Beschluss vom Finanzgericht Hamburg (4. Senat) - 4 V 280/17

Tatbestand

I.

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Der Antragsteller begehrt die Aussetzung der Vollziehung eines Haftungsbescheids über Tabaksteuer.

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Polizeibeamte fanden am 18.11.2016 bei der Durchsuchung eines vom Eigentümer nicht genutzten Wohnhauses in ... A (OT B) 973.160 Stück gefälschte Zigaretten. Erkenntnisse zum Herstellungsort oder zum Beförderungsweg der Zigaretten und den daran beteiligten Personen liegen nicht vor. Nachdem Zeugen erklärt hatten, dass das Haus vom gegenüber wohnenden Antragsteller regelmäßig genutzt worden sei und dieser auch die Schlüsselgewalt über das Objekt besitze, erließ der Antragsgegner am 15.08.2017 einen Haftungsbescheid über Tabaksteuer i. H. v. ... € (XXX). Für die sichergestellten Zigaretten sei die Tabaksteuer nicht über Steuerbanderolen entrichtet worden. Die Steuer sei im Fall der Einfuhr der Zigaretten durch ihre Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr und im Fall des Verbringens durch den erstmals zu gewerblichen Zwecken gehaltenen Besitz der Tabakwaren entstanden. Steuerschuldner sei der unbekannte Dritte, der einen der Entstehungstatbestände verwirklicht habe. Der Antragsteller hafte als Steuerhehler für die vom Steuerschuldner hinterzogene Tabaksteuer. Er sei zwar nicht Eigentümer, aber regelmäßiger Nutzer der Lagerstätte. Damit habe er auch die Sachherrschaft über die zum Weiterverkauf bestimmten Zigaretten besessen.

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Gegen den Haftungsbescheid legte der Antragsteller am 15.09.2017 Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Er habe das Wohnhaus nicht genutzt und mit den sichergestellten Zigaretten nichts zu tun.

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Mit Bescheid vom 13.11.2017 lehnte der Antragsgegner den Antrag ab. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids seien nicht gegeben. Die Zigaretten seien in unzulässiger Weise ohne Verwendung deutscher Steuerzeichen entweder aus einem anderen Mitgliedstaat der EU zu gewerblichen Zwecken in das Steuergebiet verbracht oder aus einem Drittland eingeführt worden. Mit dem Verbringen bzw. der Einfuhr sei die Tabaksteuer entstanden. Steuerschuldner sei, wer nach den Zollvorschriften verpflichtet gewesen sei, die Tabakwaren anzumelden bzw. jede andere an der unrechtmäßigen Einfuhr beteiligte Person (§ 21 Abs. 2 Satz 1 TabStG) bzw. im Fall der Verbringung, wer die Lieferung vorgenommen oder die Tabakwaren in Besitz gehalten habe und der Empfänger, sobald er Besitz an den Tabakwaren erlangt habe (§ 23 Abs. 1 Satz 2 TabStG). Es lasse sich nicht ermitteln und erscheine auch unwahrscheinlich, dass der Antragsteller an der unrechtmäßigen Einfuhr oder der Verbringung beteiligt gewesen sei. Die Gesamtumstände deuteten darauf hin, dass er die Zigaretten in Deutschland in Besitz genommen habe. Daher scheide seine Inanspruchnahme als Tabaksteuerschuldner aus. Zwar könne eine Steuerschuldnerschaft nach § 23 Abs. 1 Satz 2 TabStG für den Fall der Verbringung nachgewiesen werden, nicht aber eine Steuerschuldnerschaft nach § 21 Abs. 2 Satz 1 TabStG für den Fall der Einfuhr. Die bislang nicht ermittelte Person des Einführers bzw. Verbringers habe sich jedoch der Steuerhinterziehung strafbar gemacht. Daher sei der Antragsteller als Steuerhehler gemäß § 71 AO als Haftungsschuldner in Anspruch zu nehmen. Die Zigaretten hätten sich in seinem Besitz befunden. Seine Einlassung sei als Schutzbehauptung zu werten.

