum Kläger zurückbrachte, hat er alsbald alle erforderlichen rechtlichen Schritte eingeleitet, um das Kind in seine Obhut zurückzubekommen, mit dem Ergebnis, dass das Familiengericht ihm im Wege einer einstweiligen Anordnung am 11. November 2002 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind zugesprochen hat. Zwar ist die zwischen dem Kläger und seiner früheren Ehefrau vereinbarte Übergabe des Kindes im Kindergarten am 20. November 2002 daran gescheitert, dass die sechsjährigen Tochter nicht mit dem Kläger mitgehen und "heim zu ihrer Mama" wollte, woraufhin der anwesende Verfahrenspfleger die Übergabe an den Kläger ablehnte, womit dieser sich allerdings nicht einverstanden erklärte. Bis Ende 2002 stand keinesfalls fest, dass das Kind endgültig im Haushalt der Mutter bleiben würde. Vielmehr bestand zu diesem Zeitpunkt noch durchaus die Möglichkeit, dass das Kind nach Gesprächen mit dem Kläger oder anderen Personen, zu denen es Vertrauen hat, davon überzeugt werden konnte, zum Kläger zurückzukehren. Dort stand dem Kind nach wie vor ein Kinderzimmer zur Verfügung, für das der Kläger Mietaufwendungen usw. getragen hat. Die Tochter M ist daher - jedenfalls bis Dezember 2002 - i. S. v. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG seinem Haushalt zuzurechnen.
20 
Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass das Familiengericht durch Beschluss vom 24. April 2003 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter ihrer Mutter übertragen hat. Diese Entscheidung entfaltete steuerrechtlich keine Rückwirkung..
21 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO und die Streitwertfestsetzung aus § 13 und § 25 Gerichtskostengesetz alter Fassung.
22 
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO vorliegt.

Gründe

 
13 
Die Klage ist begründet.
14 
Das Kindergeld für die Tochter M für die streitigen Monate November und Dezember 2002 steht dem Kläger zu, da sie bis Ende 2002  i. S. v. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG seinem Haushalt zuzurechnen war.
15 
Gem. § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten (z. B. bei getrennt lebenden Eltern eines Kindes) wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 1 Satz 2 EStG).
16 
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) gehört ein Kind zum Haushalt eines Elternteils, wenn es dort wohnt, versorgt und betreut wird, sodass es sich in der Obhut dieses Elternteils befindet. Formale Gesichtspunkte, z. B. die Sorgerechtsregelung oder die Eintragung in ein Melderegister können bei der Beurteilung in welchem Haushalt das Kind aufgenommen ist, grundsätzlich nur unterstützend herangezogen werden. Eine Haushaltsaufnahme besteht dann nicht, wenn sich das Kind nur für einen begrenzten, kurzfristigen Zeitraum bei einem Elternteil befindet - etwa zu Besuchzwecken oder in den Ferien  (vgl. Urteil des BFH vom 20. Juni 2001, VI R 224/98, BStBl II 2001, 713 m. w. N.).
17 
In den Fällen der Entführung eines Kindes ins Ausland oder seiner rechtswidrigen Festhaltung im Ausland hat der BFH entschieden, dass das Kind seinen bisherigen inländischen Wohnsitz und damit seine Zugehörigkeit zum Haushalt des sorgeberechtigten Elternteils nur dann aufgegeben hat, wenn die Umstände darauf schließen lassen, dass das Kind nicht zurückkehren wird. Leitet der sorgeberechtigten Elternteil umgehend die erforderlichen  Schritte für die Rückführung des Kindes ein, kann zumindest für eine Übergangszeit von sechs Monaten nach Beginn des zwangsweisen Festhaltens des Kindes im Ausland davon ausgegangen werden, dass es in den Haushalt des sorgeberechtigten Elternteils zurückkehrt (Urteile des BFH vom 19. März 2002 VIII R 52/01 und VIII R 62/00, BFH/NV 2002 1146 und 1148 - Entführung der Kinder durch ihren Vater in die Türkei bzw. nach Pakistan; Urteil des BFH vom 30. Oktober 2002, VIII R 86/00,BFH/NV 2003, 464 - Festhalten der Kinder durch ihren Vater in der Türkei).
18 
Das Finanzgericht Düsseldorf hat diese Rechtsprechung auch auf eine inländische Kindesentziehung angewendet und entschieden, dass in diesem Fall der Kindergeldanspruch demjenigen Elternteil zusteht, in dessen Obhut sich das Kind vor der Entziehung befand, wenn dieser umgehend rechtliche Schritte für die Rückführung des Kindes einleitet  (Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 27 August 2004, 18 K 7715/00 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte -EFG- 2005, 124).
19 
Der erkennende Senat stimmt dieser Rechtsprechung zu. Danach steht das Kindergeld für die Tochter M für die Monate November und Dezember 2002 dem Kläger zu. Sie gehörte bis Oktober 2002 unstreitig i. S. v. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG zu seinem Haushalt und hielt sich am 20. Oktober 2002 nur besuchsweise bei ihrer Mutter auf. Nachdem diese das Kind nicht zum Kläger zurückbrachte, hat er alsbald alle erforderlichen rechtlichen Schritte eingeleitet, um das Kind in seine Obhut zurückzubekommen, mit dem Ergebnis, dass das Familiengericht ihm im Wege einer einstweiligen Anordnung am 11. November 2002 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind zugesprochen hat. Zwar ist die zwischen dem Kläger und seiner früheren Ehefrau vereinbarte Übergabe des Kindes im Kindergarten am 20. November 2002 daran gescheitert, dass die sechsjährigen Tochter nicht mit dem Kläger mitgehen und "heim zu ihrer Mama" wollte, woraufhin der anwesende Verfahrenspfleger die Übergabe an den Kläger ablehnte, womit dieser sich allerdings nicht einverstanden erklärte. Bis Ende 2002 stand keinesfalls fest, dass das Kind endgültig im Haushalt der Mutter bleiben würde. Vielmehr bestand zu diesem Zeitpunkt noch durchaus die Möglichkeit, dass das Kind nach Gesprächen mit dem Kläger oder anderen Personen, zu denen es Vertrauen hat, davon überzeugt werden konnte, zum Kläger zurückzukehren. Dort stand dem Kind nach wie vor ein Kinderzimmer zur Verfügung, für das der Kläger Mietaufwendungen usw. getragen hat. Die Tochter M ist daher - jedenfalls bis Dezember 2002 - i. S. v. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG seinem Haushalt zuzurechnen.
20 
Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass das Familiengericht durch Beschluss vom 24. April 2003 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter ihrer Mutter übertragen hat. Diese Entscheidung entfaltete steuerrechtlich keine Rückwirkung..
21 
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 135 Abs. 1 FGO und die Streitwertfestsetzung aus § 13 und § 25 Gerichtskostengesetz alter Fassung.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO vorliegt.

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