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Der Antragsteller hat am 18.12.2017 einen gerichtlichen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt. Zur Begründung verweist er auf sein außergerichtliches Vorbringen.

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Der Antragsteller beantragt,
die Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids vom 15.08.2017 anzuordnen.

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Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.

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Zur Begründung seines Antrags verweist der Antragsgegner auf seine Ausführungen im Bescheid vom 13.11.2017.

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Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Sachakte des Antragsgegners verwiesen, die bei der Entscheidung vorgelegen hat.

Entscheidungsgründe

II.

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1. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Haftungsbescheids über Tabaksteuer vom 15.08.2017 hat Erfolg.

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Der Antrag gem. § 69 Abs. 3 FGO ist zulässig und begründet. Die Aussetzung der Vollziehung soll gemäß § 69 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 i. V. m. Abs. 3 Satz 1 FGO erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel sind gegeben, wenn eine summarische Prüfung ergibt, dass neben für die Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen auslösen. Der Erfolg braucht nicht wahrscheinlicher zu sein als der Misserfolg, es brauchen insbesondere nicht erhebliche Zweifel in dem Sinne zu bestehen, dass eine Aufhebung des Verwaltungsaktes mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist; vielmehr genügt, dass der Erfolg des Rechtsbehelfs ebenso wenig auszuschließen ist wie sein Misserfolg (vgl. Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, EL 141 Juli 2015, § 69 FGO, Rn. 89, 122, 123 mit Nachweisen zur st. Rspr. des BFH).

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Daran gemessen liegen aus rechtlichen Gründen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheids vor. Es besteht in der Rechtsprechung aktuell eine Unsicherheit dahingehend, ob eine Person wie der Antragsteller, dessen Steuerschuldnerschaft nicht sicher ausgeschlossen ist, gemäß § 71 AO für die hinterzogenen Steuern haften kann.

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Der Antragsgegner hat den Haftungsbescheid auf die §§ 191, 170, 374 AO gestützt. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet (Haftungsschuldner). Gemäß § 71 AO haftet, wer eine Steuerhinterziehung oder eine Steuerhehlerei begeht oder an einer solchen Tat teilnimmt, für die verkürzten Steuern und die zu Unrecht gewährten Steuervorteile (...). Steuerhehlerei begeht nach § 374 Abs. 1 AO u. a., wer Waren, hinsichtlich deren Verbrauchsteuern hinterzogen worden sind, ankauft oder sonst sich oder einem Dritten verschafft, sie absetzt oder abzusetzen hilft, um sich oder einen Dritten zu bereichern.

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Dass der Antragsteller eine Steuerhehlerei begangen hat, ist nach summarischer Prüfung hinreichend wahrscheinlich. Hinsichtlich der sichergestellten Zigaretten wurde die Tabaksteuer nicht durch die Verwendung von Steuerzeichen entrichtet (§ 17 TabStG), sondern gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 3 AO hinterzogen. Mehrere Zeugen haben übereinstimmend angegeben, dass der Antragsteller das leer stehende Wohnhaus, in dem die Zigaretten gefunden wurden, genutzt und die Schlüsselgewalt über das Objekt ausgeübt habe. Dem hat der gegenüber der Lagerstätte wohnende Antragsteller nicht substantiiert widersprochen, sondern die Angaben der Zeugen lediglich pauschal als unwahr bezeichnet. Auch die Polizeibehörden gehen nach dem Vermerk vom 16.10.2017 davon aus, dass er "Depothalter" des Objekts gewesen sei. Es ist auch hinreichend wahrscheinlich, dass er die sichergestellten Zigaretten besaß, um sie mit Bereicherungsabsicht weiterzuverkaufen.

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Nach der Rechtsprechung des Senats steht der Inanspruchnahme des Antragstellers als Haftungsschuldner nach § 71 AO nicht entgegen, dass seine Steuerschuldnerschaft gemäß § 23 Abs. 1 TabStG nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Sofern die Zigaretten aus dem steuerrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats stammen sollten, wäre der Antragsteller aufgrund der hinreichend wahrscheinlichen Inbesitznahme der Zigaretten gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 TabStG Tabaksteuerschuldner. Der Senat hat im Beschluss vom 18.11.2016 (4 V 142/16, juris) entgegen der Auffassung des Bundesfinanzhofs und der überwiegenden Literatur entschieden, dass Haftungsschuldner nach § 71 AO auch der Steuerschuldner sein kann, mithin insoweit keine Exklusivität von Schuld und Haftung besteht. § 71 AO ist nicht um ein ungeschriebenes negatives Tatbestandsmerkmal zu ergänzen, "dass der Haftende kein Steuerschuldner ist". Nach dieser Rechtsprechung steht auch die vorliegend bestehende Möglichkeit, dass der Antragsteller Steuerschuldner sein könnte, seiner Inanspruchnahme als Haftungsschuldner nicht entgegen. Wenn sogar eine nachgewiesene Steuerschuldnerschaft keine Inanspruchnahme als Haftungsschuldner nach § 71 AO hindert, gilt dies erst recht für den Fall, dass eine Steuerschuldnerschaft lediglich nicht sicher ausgeschlossen werden kann.

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Trotz dieser Rechtsauffassung des Senats, an der festgehalten wird, ist aufgrund des vom Bundesfinanzhof im Beschluss vom 24.10.2017 (VII B 99/17; n. v.) angelegten Maßstabs zur Gewährung einer Aussetzung der Vollziehung dem Aussetzungsantrag auch vorliegend stattzugeben. Dem Beschluss des Bundesfinanzhofs lag das Verfahren des Finanzgerichts Hamburg 4 V 251/16 (juris) zugrunde, in dem eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür bestand, dass der Haftungsschuldner auch Steuerschuldner war. Der Bundesfinanzhof hat unterstrichen, dass die Durchbrechung der Exklusivität von Schuld und Haftung im Fall des § 71 AO im Beschluss des Senats vom 07.06.2017 im Widerspruch seiner Rechtsprechung stehe, der sich die überwiegende Literatur angeschlossen habe. Mithin seien Unsicherheiten in der Beurteilung der Rechtsfrage gegeben, ob das Hauptzollamt eine Person mittels Haftungsbescheid nach § 71 AO als Haftungsschuldner in Anspruch nehmen könne, obwohl sie nach § 23 Abs. 1 Satz 2 TabStG mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als Steuerschuldner angesehen werden könne. Die aufgeworfenen Rechtsfragen seien nicht im Eilrechtsschutzverfahren abschließend zu klären. Angesichts dieser Unsicherheit seien ernstliche Zweifel gegeben, die eine Aussetzung der Vollziehung des angegriffenen Bescheids rechtfertigten.

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Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs ist auch vorliegend die Aussetzung der Vollziehung aus rechtlichen Gründen anzuordnen. Die o. g. Rechtsfragen hinsichtlich der Exklusivität von Schuld und Haftung im Fall des § 71 AO stellen sich auch vorliegend. Streitentscheidend ist ebenfalls, ob - so jedenfalls Teile der Literatur - § 71 AO um das ungeschriebene negative Tatbestandsmerkmal, dass "der Haftende kein Steuerschuldner ist", ergänzt werden muss. Sofern dies der Fall sein sollte, könnte der wohl insoweit beweisbelastete Antragsgegner den Beweis für den Ausschluss einer Steuerschuldnerschaft des Antragstellers nicht erbringen und der Haftungsbescheid wäre rechtswidrig.

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II. Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 135 Abs. 1 und 128 Abs. 3 i. V. m. 115 Abs. 2 FGO.

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